Franz Kafka. Bernd Oei. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Bernd Oei
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783753174839
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die Selbstanklage.

      Das Thema der Schuld klammert die singulären Bereiche, denn offensichtlich sieht sich der Sohn sowohl mit Fremd- als auch Selbstvorwürfen konfrontiert. Das erste Sujet betrifft das Kräfteverhältnis. „Ich wäre glücklich gewesen, Dich als Freund, als Chef, als Onkel, als Großvater, ja selbst als Schwiegervater zu haben. Nur eben als Vater warst Du zu stark für mich … Deine äußerst wirkungsvollen, wenigstens mir gegenüber niemals versagenden rednerischen Mittel bei der Erziehung waren: Schimpfen, Drohen, Ironie, böses Lachen und – merkwürdiger Weise – Selbstbeklagung …“24

      Schuld ist ein großes Wort, größer noch als ein Grab es tragen kann. So sieht sich der Sohn täglich mit Fremd- als auch Selbstvorwürfen konfrontiert. Das erste Sujet betrifft das Kräfteverhältnis. „Ich wäre glücklich gewesen, Dich als Freund, als Chef, als Onkel, als Großvater, ja selbst als Schwiegervater zu haben. Nur eben als Vater warst Du zu stark für mich … Deine äußerst wirkungsvollen, wenigstens mir gegenüber niemals versagenden rednerischen Mittel bei der Erziehung waren: Schimpfen, Drohen, Ironie, böses Lachen und – merkwürdiger Weise – Selbstbeklagung …“

      Es ist wie ein Spaziergang kurz vor der „Hochzeit auf dem Lande“, einer Hochzeit, die nie stattfindet: um den Namen der Braut zu vergessen, muss man sie erst geheiratet haben. Offensichtlich hat der Vater seinem Sohn auch durch die Schilderung seiner Armut ein schlechtes Gewissen (erfolgreich) eingeredet. Der Zwang sich zu vergleichen spielt eine Rolle in ihrem Verhältnis. Dies gilt nicht nur für Gesetz und Autorität, sondern auch zu einem Wunsch; und vor allem bezieht es sich auf die Gegenüberstellung der väterlichen (Kafka) und der mütterlichen (Lewy) Linie. Die Ambivalenz und Suche nach Identität spiegelt sich in der Familienherkunft und charakterlichen Gegensätzen.

      Kafka betont seine Ängste und wie schwer es ihm fällt, sich von diesen als Erwachsener zu lösen. Als Beispiel führt er an, wie ihn der Vater, um seine Nachtruhe zu gewährleisten, in der Nacht auf den kalten Vorzimmerflur stellte, weil er als Kind so laut schrie. Blicke und Gesten verdeutlichen Ohnmacht; Blicke, die ihn als Kind vernichteten und selbst als Erwachsener schwer demütigen „oft mit beherrschendem Gefühl der Nichtigkeit“.

      Neben dem Komplex seiner Inferiorität und seiner Scham, dem väterlichen Wunschbild eines Sohnes nicht zu entsprechen, thematisiert Kafka das Recht zu strafen. Wenn der Vater das Gesetz verkörpert, dann spielt das Recht, es einzusehen, anzufechten oder zu umgehen, eine zentrale Rolle. Der Sohn schildert den Vater als gnadenlos in seinem Urteil und zudem, weit wichtiger, als undurchschaubar in seinen Begründungen.

      Hermann Kafka scheint keine politische, religiöse, nicht einmal eine private Meinung zu haben; alle sind ihm verdächtig und schuldig. Nichts schien ihm eindeutig zu ge- oder zu missfallen. „Das bezog sich auf Gedanken so gut wie auf Menschen … man war gegen dich vollständig wehrlos.“. Im Haus Kafkas herrscht das Recht des despotischen Patriarchen, dem alles erlaubt ist und dem Gehorsam zu leisten ist. Kafkas eigene Solidarität mit den vermeintlich Schwächeren leitet sich daraus ab. Problematisch ist jede Form der Kommunikation: „Ich konnte nicht auswählen. ich mußte alles nehmen. Und zwar, ohne et-was dagegen vorbringen zu können, denn es Dir von vornherein nicht möglich, ruhig über eine Sache zu sprechen…“

      Das Recht und die Rechtfertigung, frei entscheiden zu dürfen, bleiben ein Scheinrecht für den Sohn, der das Reden verlernt und mit ihm das fließende Sprechen. Alles im Hause ist nicht geborgen, sondern fremd, nicht vertraut, sondern erkämpft. Der Vater hat Macht, der Sohn ist sein „Erziehungsergebnis“ und betont: „Du verstärktest nur, was war, aber du verstärktest es so sehr, weil Du eben mir gegenüber sehr mächtig warst und alle Macht dazu verwendetest.“ Vielleicht erklärt dies den Titel von Kafkas: „Beschreibung eines Kampfes“: „Ich war bald erledigt; was übrig blieb, war Flucht, Verbitterung, Trauer, innerer Kampf.“

      Die Alternativen bilden Gehorsam und Auflehnung oder Flucht. „Man wurde ein mürrisches, unaufmerksames, ungehorsames Kind, immer auf eine Flucht, meist eine innere, bedacht.“ Eine Form der Flucht, sogar die wichtigste in Kafkas Augen neben dem Schreiben, ist die Ehe. „In Wirklichkeit wurden die Heiratsversuche der großartigste und hoffnungsreichste Versuch, Dir zu entgehen, entsprechend großartig war dann allerdings auch das Misslingen.“

      Die Ehe hat mindestens widersprüchliche Aspekte für Kafka: er bewundert sie als höchste Ehre, verbunden mit der Eigenständigkeit, auf den eigenen Füßen stehen zu können. In seinen Aphorismen, die zeitgleich mit dem Brief entstehen, schreibt er: „Das Glück begreifen, dass der Boden, auf dem Du stehst, nicht größer sein kann, als die zwei Füße ihn bedecken.“25

      Erst mit der Ehe ist das Terrain gegen das Väterliche abgesteckt. Da sie nicht erfolgt, fühlt sich Kafka minderwertig und isoliert. Der Bau der chinesischen Mauer erinnert an Gefangenschaft, Gefühl des Ausgeliefert-Seins und der Starre bis zur Versteinerung. Andererseits betrachtet Kafka die Ehe als einen Kampf gegen die eigene Schwäche, Entscheidungen zu treffen. Die Verantwortung für eine Frau soll ihn gleichsam erhöhen, ihn befreien aus dem alten Kleid kindlichen Verhaltens. Ferner beinhaltet Ehe die Anerkennung der Sexualität, mit der Kafka seine Probleme hat, wie das Verhältnis zu den Frauenbekanntschaften nahe legt. Aufgrund des väterlichen diametralen Sittenkodexes sind keine zweideutigen Liebschaften zulässig, folglich kann er nur im Ehestand seine Scham überwinden.

      Viertens bildet die durch Krankheit bedingte physische Schwäche für Kafka einen Makel, gleichzeitig befreit sie ihn von konkurrierenden Bedürfnissen. Erst als Ehemann fühlt Kafka sich dem Vater ebenbürtig. Ob dieser ihn als Ungeziefer beschimpft, was in „Die Verwandlung“ geschieht, bleibt spekulativ. Über den direkten Bezug der Formulierung „Tod durch Ertrinken“ in „Das Urteil“, das die Entlobung und eine Verfehlung des Sohnes zum Gegenstand haben, bestehen kaum Zweifel.

      Ausführlich schildert Kafka in seinem Brief, wie er als Sechzehnjähriger eine Bemerkung des Vaters so auffasst, dass Geschlechtsverkehr stets geheim wie unter einem Stigma erfolgen müsse. Als peinlich empfindet er die Weisung, ins Bordell zu gehen, notfalls mit dem Vater zusammen, damit er ihm mit einer unüberlegten Vermählung aus sexueller Not keine Schan-de mache. Den negativen Höhepunkt der Einmischung liefern sein Forcieren der Hochzeit mit Felice (auch ein Grund, die Verlobung zu lösen) und das anschließende Veto gegen Julie. Die ausdrücklich tiefste Demütigung er-fährt Kafka mit den sinngemäß wiedergegebenen Worten: „Sie hat wahrscheinlich irgendeine ausgesuchte Bluse angezogen, wie das Prager Jüdinnen verstehen und daraufhin hast Du Dich natürlich entschlossen sie zu heiraten. Und zwar möglichst rasch …“26

      Schuld ist das häufigste Wort und damit Leitmotiv Kafkas. Die Furcht, die Kinder zahlen den Vätern die eigene Schuld heim oder erben die Schuld der Väter ist auch für Kierkegaard, der wichtigsten Inspirationsquelle. Seine Lektüre bleibt zwischen 1916 und 1921 neben der von Kleist stets präsent. Es sind die Jahre, in denen er sich wie der Däne gegen die Ehe und gegen die Verpflichtung der Nachkommenschaft entscheidet. Kafka fühlt sich diesem Druck nie gewachsen. Wie Kierkegaard, der unter der Furcht eines Familienfluchs leidet, hält er sich für unzureichend, eine eigene Familie zu gründen.

      Sein bevorzugtes Goethes ist nicht zufällig „Hermann und Dorothea“, das vom Konflikt zwischen Vater und Sohn handelt, der, ausgelöst wird durch die Weigerung des Vaters, Hermann die Brautwahl zu überlassen. Der Sohn wird dazu verurteilt, über den Vater hinaus zu streben oder zu sterben, was geschieht.

      Um Abstand von seinem Vater zu gewinnen, geht er viel allein spazieren. Einige Seltsamkeiten Kafkas erklären sich aus seinem Ohnmachtsgefühl, etwa die Abneigung gegen Regen, weil er sich diesem mehr oder minder schutzlos ausgesetzt fühlt.

      In zahlreichen kurzen Erzählungen, meist Parabeln, be-schreibt Kafka zudem seine Flucht vor dem Vater unverschlüsselt. „Der plötzliche Spaziergang“ etwa besteht nur aus einem einzigen Satz, beginnend mit „Wenn man sich am Abend end-gültig entschlossen zu haben scheint“27 - ein Widerspruch in sich. Der Gedanke beschreibt wie häufig ein Dilemma, das auf eine Entscheidung drängt „… und wenn man nun trotz alledem in einem plötzlichen Unbehagen aufsteht …“

      Kafka beschreibt die „schon unerwartete Freiheit“ auf der Gasse als ein Bedürfnis nach schneller Veränderung,