Die Fähre verließ den Anleger, war irgendwann nur noch ein schwarzer Punkt am Horizont, bis die Nordsee das Schiff verschluckte. Diese Tage taten Nehle besonders weh, denn auf diese Weise hatte sie ihre Mutter verloren. Amelie und Nehle waren nicht nur Mutter und Tochter, sondern die besten Freundinnen. Amelie war zwar schon eine Ecke älter, doch wirkte sie relativ jung und wurde immer als Nehles große Schwester gesehen. Doch irgendwann zog ein Orkan auf und brach die Beziehung von Mutter und Tochter. Reece Thompson – ein smarter, gutaussehender, junger Brite – eroberte.
Amelies Herz im Sturm. Nehle war eigentlich nicht traurig über eine neue Beziehung im Leben ihrer Mutter. Sie hatte es verdient. Ihr damaliger Freund, und Vater von Nehle, hatte sie wegen der Schwangerschaft verlassen. Seitdem gab es keinen Mann mehr in ihrem Leben. Je mehr Zeit Amelie mit Reece verbrachte, desto weniger blieb ihr mit ihrer Tochter. Irgendwann verfiel Nehle in Selbstzweifel, wollte unbedingt wieder Mittelpunkt im Leben ihrer Mutter sein. Als sie heraus fand, dass Reece nur als Zeitarbeiter in Deutschland arbeitete, konnte sie schon wieder leichter atmen. Ihre Freude, dass ihre Mutter bald wieder ohne Mann sei war gemein und Nehle schämte sich auch dafür. Doch es machte sie glücklich, wenn ihre Mutter unglücklich war. Ist das nicht bei allen alleinerziehenden Müttern so? Immer im Mittelpunkt gestanden und plötzlich wie eine Trophäe in den Wandschrank gestellt zu werden. Zumal Reece nur einige Jahre älter als Nehle war. Fast noch ein Teenager. Während Nehle sich siegessicher zur Arbeit begab, hatte Amelie anderes im Sinn. Sie wollte weg von der Insel. In die Ferne, wo das Wasser den Himmel küsste.
Den lieben langen Tag verbrachte Amelie damit, Sachen zu packen, Formalitäten zu klären und sich auf die gemeinsame Zeit in London vorzubereiten. Als Nehle erschöpft von der Arbeit in die kleine zwei Zimmer Wohnung trat, wusste sie sofort, dass etwas nicht stimmte. Ein Brief auf dem Esstisch brachte Licht ins Dunkel. Nehle schwang sich auf ihr Fahrrad und radelte wie ein Radprofi hinunter zum Hafen. Dort konnte sie gerade noch das lachende Gesicht ihrer Mutter erkennen. Ihre langen Finger, die winkend in die Luft ragten. »Auf Wiedersehen mein Schatz. Bis bald«, hatte der Wind an ihr Ohr geweht. Seitdem ging Nehle, so oft sie konnte runter zum Hafen um nach ihrer Mutter Ausschau zu halten. Wann würde sie endlich wieder zu ihr zurückkommen?
Mittlerweile sind Jahre vergangen, Amelie hatte Reece geheiratet, Nehle hat ihre Ausbildung beendet und immer noch wartete sie. Ab und zu traf eine Postkarte oder ein Brief zum Geburtstag ein, aber mehr hatte Amelie nicht übrig. Weihnachten feierte Nehle daher immer bei Timo und seinen Eltern. Die beiden haben sich damals in der Sandkiste kennengelernt, haben den gleichen Kindergarten, dieselbe Schule besucht. Bis es Nehle in der achten Klasse so gut gefallen hatte, dass sie diese gleich nochmal wiederholen wollte. Doch ihrer Freundschaft hatte es keinen Abbruch getan. Im Gegenteil es hat das Band nur noch bestärkt.
Timo, mit seinen blonden kurzen Pony, der seine hohe Stirn gut kaschierte. Timo, der eine Touristin nach der anderen abschleppte und Nehle diese nachher trösten durfte, wenn sich das Mädchen mehr als Sex erhofft hatte. Ja. Das war Timo.
Doch nun fuhren sie gespannt von Wittdün nach Norddorf. Dort wo Uwe Block einen schrecklichen Fund im Kellergewölbe gemacht hatte.
Nehle trat die drei Stufen hinab, bis sie in der dunklen Küche stand. Mit der rechten Hand suchte sie vergebens den Lichtschalter und drückte gleichzeitig mit Herrn Block, dem Makler, darauf. Ihre Hände berührten sich. Nehle zog angewidert ihre Hand unter der des Maklers zurück. Seine vom Schweiß triefende Hand auf ihrer. Sie fand den Mann von Anfang an schon unsympathisch und hoffte nur, dass Timo seinen Erkundungsgang in den oberen Räumen bald beendet hatte. Sie wollte auf keinen Fall so lange mit ihm alleine bleiben. »Sehen Sie, wie instand die alten Geräte noch sind?« Wollte er mir das Haus jetzt anpreisen?, dachte Nehle und verdrehte die Augen. »Ja. Nett. Aber könnten Sie mir jetzt bitte die Fundstelle zeigen.«
»Natürlich.« Der Makler deutete zu einer schmalen Tür. »Dort drinnen.« Er wedelte mit der Hand, um Nehle den Vortritt zu lassen. Ein penetranter Geruch stach ihr in die Nase. »Was zum....« Sie hätte sich fast übergeben müssen. »Hier haben wir keinen Strom mehr. Keine Ahnung wie sie hier früher gelebt haben?« Uwe Block zuckte mit den Achseln, was Nehle natürlich nicht sehen konnte.
»Sicher mit Kerzen oder Petroleumlampen...Was machen Sie hier eigentlich?«, fragte die junge Polizistin nachdenklich, als sie ihre Taschenlampe zückte. Diese hatte sie sich vorsichtshalber eingesteckt. »Na ja. Ich habe gehört, dass dieses Haus leer steht und es höchstwahrscheinlich verkauft werden soll.«
»Und?« Kurz strahlte Nehle dem Makler ins Gesicht.
»Ich wollte mich vorher einmal umschauen, bevor ich den Auftrag, das Haus zu verkaufen, annehme.«
»Hatten die Vorbesitzer keine Verwandten?«
»Keine Ahnung. Aber ich muss auch an mich denken. Außerdem wollte ich ja nichts stehlen. Ich wollte mir das Haus einfach nur anschauen eventuelle Mängel begutachten und mir ausrechnen was das alles kosten würde. Dann wäre ich zu der zuständigen Behörde gegangen und hätte mich als Makler angeboten.«
»Aha.« Die Geschichte klang zwar plausibel. Trotzdem wollte Nehle dies überprüfen, weil ihr der Mann irgendwie komisch vorkam. »Hier vorne ist es.« Uwe Block deutete mit seiner eigenen Lampe zu dem vergilbten Laken. Vorsichtig zog er es ab und vor ihnen standen zwei dunkle Müllbeutel. »Schauen Sie dort.«
Doch dazu kam sie nicht, denn Timo polterte, die wenigen Treppenstufen hinab und folgte dem raren Schein des Lichtes, welches von Nehles Taschenlampe ausging.
Sofort begann die junge Polizistin sich wohler zu fühlen. »Was haben Sie entdeckt?«
Timo hatte sich Einmalhandschuhe übergezogen und trat näher an die Säcke heran. Vorsichtig öffnete er die Knoten und zog das Gummi auseinander. »Geben Sie mir bitte mehr Licht«, bat Timo den Makler. Auch Nehle schenkte ihrem Partner Licht.
»O mein Gott.« Nehle lugte Timo über die Schulter und bekam große Augen. Ein nackter Schädel blickte sie an. »Was ist das?«
»Da sind zwei Leichen drinnen. So wie Polizeimeister Conni gesagt hatte.«
»Da war meine Befürchtung doch richtig. Ich muss mal eben an die frische Luft.« Uwe Block verabschiedete sich und ging nach draußen.
»Was machen wir denn jetzt?« Nehle war leicht überfordert. Sie hatte so etwas noch nie gesehen. »Hast du schon mal so etwas gesehen?«, fragte sie Timo.
»Nicht wirklich.« Er seufzte. »Tja. Wir brauchen die Spurensicherung. Einfach das ganze Programm.« Er zog den Handschuh aus und strich sich durch die Haare.
»Bist du sicher? Welche Spuren sollen hier denn noch gesichert werden?« Nehle pustete sich eine Strähne aus dem Gesicht. »Genug. Wir sollten schnellstmöglich anfangen zu ermitteln.« Damit machte er auf dem Absatz kehrt und folgte dem Makler nach draußen.
2
Während die Gerichtsmedizinerin im Keller die beiden Leichen untersuchte, wartete Nehle vorm Haus. Sie brauchte dringend frische Luft. Nicht das sie der Anblick der Leichen verstört hatte. Es ist doch etwas anderes eine echte Leiche oder ein Skelett zu sehen. Den letzten Toten hatte sie bei ihrer Ausbildung gesehen. In der Gerichtsmedizin, wo sie einige Tage Praktikum gemacht hatte. Nehles Aufmerksamkeit gehörte der kleinen Haustür. Ein Glyzinienbogen hatte sich um die schmiedeeiserne Ranghilfe geflochten. Die himmelblauen Blüten wirkten wie kleine Weintrauben. Die Gerichtsmedizinerin, mit strengem Dutt, trat durch die Tür und schenkte der jungen Polizistin ein kokettes Lächeln. »Ich kann bis jetzt nur sagen, dass es eine männliche und eine weibliche Leiche ist.« Hinter ihr traten vier Männer mit zwei Leichensäcken vorbei zu dem großen Wagen am Straßenrand. »Ich werde mich bei Ihnen melden.« Sie reichte Nehle die Hand und tänzelte wie eine Ballerina zurück zu ihrem Wagen. Timo pfiff durch die Zähne. »Scharfe Braut.«
»O.