»Du, Ingrid. Ich...«, begann Josef das Gespräch.
»Ja?« Sie drehte sich auf die Seite und legte ihren Kopf in die Wiege ihrer Hand.
»Als dein Ehemann möchte ich in der Zeit in der ich noch bei dir bin, so viel wie möglich über dich erfahren. Seit ich dich kenne bist du mir ein Rätsel...«
»...und trotzdem hast du mich geheiratet?«, beendete Ingrid den Satz.
»Ja, weil ich dich liebe.« Er blickte sie an und küsste sie auf die Stirn. »Also bitte vertrau mir.« Er seufzte. »Ich werde dich nie fragen was dir widerfahren ist, denn ich hoffe, dass du es mir irgendwann von selbst erzählen wirst.« Er drehte sich wieder auf den Rücken und verschränkte die Arme hinterm Kopf. »Weißt du meine Mutter und mein Vater waren die besten Eltern die man sich hätte vorstellen können. Meine Mutter hat uns jeden Morgen mit Pfannkuchen geweckt und unser Vater hat uns Geschichten erzählt. Nicht wie üblich aus Büchern. Er hat sich einfach zu uns unter die Decke gelegt und sich eigene Geschichten ausgedacht. Über Seefahrer und Piraten, über Prinzessinnen und Prinzen oder über Abenteurer die gruselige Ungeheuer besiegen wollten um eine schöne Jungfrau zu beeindrucken. Wir dachten das Leben würde immer so weitergehen und nichts könnte uns aufhalten.« Ingrid wischte sich, eine verirrte Träne aus dem Gesicht. »Mein Vater wollte aufs Festland um neue Arbeiter für die Fischerei anzuwerben. Er fuhr sehr gerne mit dem Dampfer aufs Festland und brachte uns immer eine Überraschung mit. Meine Mutter blieb zu Hause bei uns, bis auf dieses eine Mal. Sie hatten gerade ihren vierzehnten Hochzeitstag und wollten mal wieder unter sich sein. So beschloss Vater, Mutter mit aufs Festland zu nehmen. Ihr etwas Schönes zu kaufen und einfach mal wieder Zeit mit ihr zu verbringen. Allein. Weißt du. Nicht mit uns Kindern. Wir waren groß genug um zwei Nächte allein zu sein. Mutter hatte gut eingekauft und die Nachbarin sollte ab und zu mal nach dem Rechten schauen.« Ingrid seufzte, während Josef nach ihrer Hand griff und ihr lieblich über die Fingerknöchel strich. »Es war neblig und feiner Regen tröpfelte auf uns hinab. Erst wollte Vater die Reise verschieben, doch meine Mutter hatte sich schon so sehr gefreut, dass er nicht nein sagen konnte. O, Gott. Hätte er doch bloß.«
»Komm zu mir.« Josef zog seine Frau in seinen Arm und küsste sie abermals auf die Stirn.
»Wir standen am Anlegeplatz und winkten den fröhlichen Gesichtern hinterer, die im dichten Nebel verschwanden. Erst am Abend erfuhren wir von Frau Kreuzer, der Nachbarin, dass der Dampfer mit einem Frachtschiff kollidierte. Das Schiff ist dem Dampfer ohne Vorwarnung in die Seite gerammt und hat alle Passagiere in den Tod gerissen. Vielleicht starben sie nicht, weil die Schiffe zusammengestoßen sind, sondern weil das Wasser einfach zu kalt war, weil sie zu stürmisch war oder weil es einfach an der Zeit war zu sterben? Denkst du, dass der Tod schon auf uns wartet und einen Zeitpunkt bestimmt?«
»Du meinst, dass wir an einem bestimmten Zeitpunkt sterben werden egal wo wir uns befinden?« Ingrid nickte. »Könnte doch sein.«
»Vielleicht?« Josef hauchte ihr einen Kuss auf die Stirn. Er dachte an die Zeit, die ihm bevorstand, an Großvater Wilhelms Geschichten aus dem 1. Weltkrieg. Über die verlorenen Blicke von seinem Vater und Onkel Berthie. Sie alle hatten überlebt, also würde Josef es auch schaffen.
Wie stolz Großvater war, als er erfuhr, dass seine Söhne erneut in den Krieg ziehen dürfen. Nun fehlte nur noch sein Enkel. »Versohle Ihnen die Ärsche«, hatte er taktlos beim gemeinsamen Familienessen gesagt. Josef konnte dies nur belächeln. Nach außen hin wollte er sich als starker Soldat präsentieren, während im inneren die Angst lauerte.
Am darauffolgenden Tag lud Onkel Berthie die Familie zum Essen ein. Hoffentlich gibt es heute keine Streitereien, dachte Josef, als er seiner Frau den Stuhl zurechtrückte. Ihr langes Kleid war figurbetont geschnitten, woraufhin die Herren am Tisch gern einen weiteren Blick riskierten.
»Und Junge bist du schon aufgeregt?«, fing Großvater gleich mit dem gefürchteten Thema an.
»Großvater muss das jetzt sein?«, fragte Josef. Auf keinen Fall wollte er, dass Ingrid mitbekam, wie Wilhelm über den Krieg berichtete. »Natürlich. Bald wirst du den Einberufungsbefehl in der Post haben und dann wirst du endlich ein richtiger Ludwig sein. Du wirst in den Klub der Herren aufgenommen werden und einige Dinge erfahren, die niemand sonst weiß.« Großvater klopfte seinen beiden Söhnen, die neben ihm saßen auf den Rücken. Wenn Ingrid an den Einberufungsbefehl dachte, den Josef mit Sicherheit demnächst bekommen wird, krampfte sich ihr unwillkürlich der Magen zusammen.
»Was denn für Dinge, wenn ich fragen darf?« Ingrid nahm ihr Glas und trank einen Schluck Wein.
»Dinge die man von Soldat an Soldat weitergibt.« Wilhelm blinzelte ihr zu. Obwohl die Familie Ludwig sehr wohlhabend ist, war Wilhelm nicht in der Lage seine Zähne pflegen zu lassen. Entweder fehlten sie oder waren vergammelt. Deswegen war Ingrid bei der Hochzeit nicht traurig darüber, dass Opa Wilhelm schon früh nach Hause musste. Er trank gerne mal einen über den Durst und war dann kaum zu bändigen. Deswegen hatten die männlichen Familienmitglieder immer ein Auge auf ihn, um Großvater schnell aus dem Verkehr zu ziehen. »Und was ist das so?« Ingrid ließ nicht locker, was Josef gar nicht mochte.
»Das werde ich dir erzählen, wenn Großvater es mir erzählt hat.« Lieblich küsste er seine Frau aufs Ohrläppchen. Ingrid legte den Kopf schief und genoss diese kurze Liebkosung von ihrem Ehemann. »Was wirst du denn während Josefs Abwesenheit tun?«, fragte Opa Wilhelm weiter.
»Ich bin mir nicht sicher...« Ingrid suchte in Josefs Gesicht nach Hilfe.
»Du könntest den Damen beim Nähen helfen, die Ernte beaufsichtigen oder sich um die Koordination der Fischer auf dem Meer kümmern.« Opa Wilhelms Blick brannte sich in den ihren und ließ Ingrid kaum Luft zum Atmen. Es war, als würde ihr die Kehle zugeschnürt werden. »Letzteres würde dir wahrscheinlich am einfachsten vorkommen, denn dein Vater war doch ebenfalls in der Fischerei tätig.« Er drehte den Kopf und fuhr sich mit seiner Hand durch die speckigen Haare. Wenn Ingrid sich ihn so ansah, hatte er Ähnlichkeit mit einem Gnom und sie fing stumm zu lachen an. »Blitzmädchen gab es auch im 1. Weltkrieg und sie waren echt ein Hingucker.« Er lächelte.
»Was sind Blitzmädels?« Ingrid legte ihr Besteck beiseite.
»Sie leisten militärische Hilfsdienste. Ihre Ausbildung dauert mindestens zwölf Wochen.«
»Ach so. Und deswegen werden sie Blitzmädels genannt?« Opa Wilhelm nickte.
»Du musst dir das nicht anhören, wenn du nicht möchtest«, murmelte Josef.
»Doch, doch. Ich finde das sehr interessant.«
»Sieh dir das an Josef. Deine Frau weiß was sie will. Du bist doch beim roten Kreuz tätig?«
Ingrid nickte stumm. »Dann könntest du sogar im Lazarett aushelfen. Sie nehmen gerne Frauen, die im Gesundheitswesen Erfahrung gesammelt haben.«
»Das hört sich echt spannend an.« Ingrid legte ihre Hände übereinander auf den Tisch.
Wilhelm hielt sein Glas in die Höhe. Jetzt wurde auch der Rest der Familie hellhörig. »Da ich gestern schon früh von der Hochzeit weg musste, möchte ich Ingrid heute herzlich in der Familie willkommen heißen.«
»Ist das unangenehm«, flüsterte Ingrid ihrem Ehemann zu.
»Herzlich willkommen in der Familie.« Josef schlang seinen Arm um ihre Taille und küsste sie auf die Schläfe.
4
Am Nachmittag des 25. August machte sich Josef mit Ingrid auf den Weg nach Nebel. Familie Johannes Ludwig lud zu einem gemeinsamen Mittagessen, vor der bevorstehenden Rationierung, ein. Sogar Ella, Josefs Cousine mit ihrem Ehemann Richard und Dora, Josefs Schwester, mit ihrem Ehemann Albert waren zugegen. Die Köchin, die schon seit Generationen in der Familie den Kochlöffel schwang, hatte ein zauberhaftes Mahl geschaffen. Es gab reichlich Karotten, Fleisch und Kartoffeln. Ingrid ließ Gabel und Messer auf den leeren Teller sinken und atmete tief durch.