Franz Kafka. Bernd Oei. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Bernd Oei
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783753174839
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selbst stimmlich zu versagen. Kaum noch ein menschlicher Ton dringt über seine Lippen. Zu allem tritt die Furcht, sinnlos gelebt, versagt zu haben. Die Anerkennung fehlt, gerade jetzt, wie wichtig wäre ihm ein wenig Resonanz auf das Geleistete, das er selbst so stark in Zweifel zieht wie kein anderer. Kafkas letzte Geschichten „Der Hungerkünstler“, „Josefine, die Sängerin“ und „Der Bau“ sind das Geleistete die letzten Erzählungen und enthalten auch eine Rückschau auf. Paradigmatisch erscheint, dass es über einen eingebildeten unsichtbaren Feind (Geräusche) und von einem Verbarrikadieren handelt. Das Geräusch wird zum Gegner, dem eigenen Atemholen. „Es ist das eigene Lebensgeräusch ... welche die perfekte Stille seiner Schöpfung nicht stört.“34

      Rückblende. „Der Kübelreiter“ (1917) bleibt dem extrem kalten Kriegswinter geschuldet. In einem Tagebucheintrag kommentiert Kafka die Schwebezustände als Kampf zwischen Hoffen und Bangen, ausgelöst vom Gefühl der Nutzlosigkeit gegen-über der Welt. Die Erzählung handelt von einem zaghaften Bemühen um Kohle, das am Ende scheitert am Egoismus der Kohlehändlerin. „Alle Vorzüge eines guten Reittieres hat mein Kübel; Widerstandskraft hat er nicht; zu leicht ist er; eine Frauen-schürze jagt ihm die Beine vom Boden.“35 Die Erzählung kann gedeutet werden als Parodie auf die weibliche Abweisung, in der sich die väterliche Schroffheit widerspiegelt, aber auch ungestilltes Verlangen nach menschlicher, fraulicher Wärme.

      1 I. 6. Das literarische Umfeld (Prager Kreis)

      Max Brod

      Seinen engsten Freund lernt Kafka Oktober 1902 während sei-nes Studiums der Rechte an der Deutschen Universität in Prag kennen. Laut Brod ergreift der junge Kafka bei der Diskussion die Partei Nietzsches, während Brod Schopenhauer verteidigt. Dabei soll dem humorvollen Kafka die Misanthropie Schopen-hauers verdrießt haben. Der um neun Monate jüngere Brod reüssiert bereits 1906 durch Veröffentlichungen eigener Romane, Essays und Dramen. Er gilt als Wunderknabe und bleibt zu Lebzeiten Kafkas bekannter als dieser. Mehrere Tagebucheintragungen belegen, dass Kafka sich schämt, seinem Freund gegenüber einzugestehen, dass er schreibt und sich überwinden muss, diesem seine Texte auch zu zeigen. Aus ihrer Freundschaft heraus entwickeln sich Lese-abende und bis zuletzt schätzt Kafka Brods Meinung. In seinem Testament verfügt er, einen Großteil seines für unfertig befundenen Werks zu verbrennen, dennoch vertraut er sie dem einzigen Freund an, der bedingungslos an sein Talent glaubt. Max Brod, den man als Haupt des Prager Kreises bezeichnet, weil er zahlreiche Künstler Prags fördert, ist heute hauptsächlich als Publizist und als Chronist Kafkas bekannt.

      Die Gespräche in Prager Kaffeehäusern sind in den Tagebüchern Kafkas verbürgte Inspirationsquelle seines Schaffens. Meist ist Brod der einzige, der eine Geschichte von ihm laut vorlesen darf. Als Vizepräsident des jüdischen Nationalrates nach dem Ersten Weltkrieg besitzt Brod zudem maßgeblichen Anteil an der spät erfolgten politischen Auseinandersetzung Kafkas mit Judentum und Zionismus. Brod ist unzweifelhaft die Stütze in Kafkas unendlichen Selbstzweifeln. Er erkennt nicht als einziger das höhere Talent anderer, aber er allein fördert es uneigennützig. Es dürfte auch kein Zufall sein, dass Kafka über Brod Felice Bauer, die wichtigste Frau in seinem Leben kennen lernt.

      Franz Werfel

      1910 macht Kafka durch ihn auch die Bekanntschaft mit dem sieben Jahre jüngeren Franz Werfel und beginnt er mit dem Schreiben der Reisetagebücher. Seine ambivalente Beziehung zu dem zeitgenössisch erfolgreichsten Autor des Prager Kreises ist in den Tagebüchern gut dokumentiert. So räumt Kafka in einer Notiz vom 1913 ein, neidisch auf den Erfolgsverwöhnten zu sein. Als Werfel Alma Mahler kennenlernt, sieht Kafka, was es bedeuten kann, die richtige Frau an seiner Seite zu wissen. In ihrer Selbstsicherheit und rigorosen Art, nichts zu bereuen, als- Muse fördert sie zahlreicher Künstler mit unterschiedlichen Talenten. Psychisch erscheint der Lebe- und Genussmensch Werfel in allem der ästhetische Gegenentwurf zum Grübler Kafka.

      Im Gegensatz zum aufgeschlossenen und selbstverliebten Weltmann liebt Kafka die Anonymität in den Arbeiterquartieren von Berlin, wohin-gegen ihn das zufällige Zusammentreffen mit dem Kollegen im Prager Altstadtviertel verstört. Werfel greift in seinem Künstlertum zahlreiche Stoffe aus der Musik oder anderen Kulturen (z. B. Armenien in „Die vierzig Tage des Musah Dagh“) auf, zudem beschäftigt er sich frühzeitig mit seinen jüdischen Wurzeln und erfindet sich künstlerisch stets neu. Kafka hingegen bleibt immer Kafka, sich und seinen Erzählungen treu, experimentiert nicht, holt sich Inspiration bei böhmischen Volksmärchen, kaum von der Antike.

      Werfel liebt das Reisen, Kafka verlässt Prag nur kurz und der Krankheit geschuldet. Aber gerade Werfels Empathie und pointierte Aussagen geben dem Leser heute einen tiefen Ein-blick in Kafkas Seele. Werfel gelingt, woran Kafka zerbricht: die Ablösung von der Familie, namentlich dem tyrannischen Vater.

      Mit dem Kontakt zu Werfel beginnt auch Kafkas Theater-leidenschaft für eine ostjüdische Schauspieltruppe, die bis 1912 in Prag gastiert. Er verliebt sich unglücklich in die verheiratete Hauptdarstellerin und will mit ihr über Nacht aus Prag fliehen. Vielleicht spiegelt sich diese verpasste Gelegenheit zum erotischen Abenteuer in all den verheirateten Frauengestalten seiner Literatur.

      Ernst Weiß

      Der um ein Jahr ältere Weiß aus Brünn trifft zum ersten Mal Kafka am Juli 1913. Weiß führt Kafka in Berlin ein, der Traum. von einem unabhängigen Leben als Berufsschriftsteller erhält ein Gesicht. Wie der Schauspieler Lewy zeigt er sich von Kaf-kas Steifheit und Distanz enttäuscht oder missversteht dessen Schüchternheit als Arroganz, interpretiert seine Scham als Gleichgültigkeit. Zahlreiche Bekanntschaften Kafkas zerbrechen an diesem Missverständnis.

      Mit Weiß teilt er die Ablehnung Wiens (der Residenzstadt) und die Begeisterung für Berlin. Sie haben literarische Vorlieben, besuchen häufig gemeinsam das Theater Prags. Andererseits verhält sich Kafka reserviert gegenüber Ärzten („Ein Landarzt“ erweist dies paradigmatisch) und vertraut dem Naturheilverfahren, u. a. auch den auf Nacktheit und Abhärtung schwörenden Kneipianern, die der konservative Mediziner Weiß strikt ablehnt. Auch in der Kriegsfrage scheiden sich ihre Geister; Kafka lehnt ihn kategorisch ab, Weiß ersehnt ihn geradezu. Zwischenzeitlich überwerfen sich beide und verkehren auf der Anrede „Sie“. 1921 nehmen sie noch einmal Kontakt auf.

      Karl Kraus

      Der böhmische, 1874 geborene Schriftsteller Kraus gilt als ers-tes Vorbild des jungen Kafka, der mehrere Lesungen in Prag von ihm besucht. Von Freundschaft kann keine Rede sein, zu schüchtern und unbekannt ist Kafka zu Lebzeiten, zudem ge-hört er der Wiener Literaturszene der Sezession (u. a. Schnitzler) an kommt es nicht. In seiner Zeitschrift „Die Fackel“ erwähnt Kraus Kafka kein einziges Mal, obwohl er sein Werk zweifellos zur Kenntnis nimmt und ihn in einem Brief ausdrücklich als Dichter bezeichnet, was einer Auszeichnung gleichkommt. Kraus hat wie Brod zudem ein untrügliches Gespür für außer-gewöhnliche Begabungen. Kafkas einziger Versuch der Kontaktaufnahme bleibt ohne Erfolg, aufgrund der Feindschaft der beiden führenden Schriftsteller untereinander.

      November 1917 hält Karl Kraus in Wien eine Gedenkrede für den befreundeten Lyriker Franz Janowitz, der an der italienischen Front gefallen ist und mit dem auch Kafka lose bekannt ist. Max Brod verlegt in Arkadia sechzehn Gedichte des noch völlig unbekannten Janowitz, der posthum zum Mitglied des Prager Kreises aufsteigt. Kraus und Brod halten sich beide für die Entdecker des Toten und geraten aneinander. Kafka verfasst auf Drängen Brods einen diplomatischen Brief an Hans Janowitz, den Bruder des Toten und Bekannten von Kraus und bittet diesen um Weiterleitung seines Briefes zu Händen von Karl Kraus. Nach Monaten erreicht Kafka die Antwort mit der Mitteilung, Kraus würde keinesfalls eine Erklärung Brods entgegennehmen und insofern auch keinen Brief von Kafka. Die Loyalität zu seinem Freund nötigt Kafka zur Distanz gegenüber.

      Etwas näher steht er dann Egon Kisch, den er August 1913 kennenlernt und auf dessen Frage nach seinem Interesse er nach Überlieferung Stachs antwortet: „Ich habe kein literarisches Interesse, sondern bestehe aus Literatur.“

      1 I. 7. Die Rolle des Judentums

      Die väterliche Familie entstammt ostjüdischem und tschechi-schem, die Mutter westjüdischem deutschem Judentum. Geborgen fühlt sich Kafka weder von der einen chassidischen noch der anderen, askanasischen