Flüchtlingsdrama eines Drillings. Isa Louise Reichenbach. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Isa Louise Reichenbach
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783737586252
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Ortes Werste ein. Sie atmete beständig diese fremde Luft ein. Das bedeutete ihr Leben. Alle gingen sehr freundlich mit ihr um. Dennoch war sie von dem, was sie durchleben musste, sehr verängstigt, verletzt, entwürdigt. Sie verschloss sich. Die Bilder der Vergangenheit waren nicht greifbar. Es war nichts da, was ihr vertraut war, woran sie selbst festhalten konnte. Diese fremde neue Welt war nicht ihre Welt. Heimat war etwas, wo sie sich ehemals sicher und geborgen gefühlt hatte. In dieser fremden neuen Welt kam sie sich wie ein Eindringling vor. Grundsätzlich war es so. Die Fremden waren von drüben gekommen. Niemand kannte das Drüben. So konnten in dem unverdauten Durcheinander keine wärmenden Gefühle entstehen. Claire blieb reserviert, kühl und zurückhaltend. In innerer Abwehr vor dem, was noch Schlimmes passieren kann, lebte sie fortan. Das änderte sich auch durch die Geburt ihrer dritten Tochter nicht.

      So trafen verschiedene Frauen aufeinander, die angespannt einander fast belauerten. Die heimischen Frauen waren an bestimmte Rhythmen gewöhnt, die sie beibehalten konnten. Sie hatten Haus und Hof behalten und lebten mit ihren Kindern und ihren Familien in einem solchen Rahmen, der immer Bestand gehabt hatte.

      Sie mussten diese fremde Frau bei sich aufnehmen, die ankam von ... ja woher denn überhaupt? Sie war auch noch schwanger, stammte aus dem Nichts der Trümmer, ohne Hab und Gut und überhaupt irgendetwas! Erstaunlich, dass sie die deutsche Sprache perfekt beherrschte. Die Menschen vermuteten die Flüchtlinge, die schweres hinter sich hatten, aus fernen, unbekannten Landen, ohne technischen Fortschritt, nicht aber aus dem heimatlichen Deutschland.

      Es war April 1945 und Osterzeit. Am Mittag des Karfreitags heulten die Sirenen. Bedrohlich und drückend wurde die Luft.

      Da es in Bad Oeynhausen auch ein großes Munitionslager, Die Weserhütte, gab, war dies natürlich ein bevorzugtes Ziel der Tiefflieger, die Bomben abwarfen.

      Alles wurde in dunklen Nebel verhüllt. Der furchtbare Lärm lähmte die angsterfüllten Menschen. Die werdende Mutter und die Familien, bei denen sie wohnte, besaßen keinen Bunker. Also mussten sie – lange stumm sitzend – im Haus verharren, bis der Angriff vorüber war. Sie brauchten eine Weile, bis sie wieder an ihr Tagwerk gehen konnten, denn der Schrecken saß tief.

      Die Zeit, die dann kam, veränderte Bad Oeynhausen und das Leben der Bewohner. Der Ort wurde besetzt. Erst zogen die Amerikaner ein, danach kamen die Engländer hinzu. Die Menschen mit den fremden Sprachen zogen überall um den kleinen Ort und die umliegenden Dörfer dicke runde Rollen Stacheldraht. Da konnte niemand, der an den Stacheldraht kam, mehr weitergehen. In jenen Tagen hieß es:

      „Die Amerikaner kommen. Sie besehen sich die Häuser, um zu sehen, wo sie etwas besetzen können, um dort zu wohnen.“

      Die Bewohner der betroffenen Häuser wurden ausgewiesen und mussten dann irgendwo anders unterkommen. Die Menschen waren niedergeschlagen aufgrund dieser Maßnahmen. Sie zogen gewöhnlich zu anderen Familienangehörigen, die noch Platz im Haus hatten.

      Als in das Haus von Familie Halstenbach die Amerikaner kamen zur Besichtigung, blieben alle in einem Raum versammelt: Familie Halstenbach, Familie Ebmann, die Oma und Frau Blase mit ihren drei Kindern, die auch dort untergekommen war, sowie die schwangere Claire. Das Haus, in dem sie alle wohnten, war etwas renoviert und umgebaut worden. Dadurch lag vor dem Haus ein hoher Schuttberg. Die Amerikaner dachten möglicherweise, dass da etwas zertrümmert worden war und der Schutt daher stammte. Sie gingen an dem Haus vorbei, sodass Claire dort zunächst weiterhin wohnen konnte. Sie hatte sich recht gut eingelebt und genoss die Ruhe und den Alltag.

      Zu jener Zeit waren Hebammen für die Geburt des Babys zu Hause zuständig. Da die Tochter der Halstenbachs erst ein Jahr alt war, konnten sie der werdenden Mutter eine Hebamme empfehlen. Die Hebamme hieß Frau Burre. Sie war so, wie man sich eine Hebamme vorstellte: liebevoll, gemütlich, gut aufgelegt, verschmitzt und dicklich. Sie sprach der Ernährung anscheinend gut zu. Frau Halstenbach brachte die beiden Frauen zusammen, die sich auf Anhieb mochten. Das war eine gute Voraussetzung für eine positiv verlaufende Geburt.

      Die Männer kamen erst im Juni 1945 aus dem Krieg zurück, Anfang Juni zuerst Herr Ebmann und am 12. Juni endlich Claires Mann Edwin. Er war in französischer Gefangenschaft gewesen. Die Freude aller war riesengroß über das gesunde Wiedersehen. Da Edwin vor dem Krieg schon bei der Filmgesellschaft Ufa gearbeitet und im Krieg an bestimmten Orten als Conférencier gearbeitet hatte, bekam er sofort in dem 15 Kilometer entfernten Ort Vlotho wieder eine Anstellung bei der Ufa.

      Die Wohnung bei Halstenbachs war nun zu klein für das Ehepaar. Es wurde eilig eine Wohnung gesucht, leider gab es zu dieser Zeit keine, da Bad Oeynhausen besetzt war. Die Oeynhauser Bürger waren schon überall ausquartiert worden und mit anderen Familien zusammengezogen. Die Familien, bei denen meine Eltern untergekommen waren, nahmen Kontakt zu ihren Verwandten auf, um das Wohnungsproblem meiner Eltern zu lösen. So fand sich eine in der Nähe wohnende Tante, eine alte Dame mit dem Namen Poppensieker, die einen Raum für die zukünftige kleine Familie freimachen konnte. Sie wohnte in einer netten Gegend mit kleinen Häusern und sehr gepflegten Vorgärten in der Straße mit dem Namen Fürstenwinkel. Das große Zimmer, das meine Eltern beziehen durften, lag im ersten Obergeschoss und war über eine schon durchgetretene Holztreppe zu erreichen. Der dunkelrote Anstrich der Stufen war abgetreten und das weiße Geländer abgegriffen. Trotzdem waren sie sehr froh, dort untergekommen zu sein.

      Edwin und Claire bekamen die rechte Seite. Der Raum, in den man hineinkam, glich einem langen Schlauch. Wenn jemand an einer Seite einen Laut von sich gab, kam vom anderen Ende das Echo. Der Raum war nicht unterteilt, sondern zwei Meter und fünfzig Centimeter breit und sechs Meter lang. Die Möbel konnte das junge Ehepaar auf Bezugsscheine kaufen. Sie erwarben einen schönen Kleiderschrank, eine Schlafcouch zum Ausziehen, einen Tisch, Stühle und zwei Sessel. Das sah recht wohnlich aus. Ein Herd stand auf der Seite neben der Türe, die zum Flur hinausführte. Das Kinderbett stand auf der anderen Seite.

      Der August 1945 ging ins Land, aber ich war zum errechneten Termin noch nicht geboren. Ich wollte wohl noch nicht raus aus dem schützenden und warmen Mutterleib, so ließ ich noch eine Weile auf mich warten.

      Meine Geburt

      Am 1. September des Jahres 1945 war es dann endlich soweit: Die Wehen hatten eingesetzt.

      Frau Burre, die Hebamme, hatte die ganze Zeit warmes Wasser auf dem Ofen gewärmt und den Mutterbauch mit dem schönen warmen Wasser übergossen. Sie wollte mir wohl die neue Welt schmackhaft machen. Sie sollte nicht so erschütternd sein wie der vergangene Krieg. Frau Burre hatte begriffen, worum es bei Menschen geht: Wärme und angenehmes Streicheln. Wahrscheinlich löste sie damit bereits damals schon meine Liebe zum Saunieren und dem Baden im warmen Wasser aus.

      Ich wurde am frühen Morgen, um 9:10 Uhr, in die neue Umgebung geschubst. Verschmiert und schreiend begrüßte ich diese Welt und brachte mich gleich voll ein. Munter blickte ich in das Geschehen, Lebendigkeit und Neugier pulsierte in meinen Adern. So kam ich als drittes Kind – wie ein Drilling – auf diese Erde.

      Die junge Mutter staunte, dass ich nur ein Mädchen war. Noch dazu viel kleiner und zierlicher, als ihre vorher geborenen zwei Mädchen. Sie erwartete anscheinend wieder den Satz der Hebamme: Da kommt ja noch eins! Aber es kam kein zweites Kind. Ich war allein in diese Welt geboren worden.

      Mutter war froh, alles gut überstanden zu haben.

      Ich war jedoch von einer Mutter geboren worden, die den Geruch des Todes noch um sich hatte. Sie dachte sich, dass ihr dieses neue Kind alles Leid, alle ihre Verluste nehmen könnte, doch sie konnte das neue Leben nicht spüren, nicht wirklich wahrnehmen, so sehr war sie in ihrer abstrakten Vorstellungswelt gefangen.

      Vater Edwin kam sofort von seiner Arbeitsstätte bei der Ufa-Filmgesellschaft in Vlotho, 15 Kilometer entfernt, mit dem Fahrrad herbeigefahren. Er stellte hocherfreut fest, dass der neue Erdenbürger gesund krähte und fröhlich ausschaute.

      Mit dem Geschenk neuen Lebens beflügelt, kam Edwins Hoffnung, den Krieg zu vergessen. Er wollte das Kind erziehen, dass es – falls irgendwann wieder ein Krieg kommt – dieses Leben bestehen kann.

      Meine Eltern hatten zuerst den Namen