Angelo. Martin Renold. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Martin Renold
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783847618874
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auf seiner dünnen Matratze geweint; denn im Stillen hatte er gehofft, auch mit Mario fliehen zu dürfen, wenn es einmal so weit sei. Aber nun war alles aus für ihn und auch für Lorenzo. Nur Mario, so wusste er, würde es dennoch schaffen. Eines Tages würde sein großer Freund verschwunden sein.

      Die Flucht

      Mit der Zeit sprach niemand mehr von jener missglückten Flucht, aber umso mehr dachte nun Mario an seine Pläne. Auch Lorenz drang wieder in ihn, bis sie sich schließlich einigten. Mario gab Lorenzo das Recht, gleichzeitig mit ihm zu fliehen, aber dann sollte jeder seine eigenen Wege gehen. Lorenzo war glücklich, aber es war ihm doch nicht so recht behaglich, wenn er daran dachte, dass er allein in der großen Stadt leben sollte, die er nur aus Marios Schilderungen kannte. Aber er wollte tapfer sein und sich von niemandem auffinden lassen.

      Es war noch einige Zeit vergangen, bis alles bereit gewesen war. Mario war oft in die Stadt gegangen und hatte einige Schlupfwinkel ausgekundschaftet.

      Und dann war es auf einmal so weit gewesen. Eines Tages hatte Mario ganz im Vertrauen zu Angelo und Lorenzo gesagt, dass morgen die Flucht durchgeführt werde.

      Angelo musste schwören, dass er zu keinem Menschen ein Wort davon sagen wolle. Als Angelo den Schwur getan hatte, fasste er Mario am Arm und flüsterte ihm leise ins Ohr:

      „Mario, wenn ihr fort seid, dann werde ich ganz allein sein. Ich möchte lieber auch mit euch gehen. Darf ich nicht mit euch fliehen?“

      „Angelo, das ist unmöglich“, sagte Mario, „du weißt ja, dass wir uns nach der Flucht trennen müssen, Lorenzo und ich. Dann werden auch wir allein sein. Draußen hättest du überhaupt niemanden mehr. Du müsstest ganz allein für dich sorgen. Ich kann dich nicht mitnehmen, und um allein zu fliehen bist du noch viel zu klein...“

      „Lorenzo ist nicht größer als ich“, erwiderte Angelo. Es verdross ihn, dass Mario ihm vorhielt, er sei zu klein. Nein, er war gewiss groß genug. Er wollte alles versuchen, um auch fliehen zu können. Mario und Lorenzo sollten nicht glauben, er könne weniger als sie.

      „Aber Lorenzo ist stärker als du“, antwortete Mario, „ er erträgt es besser, im Freien zu schlafen. Weißt du, im Winter ist es dann kalt, auch wenn du krank wirst, bist du verloren.“

      „Im letzten Winter haben wir alle auch gefroren, und da bin ich auch nicht krank geworden. Ich will stark sein, und ich werde gewiss nicht krank werden. Nehmt mich doch mit!“, bettelte Angelo.

      „Hast du keine Angst?“, fragte Mario. „Wenn du in der Nacht, wenn es dunkel ist, Angst bekommst, dann bleibst du besser hier.“

      „Ich werde ganz gewiss keine Angst haben“, beteuerte Angelo.

      „Ich will es mir überlegen“, sagte Mario mit wichtiger Miene und zog sich mit Lorenzo in eine stille Ecke zurück. Dort flüsterten sie lange miteinander. Angelo hörte nicht, was sie sprachen, aber er wusste, dass dort über seine Freiheit oder die Fortsetzung seiner Gefangenschaft entschieden wurde. Sein Herz pochte heftig vor Erwartung.

      Mario und Lorenzo in ihrer Ecke kamen vorerst überein, nun doch miteinander zu fliehen und immer beisammen zu bleiben; denn es war Krieg im Lande, jener große Krieg, in dem die Engländer und die Amerikaner gegen die Deutschen kämpften. Und Italien war mittendrin. In der Stadt herrschte große Unruhe, da die amerikanischen Truppen, die Rom von den deutschen Unterdrückern befreien sollten, schon vor den Toren standen. Mario hatte dies aus ganz sicherer Quelle erfahren, und er erwartete, dass Rom schon am nächsten Tag befreit werde. Darum hatte er die Flucht auf diesen Tag festgesetzt. An diesem Tag würde gewiss so viel Unordnung und Verwirrung in der Stadt sein, dass sie ungehindert fliehen könnten. Diesem Umstand hatte es denn Lorenzo zu verdanken, dass er mit Mario fliehen durfte, diesem Umstand allein – nicht der Angst vor dem Alleinsein, nicht einer plötzlichen Verzagtheit wegen, und am allerwenigsten etwa, weil Mario Lorenzos Hilfe brauchte. Nein, ganz allein deshalb, weil es günstiger war, als Mario vorhergesehen hatte. Mario betonte dies ganz besonders.

      Da sie nun schon beschlossen hatten, zusammenzubleiben, konnte man es sich ja überlegen, ob man auch Angelo mitnehmen solle. Sie kamen schließlich überein, dass sie es ihm nicht verwehren wollten, falls er wirklich darauf bestand. Aber er sollte nur unter der Bedingung mitkommen dürfen, dass er nie zurückkehren würde. Es wäre eine Schande und eine Schmach für sie alle. Auch dürfe er keine Angst haben, und vor allem dürfe er ihr Versteck keinesfalls verraten, wenn man ihn erwische. Dies galt übrigens auch für Lorenzo und Mario selber. Sie versprachen es sich gegenseitig, und auch Angelo versprach alles fest und heilig. Er wolle alles tun, was sie von ihm verlangten. Wenn er nur mit ihnen gehen dürfe.

      Die Flucht würde leicht sein. Sie brauchten nur von zu Hause wegzugehen, möglichst weit weg, und nicht mehr zurückzugehen. Schwerer würde es sein, sich nicht auffinden zu lassen.

      Mario hatte alles richtig vorausgesehen.

      Der Kanonendonner, den man schon seit Tagen im Süden vernahm, war auf einmal ganz nahe. Manchmal war er so nahe, dass einem beinahe das Trommelfell zersprang. Angelo lief den ganzen Tag mit offenem Mund umher. Mario hatte das gesagt, dass man den Mund offen halten müsse, wenn in der Nähe geschossen werde. Mario wusste immer, was man tun musste.

      In den Straßen war reges Leben. Die Deutschen schienen sich aus der Stadt zurückzuziehen. Angelo aber sah nichts davon. Die Fensterläden waren geschlossen worden. Man hörte es nur. Manchmal zitterte das Haus, in dem man sich eingeschlossen hatte, und drunten auf der Straße dröhnte es unheimlich über das Pflaster. Manchmal war ein Rasseln, als ob man schwere Eisenketten über die Straße schleifte. Und dann war es wieder ruhig, unheimlich ruhig, und auf einmal war wieder ein Rasseln und Zittern. Aber die lauten Schüsse aus den Kanonenrohren hatten aufgehört. Und auf einmal war großer Jubel auf der Straße. Die Läden wurden aufgeschlossen. Irgendwoher kam ein beißender Rauch. Man eilte auf die Straße hinunter. Da war ein Drunter und Drüber. Fremde Menschen waren da, Soldaten in braunen Uniformen saßen auf seltsamen Raupenfahrzeugen. Das waren die Amerikaner. Mario war stolz, dies zu wissen. Alle Leute waren fröhlich.

      Am Abend blieben die Schlafplätze der drei kleinen Ausreißer leer.

      Endlich in Freiheit

      So wie sich die Vögel ihr Nest zusammentragen, so hatten Mario, Lorenzo und der kleine Angelo all das herbeigeschafft, was sie für ihre Bequemlichkeit brauchten: ein Häufchen Stroh, Säcke und Lumpen, eine alte zerrissene Decke. Alles, was sich finden ließ, hatten sie in den heimlichen Schlupfwinkel getragen.

      Der Schlupfwinkel: Lorenzo hatte ihn am dritten Tag entdeckt. Die ersten beiden Nächte hatten sie sozusagen unter freiem Himmel geschlafen. Das ganze Forum Romanum, den Circus Maximus, diese alte römische Arena, den Palatin hatten sie abgesucht. Am Abend waren sie in einer feuchten Grotte eingeschlafen. Am Morgen hatte sie die Sonne geweckt. Sie waren aufgestanden, hatten sich umgesehen, und da sie Hunger verspürten, waren sie aufgebrochen, etwas Essbares zu suchen. In der zweiten Nacht hatten sie am gleichen Ort geschlafen, und am Morgen des dritten Tages, als sie aufwachten, hatte Lorenzo den Schlupfwinkel entdeckt. Das war so zugegangen:

      Lorenzo hatte am Tag zuvor von einem amerikanischen Soldaten ein kleines, rundes Brot erhalten. Er hatte es neben sich gelegt, bevor er eingeschlafen war, damit er am Morgen gleich das Essen bereit habe. Als er sich erwachend drehte und reckte, stieß er mit dem Arm an das Brot; das Brot fiel von dem Stein, auf dem es lag, herunter und rollte gegen die Wand der Grotte, wo ein dorniger Strauch aus dem felsigen Boden herauswucherte, und verschwand. Ja, es verschwand. Lorenzo hatte, noch halb im Schlaf, dem davonrollenden Brot nachgeschaut. Eben hatte er es noch gesehen, mit verschleierten Augen zwar, nicht klar, aber doch so deutlich, dass er wusste, dass es dort unter dem Strauch hindurchgerollt war. Aber jetzt war es fort. Lorenzo war plötzlich hellwach geworden. Er sprang auf, eilte dem Brot nach und suchte unter dem Strauch. Das Brot blieb verschwunden. Lorenzo griff zwischen den dornigen Ästen hindurch und – griff ins Leere. Ja, er griff ins Leere, als ob er die Hülle der Erde durchstieße und ins Weltall hinaus, in die Ewigkeit hinauslange. Sein ganzer