Franz Kafka. Bernd Oei. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Bernd Oei
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783753174839
Скачать книгу
Prag seiner Zeit herrschen verschiedene Formen des Antisemitismus vor, mitunter blicken die erfolgreichen Juden auf die orthodoxen herab, zudem spaltet der Zionismus die Gemüter. Selbstironie bis hin zur Selbstverleugnung erleben viele westjüdische Familien, deren ökonomischer und sozialer Status stark differenzieren. Erfolgreiche Kaufleute sind um Erhaltung von Prestige und Dynastien mehr besorgt als um den Glauben, der nur noch rituelle Form auf-weist. Von seinem Selbstverständnis gegenüber Zionisten, ist sich Kafka seiner Wurzeln bewusst, aber politisch oder religiös im engeren Sin ist er nicht, und lässt sich künstlerisch nicht einengen.

      Sein Vater verlangt von ihm nur den formalen Eindruck wie den regelmäßigen Besuch der Synagoge und der Mikwa. Langsam, doch kontinuierlich nähert er sich dem Hebräisch und den Inhalten der Kabbala an, als suche er darin eine Identität.

      „Bei Kafka ist kein kabbalistisches System zu erkennen, wohl aber eine Fülle von gemeinsamen Grundgedanken“.37 In dem Gleichnis vom Türhüter spielen Öffnung und Verschlossenheit die dominante Rolle, entweder als Ein- bzw. Ausgang in eine andere Welt wie in „Der Prozeß“ oder in „Das Schloss“, als Raum zwischen dem Realen und dem Irrealen („Die Verwand-lung“, „Amerika“) oder zwischen Freiheit und Zivilisation („Bericht an eine Akademie“). Manchmal werden Türen delokalisiert („Jäger Gracchus“, „Der Bau“), sie gehen aus dem Leim („Der Landarzt)“ oder tauchen an unvorhersehbaren Orten („Das Schloss“) auf.

      Verfahren und Untersuchungen herrschen nahezu überall vor, latent fürchtet jeder die Stunde des (jüngsten) Gerichts. „Man muß sich außerdem fürchten vor dem Gericht, das jeden Gang und jede Stunde über den Menschen angespannt ist“. So beginnt der Text des von Kafka bevorzugt gelesenen Rabbiners de Vidas aus dem 17. Jahrhundert aus dem Talmud. Jeden Tag und nicht nur am Ende des Lebens halten seelische außerweltliche Kräfte Gericht über den Menschen. Alles ist ein Zeichen. Daher kann ein Urteil, vermittelt über Gesandte (Gerichtsdiener) jederzeit beginnen, wie es in „Der Prozess“ geschieht. Es handelt sich um ein sakrales Welt-gericht, das nur pro Forma die Kleidung eines säkularisierten Landgerichtes trägt.

      Im jüdischen Glauben existieren himmlische Gerichte, die bereits in das Schicksal im Diesseits der Menschen eingreifen. Für die mythologisch-kosmisch orientierte Kabbala wesentlich ist der Grundgedanke an die Einheit allen Seins, vergleichbar dem hellenischen Pantheismus und Stoizismus. Die intelligible Welt wird untergliedert in mehrere Welten, zwischen denen Führer oder Fürsprecher (meist in Gestalt von Engeln) kommunizieren und Türhüter die jeweiligen Sphären bewachen, vergleichbar Dantes „Göttliche Komödie.“ Die Verbindung zwischen Diesseits und Jenseits ist transparenter und durchlässiger als im Christentum, die platonische Seelenwanderung Bestandteil der Kabbala. Die Himmelsreise führt durch mehrere Tore und fordert verschiedene Prüfungen.

      Dass Kafka sich gegenüber dem imaginären Gericht auf-grund seiner Entlobung, des Junggesellenstatus und der Nicht-eignung für die väterlichen Pläne leer, schuldig und unter Rechtfertigungszwang fühlt, ist mehrfach belegt. Gerade „Der „Prozess“ fällt mit seiner ersten intensiven Lektüre ostjüdischer Schriften zusammen. Der jüdische Philosoph Scholem weist in „Judica“ darauf hin, dass jedes Individuum sein eigenes Schicksal und daher seine eigene Thora besitze – ein mit dem noch älteren ägyptischen Totenbuch gemeinsamer Gedanke. Die Tür ist daher nicht nur Symbol des Übergangs von einer in die andere Welt und Chiffre des Wandels, sondern zugleich Aufforderung den eigenen Weg zu erkennen und ihm zu folgen. Unter dem religiösen Aspekt ist Kafkas Gleichnis eindeutig codiert.

      Das Kafka vertraute „lurianische Traktat“ betont die Seelen-reise und legt das Verhalten gegenüber den Türwächtern genau fest. Es verwundert daher kaum, dass bereits die ersten wissen-schaftlichen Interpreten (Heinz Politzer, Gerhard Kurz) sich hauptsächlich auf das Türstehergleichnis in Verbindung mit der Kabbala konzentrieren. „Das Thema vom Gang durch die Tore der Hallen des Gesetzes bildet ein wichtiges und zentrales Stück, beschreibt es doch das Ziel, auf welches das menschliche Da-sein ausgerichtet ist und die Instanzen, welche die Erlaubnis für diesen Gang in die Thora geben.“

      Kafkas Selbstkommentar „Mein Schreiben gleicht einer Form des Betens“ (1912) sollte dennoch nicht als religiöses Bekenntnis gedeutet werden. Interpretationen wie die Scholems, Bubers oder Brods, die Kafka zum Propheten oder theosophischen Weltdeuter stilisieren, sind ebenso eindimensional wie ein hermetisch biografischer oder existentialistischer An-satz. Doch strenge Gesetze und mystische Verwandlungen, irrationale Deutungen der Kabbala entsprechen Kafkas persönlichem Naturell und bestätigten ermutigen ihn, seinen Weg in dieser Richtung fortzusetzen. Seine Auseinandersetzung mit dem Chassidismus ist nicht mit Beeinflussung oder gar Übernahme aller Gedanken ins poetische Werk gleichzusetzen. Die Deutung seines Schicksals als eine persönliche Strafe oder Auf-forderung, an der Krisis zu wachen, ist Kafkas Naturell bereits angelegt. Den Blutsturz, verbunden mit der chronischen Lungenkrankheit - von ihm als „die Wunde“ bezeichnet - deutet er als Schicksalsbestimmung.

      Tür und Art des Durchgangs, Warten, Öffnen, Schließen von Pforten geben Aufschluss über den eigenen Willen und den Grad der Willensfreiheit. Der Freie ist dem Gebunden übergeordnet, gerade deshalb gehen die Welt des Profanen und die Welt des Sakralen in einander über: „Je tiefer man durch die Gerichtshierarchien hinabsteigt, desto ähnlicher werden sie der irdischen Welt, so dass die untersten Gerichte sich von der Welt überhaupt nicht mehr unterscheiden.“

      Die himmlischen Gerichte sind das Unbewusste oder das Übergeordnete Regulativ, das Es in der Psychoanalyse Freuds. Im Talmud gibt es eine Stelle, die lautet: Wenn der Mensch krank ist, schaut man in seine Prozessakten. Auch die Frage zwischen Schuld und Unschuld wird von den himmlischen, von Türen voneinander getrennten Sphären, unterschiedlich gewogen und beurteilt.

      Das zweite Beispiel für Kafkas Nähe zur Thora stiftet die Rolle der Frau und Eros. Unabhängig von seiner psychischen Disposition, mit der Ehe nicht fertig zu werden, seiner Scheu vor sexuellem Kontakt und dem Minderwertigkeitsgefühl gegenüber weiblicher Sinnlichkeit (die heimliche Lust), existiert auch im Talmud eine Warnung vor fleischlichen Begierden und besonders vor der Macht des Sexuellen. Kafkas Einträge, sowohl über Zoten und Promiskuität als auch, weit wichtiger, über biblische Stellen der Propheten, die Rolle des Mannes be-tonend (insbesondere das ein kinderloser Mann darin nichts gilt), sind chassidisch gefärbt. Kafka kommentiert in seinen Tagebüchern Träume: Kafka kommentiert in seinen Tagebüchern akribisch Träume: „Heute Mittag …lag auf mir der Oberkörper einer Frau aus Wachs. Ihr Gesicht war über dem meinen zurückgebogen, ihr linker Unterarm drückte meine Brust. Solches wäre von einem Kabbalisten gewiß als der Besuch von Lilith oder einer ihrer Unterdämoninnen gedeutet worden.“38

      1 I. 8. Gleichnischarakter von Tieren

      Kafkas Interesse an Fabeln ist allgemein verbürgt. Von den vielen Parabeln, in denen Tiere menschliche Verhaltensformen allegorisieren, hat nur „Schakale und Araber“ (1917) die Kafka ausdrücklich auf Wunsch für die von Martin Buber herausgegebene Zeitung „Der Jude“ anfertigt, einen politisch-jüdischen Hintergrund. Auf den ersten Blick erscheint die Parabel anti-semitisch, denn die Peitschen schwingenden arischen Herren sind Araber und die feigen, auf einen Propheten wartenden und ihrer Gier nach für sie abfallendem Fleisch unterworfenen Schakale sind deutlich mit Juden konnotiert. Sie halten sich dennoch nicht unbegründet ob ihrer Leidensfähigkeit für das auserwählte Volk und besitzen hündische Ehrfurcht vor der Rasse. So verweigern die hungrigen Schakale den Verzehr von Hammelfleisch. Schakale gelten auch als unrein und gierig;