Kapitel 17 - Grabstein und der schöne Schein
"Achtung, Leute! Stolperkrausalarm!"
"Hahahahaaaa!"
Luiza Kandinsky klappte ihr schwarzes Buch zu und steckte es zurück in ihre Manteltasche. Lesen machte einfach keinen Sinn an diesem Morgen, da sich bei diesem Lärm niemand konzentrieren konnte. Natürlich war ihr schon vorher aufgefallen, dass sich das Pickelgesicht nicht ganz zufällig am Schulhauseingang postiert hatte. Und es war auch kein Zufall, dass sein Fuß genau im richtigen Moment ein kleines Stück nach vorne rutschen musste. Jedenfalls genoss der Widerling den Zuspruch der vielen Schulterklopfer, die ihm nun von allen Seiten gratulierten, wie schön und elegant er den Tollpatsch doch von den Beinen geholt hatte. Es war Montag, und natürlich begann die neue Woche so, wie die alte geendet hatte - mit einem stolpernden Jungen und jeder Menge Spaß und Heiterkeit in den Reihen der Schüler.
Aber sie musste zugeben, dass sie zumindest in einem Punkt Recht hatten: Mit diesem Jungen stimmte tatsächlich etwas nicht. Sie hatte jedenfalls noch nie jemanden gesehen, der immerzu von einer Schar Krähen verfolgt wurde. Als die Show endlich vorüber war, beschloss sie kurzerhand, ihm eine Frage zu stellen. Eine nicht ganz unberechtigte Frage...
"Wie machst du das eigentlich...mit den Krähen?"
Die Frage traf Valentin völlig unvorbereitet. "Wer, ich?", stammelte er unbeholfen. Böser Fehltritt...
"Siehst du noch jemanden, der von den Raben verfolgt wird?"
Darauf fiel ihm keine Antwort ein. Und erst jetzt wurde er sich bewusst, dass er sich schon längst wieder in der Schule befand und das schwarzhaarige Mädchen vor ihm stand.
"Die Krähen? Ach so...die...äh, keine Ahnung, ähm, weiß nicht." Seine Antwort verendete in einem kläglichen Schulterzucken. Dann wurde er knallrot. Zweiter Patzer...
"Ist schon ein bisschen komisch, oder?", bemerkte Luiza. "Sie fliegen dir ständig hinterher. So etwas habe ich jedenfalls noch nie gesehen. Fütterst du sie?"
"Nein, die sind mir...ähm, weißt du vielleicht, was man dagegen tun kann?"
"Sehe ich so aus?", erwiderte sie und blickte ihm dabei direkt in die Augen, was in Valentins Kopf nur noch ein größeres Durcheinander anrichtete. Dieses Mädchen sah wirklich aus wie die leibhaftige Tochter des Todes.
"Ähm, na ja", stolperte er weiter. "Ich wollte...danke. Also, wegen der Hand, äh, deiner Hand...der kalten. Also, eigentlich war die gar nicht so kalt."
Mit skeptischem Blick untersuchte Luiza ihre Hände auf irgendwelche Abnormitäten.
"Äääh! Valentin Kraus", kürzte er die Sache ab.
"Ja, ich weiß. Der Stolperjunge", sagte sie. "Ich bin Grabstein. Ein sehr schlechter Umgang. Nimm dich bloß in Acht vor mir."
Mit großen Augen gab er ihr die Hand. Und erst jetzt fiel ihm auf, dass Luiza Sommersprossen hatte. Es waren nicht viele. Sie befanden sich alle zur Linken und zur Rechten ihrer Nasenflügel.
"Du bist wirklich sehr ungeschickt mit den Worten", meinte sie.
"Jaaah", stöhnte er.
"Und mit den Füßen ebenfalls. Es sah ja schon ziemlich lustig aus, wie du eben hereingepurzelt bist", zog sie ihn noch ein wenig weiter auf.
Valentin rollte schuldbewusst mit den Augen.
"Du bist sehr talentiert. Und ich glaube, dass der Junge, der dir das Bein gestellt hat, gesellschaftlich gerade sehr im Aufwind ist."
"Er ist ein Vollidiot", bemerkte Valentin trocken.
Luiza drehte sich um und musterte den Widerling, der nach wie vor den Zuspruch der Massen genoss. "Ja, du hast Recht", bestätigte sie. "Dieses Wort ist gut gewählt. Aber ich glaube nicht, dass er etwas dafür kann."
"Wie meinst du das denn?"
Luiza zuckte mit den Schultern. "Er trägt sein Gesäß nunmal auf dem Hals. Es ist bei ihm also rein genetisch bedingt. Eine Fehlproduktion."
Sie begann zu lächeln und rollte mit den Augen. Wahrhaft! Grabstein konnte lächeln.
"Also, wie ist das nun mit den Krähen?", fragte sie ihn.
"Keine Ahnung", stammelte er. "Ich hab die Viecher nicht bestellt. Sie folgen mir von ganz allein. Ich dachte, du würdest dich vielleicht damit auskennen."
"Wieso ich?"
"Na ja, ich meine, weil du immer so schwarz..."
"Ja", fiel sie ihm ins Wort. "Das sieht merkwürdig aus, oder? Man sagt, ich würde nachts auf Friedhöfen schwarze Messen veranstalten. Deine Raben gefallen mir jedenfalls."
"Und?", wollte er wissen. "Hast du schon mal eine schwarze Messe..?"
"Nein."
"Aber deine Eltern haben doch ein Bestattungsinstitut."
"Quatsch."
"Nicht?", wunderte sich Valentin und dachte dabei, wie lange dieses Gerücht nun schon durch das Schulhaus geisterte.
"Und du trägst ständig so komische Anzüge?", fragte sie ihn etwas provokant.
"Wie kommst du denn darauf?"
"Was halt so alles erzählt wird. Und mit dem Anzug hast du dir ja einen schönen Schlamassel eingebrockt. Ich muss zugeben, dass das Ding wirklich das Allerletzte ist. Wie konntest du nur so dumm sein?"
"Ich konnte nichts dafür", verteidigte er sich. "Das war meine Dienstkleidung. Ich musste ihn anziehen."
"Hmm", machte sie und nickte dabei. "Aber gesellschaftlich bist du jetzt trotzdem erledigt. Einen derartigen Fehltritt kannst du dir heutzutage einfach nicht leisten. Jetzt bist du out."
Er atmete deutlich hörbar aus. "Und was soll ich jetzt machen?"
Das Mädchen zuckte mit den Schultern. "Wenn du bei diesem Mob hier ankommen willst, musst du schon irgendwas Verbotenes machen. Irgendwas, was richtig fetzt."
"Mob?"
"Ja", erklärte Grabstein. "Das ganze Schulhaus ist ein Mob. Dort drüben stehen die Guten, also die Reichen und die Schönen. Sie bestimmen, wer dazugehört und wer nicht. Schau nur, wie sie sich alle um sie scharen. Jeder will ihnen imponieren und in der Rangfolge eine Stufe höher klettern. Das ist ganz normales Revierverhalten. Aber du bist am falschen Ende der Nahrungskette gelandet, und der Junge mit dem Gesäß auf dem Hals weiß das. Wenn er dich von den Beinen holt, bekommt er ein wenig Aufmerksamkeit. Sieh nur, wie es gerade aufwärts mit ihm geht."
Als der Gong für den bevorstehenden Unterricht erklang, geriet Bewegung in die Massen.
"Du musst Eindruck schinden, um anzukommen", stellte Luiza fest. "Warte mal, unser Nachbarsjunge hat kürzlich sowas Komisches ausprobiert."
Sie kramte in ihrer Manteltasche und zog plötzlich eine Zigarre heraus - eine Zigarre, die auf halber Höhe angebrochen war. Der vordere Teil stand in einem höchst bedenklichen Winkel ab.
"Woher hast du denn die?", fragte er erstaunt.
"Von dem Nachbarsjungen", sagte sie. "Er saß rauchend auf einer Mauer und rief: Willst du auch eine, Puppe? Dann hat er sie mir zugeworfen. Anschließend wurde er ganz grün im Gesicht und fiel rückwärts ins Gebüsch."
Zu seinem Entsetzen steckte sie ihm das skurrile Ding in den Mund und zündete es unter immer größer werdenden Augen an. In diesem Moment musste Valentin seine Ansichten über dieses Mädchen korrigieren. Luiza war nicht merkwürdig,