Flüchtlingsdrama eines Drillings. Isa Louise Reichenbach. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Isa Louise Reichenbach
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783737586252
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die schwangere Frau bei sich aufgenommen und meinten, nun mitsprechen zu können. Der Name Sylvia war ihnen fast unbekannt und sie mochten ihn deshalb nicht. So bestanden sie darauf, dass ich auf den Namen Kristel getauft werden sollte. Da die Eltern einfach nur froh waren, dass sie den Krieg hinter sich hatten und freundlich aufgenommen worden waren, stimmten sie zu und nannten mich Kristel.

      Meine ersten drei Lebensjahre

      Der September ging ins Land. Die Eltern merkten, dass ich – trotz mickrig von Geburt – mein Leben durchsetzte, fröhlich krähte und nicht verstarb wie die Zwillingsschwestern. So fingen meine Eltern an, das Leben in dieser neuen Umgebung zu genießen.

      Herbst und Winter waren sehr angenehm, sodass Mutter in dieser schönen Umgebung, meiner Heimat, viel mit mir spazierengehen konnte. Lebensmittel gab es auf Bezugsscheine, sodass ich auch versorgt werden konnte. Nicht gerade üppig, aber ausreichend.

      Ich war ein pflegeleichtes Baby. Nehmen, Wickeln, Füttern, Schlafen und das in ständiger Wiederholung. Ein lustvolles Saugen an der Mutterbrust war nicht möglich, weil diese Brust keine Milch abgab, sodass ein Saugen am künstlichen Nuckel das Bedürfnis stillen sollte. Aber ich bekam einen schönen großen Gumminuckel, an dem ich solange lustvoll saugen konnte, bis dieser in eine Brotkruste verwandelt wurde – ganz hart zum Beißen.

      Meine Oma und Tante, die vor dem Krieg in Stettin gelebt hatten, waren in den kleinen Ort Beesten geflüchtet. Beesten liegt etwa 150 km von Werste entfernt. Die beiden Frauen waren von dem Bauern sehr unfreundlich empfangen und behandelt worden. Sie mussten dort auf einem Bauernhof die niedrigsten Arbeiten verrichten, um ihr Brot zu verdienen. Das war eine harte Zeit für sie, sodass sie als Abwechslung einige Male nach Bad Oeynhausen zu Besuch kamen, um mich, die neue Erdenbürgerin, zu begrüßen und ab und an zu besuchen.

      Nachdem der April 1946 seine Pforten geschlossen hatte und der Mai sich zeigte, kam die andere Oma aus der Heimat zu uns in den Fürstenwinkel. Oma Meta, die Mutter meines Vaters, hatte bis zuletzt in ihrem Haus und Gasthaus in Albendorf in Schlesien gewohnt. Dann war sie von den Polen ausgewiesen worden. Durch die Feldpost war ihr bekannt gewesen, dass ihre Schwiegertochter, meine Mutter, nach Werste gefahren war. So brauchte die Oma wenigstens nicht nach ihren Kindern zu suchen oder ins Unbekannte zu reisen.

      Oma Meta, Köchin von Beruf, übernahm von nun an bei ihren Kindern die häusliche Führung. Mutter und Kinder redeten sich gegenseitig in alles hinein. Ich hatte ein ziemlich ruheloses Dasein mit allerlei verschiedenen Geräuschen um mich herum.

      Inmitten der lauten Gespräche lief auch das Radio. Wenn jemand davon etwas mitbekommen wollte, rief er:

      „Ruhe! Ich kann nichts verstehen!“ – leider oft erfolglos!

      Hinzu kam das Klappern und Klirren von Töpfen und Geschirr in der kleinen Küche. Es verbreiteten sich mächtige Küchengerüche in den beiden Zimmern. Oft wirkten die Düfte verzaubernd, denn Oma nahm so allerlei Kräuter zum Würzen. Das allein schon verbreitete Appetit. Besonders gern benutzte sie Dill, Petersilie und Borretsch. Regelmäßig gab es Sauerkraut. Später sammelten wir Pflanzen, die getrocknet wurden, um als Tee Verwendung zu finden.

      Kurz: Meine Babytage wurden nie langweilig, sie waren ruhelos!

      Alles spielte sich in dem lang gezogenen Raum ab. Außer Schrank, Tisch und Stühlen stand dort auch mein Kinderbett. So kam meine neugierige Natur voll auf ihre Kosten. Ich hatte deshalb auch keine Lust zum Schlafen oder Ruhen, denn ich wollte nichts verpassen. Also krähte und juchzte ich immer mit – ich reagierte auf diese Umgebung.

      Der Krieg hatte in den Gefühlen der Menschen seine Spuren hinterlassen. Schlichte menschliche, einfache Gefühle waren einfach nicht vorhanden nach einem Krieg mit all den dramatischen Erlebnissen. Da es die gesamte Bevölkerung betraf und alle Aufbau betreiben mussten, ahnte niemand, dass da vieles fehlte. Auch meine Mutter hatte ihre psychischen Defizite davongetragen. So war sie viel über mein Verhalten, das Verhalten eines Kindes enttäuscht. Einerseits wurde sie sehr nachgiebig, andererseits latent wütend auf alles Mögliche und Unmögliche. Sie kontrollierte grundsätzlich alles und ordnete peinlich genau alles an. Es war ein Leben in rigiden Beschränkungen, die sich nicht nur auf das Äußerliche bezogen, sondern besonders auf die Lebensnotwendigkeiten wie Essen, Trinken, Schlafen, Waschen und Ausscheiden. Und trotzdem hielt sie die Beziehung zu mir fest umschlungen. Eine natürliche Beweglichkeit durfte ich nicht entwickeln. Ich wurde bedrückt darüber. Da es niemand interessierte, versuchte ich das, was ich so erlebte, alles mit Freude zu sehen. Die Natur, die mir an meinem Ursprung mitgegeben wurde, war fröhlich und sehr lebensbejahend.

      Nichtsdestotrotz waren die Beziehungen untereinander unklar. Meine kindliche Sehnsucht nach Wärme und Geborgenheit fand kein Echo. Eine innere, emotionale Verunsicherung folgte, wie sich in dem späteren Scheitern zeigte. Mir gelang keine rechte Beziehung. Ich fühlte mich allein, ja isoliert. Die Ruhe für das Kleinkind war nicht gegeben.

      Die Familie erwartete von mir alles. Ich musste zuhören, wenn die Kriegserlebnisse, die nicht gerade schön waren, wieder und wieder ausgebreitet und erzählt wurden. Dass es kaum eigene Kleidung gab, sondern abgetragene Sachen, für die man sich überschwänglich bedanken musste, gehörte in diese Zeit. Natürlich gab es in den ersten Kinderjahren keine Schokolade oder Süßigkeiten. Das war natürlich gut für die Figur. Wir waren alle dünn. Aus mir, dem kleinen Mädchen, strahlte jedoch Lebensfreude. So gelang es, die familiären Erwartungen zu erfüllen. Die Menschen waren immer in Bewegung, sie leisteten immer etwas. Das Reden war ein Fluss im Wechsel mit Tisch decken, essen, lachen und wieder kochen. So war alles voller Leben. Das waren die ersten Nachkriegsjahre. Alles auf engem Raum.

      Die vorherigen Lebensgewohnheiten mussten verändert werden. Durch all die gravierenden Veränderungen, die zu rasch vor sich gingen, erlebten die Menschen große Widerstände. Diese wirkten sich wiederum auf das Zusammenleben stark aus. Als Kind passte ich nicht so recht in diese Umbruchzeiten. Ich hätte ruhigere Bedingungen gebraucht, um mich schadloser entwickeln zu können. Die Folgen des Krieges waren Einschränkungen in alle Richtungen. Alles war geheimnisvoll und verschwiegen, irgendwie eine unwirkliche Wirklichkeit. Eine nicht zu beschreibende Stimmung hing wie Wolken über dem gesamten Dasein.

      Meine Erziehung wurde irgendwie von allen übernommen. Ich war sehr lebendig. Damit ich nicht aus dem Bett fiel, wurde ich festgebunden. Nachts konnte ich dann schlafen. So wuchs ich heran zu einem sehr lebhaften, aber strahlenden Kind.

      Doktor Antze

      Der Raum bei Frau Poppensieker hatte keinen Flur, keine Küche, kein Badezimmer oder keine Abstellkammer, sodass im Hausflur Regale aufgestellt worden waren, in denen die benötigten Lebensmittel gelagert wurden.

      Auf der anderen Seite des Flures wohnte in einem Zimmer das Zahnarztehepaar Doktor Antze. Das Ehepaar hatte sein Haus in Bad Oeynhausen für die Besatzungsmacht räumen müssen und auch sie bewohnten nun hier im Fürstenwinkel ein Zimmer.

      Dieser Doktor Antze gehörte zu einer ganz besonderen Art von Menschen: Zahnarzt Antze war Nudist.

      Man weiß, dass es heute Klubs von Nudisten in aller Welt gibt. Nudisten sind Menschen, die sich gern aller Kleidung entledigen und mit ihrem nackten Körper frei herumlaufen. Ob es daran liegt, dass ihnen die Kleidung zu schwer ist oder sie keinen guten Geschmack haben, ob sie vielleicht zu reinlich sein wollen und Kleidung für zu schmutzig ansehen – das wird wohl unklar bleiben.

      Ich muss hier unbedingt anmerken, dass Doktor Antze ein sehr, sehr reinlicher Mann war. Er hatte die ungewöhnliche Angewohnheit, unter anderem sein Fahrrad mit einer Pinzette und Watte darauf zu putzen. Das war mühsame Kleinarbeit. Wahrscheinlich ist das von seiner Arbeit als Zahnarzt auf die Freizeit abgefärbt und er konnte diese ohne Watte und Pinzette gar nicht genießen. Seine Nacktheit, die hinzukam, kann auch an einem Freiheitsbedürfnis besonderer Art liegen – oder woran auch immer die gesellschaftliche Anpassungsfähigkeit der Nudisten leiden mag.

      Dieser Herr Doktor Antze nun lief einfach nackt herum in seinem Zimmer und auf dem Flur, auf dem sich die Menschen begegneten. Ja, auch am Regal mit den Lebensmitteln vorbei. Meinen