Flüchtlingsdrama eines Drillings. Isa Louise Reichenbach. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Isa Louise Reichenbach
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783737586252
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neue Hausstände. Keiner hatte Zeit, die schlimmen Erlebnisse der Kriegszeiten zu verarbeiten. So wurde gearbeitet und geschwiegen.

      In diese Zeit wurde ich hineingeboren: ein mageres und mickrig-kleines Mädchen mit geringem Gewicht – eben den Umständen angepasst. Die Zeit war darauf angelegt, sich von wenigem zu ernähren und zurückhaltend zu sein. Es gab nicht alle Lebensmittel und vieles nur auf Verbrauchsmarken.

      Wie meine Eltern sich kennenlernten

      Meine Mutter Claire stammte aus einer pommerschen Großstadt. Sie war klein und zierlich mit dunklen Haaren und schwarzen, lebendigen Augen. Die von den durchlebten Ereignissen verängstigte und unsichere junge Frau erwartete mich, das Kind, das in ihr heranwuchs, voller Freude und Erschrecken. Lähmende Gefühle waren durch die Verluste entstanden, aber auch Zwiespalt, denn nichts war mehr wie vorher.

      Ihr Vater war bei der Deutschen Bundesbahn als Wagenmeister tätig und konnte die Familie gut versorgen. Er hatte mit seiner Frau schon ein kleines Haus am Rande der Großstadt Stettin. Im Kreise einer frohen Familie wuchs meine Mutter mit ihren beiden Schwestern – einer älteren und einer jüngeren und alle bildhübsch mit schwarzen Augen und Haaren – heran. Der Opa und die Mutter waren Schneidermeister. Sie hatten viele gute Kunden in Stettin und erfreuten sich großer Beliebtheit. Auch die Familie wurde stets mit stilvoller und moderner Kleidung versorgt. Es mangelte an nichts.

      So konnten alle drei Mädchen unbesorgt zu jungen Frauen herangewachsen. Gern gingen sie in das bekannte Stadtcafé Ufa, in dem Tanzveranstaltungen stattfanden. Mutter und die älteste Schwester machten eine Ausbildung in Büros und die jüngste wurde Friseurin.

      In Stettin lernte Claire ihren späteren Mann kennen: Edwin, der dort als Soldat stationiert war. Die Soldaten amüsierten sich in der Freizeit und besuchten die Lokale, in denen sie junge Frauen trafen. Der junge Edwin war schon in seiner schlesischen Heimat in Vereinen, bei denen Schauspielstücke vorgetragen wurden, tätig. Es wurde viel musiziert und gesungen und er spielte manchmal Schifferklavier. Außerdem imitierte er als Conférencier alte, bekannte Schauspieler. Die Leute mochten ihn und vergnügten sich gern dort.

      Claire und Edwin verliebten sich und erlebten zueinander eine große Faszination und Lebendigkeit. Sie beschlossen zu heiraten.

      Inmitten einer unruhigen Kriegszeit, in der die Menschlichkeit in einem Chaos versank, richteten die Brauteltern der Braut für Claire 1942 ein wundervolles Hochzeitsfest in der Heimatstadt Stettin aus.

      Das hübsche Brautkleid und der Schleier mit einer langen Schleppe wurde vom Opa selbst geschneidert. Die Trauung fand in einer evangelischen Kirche statt und alle Familienangehörigen nahmen teil. Man war fröhlich und guter Dinge und hoffte, das Glück begleite die beiden Vermählten in allen Zeiten. Der Krieg war in den Momenten vergessen. Geschossen wurde woanders!

      An diesem Tag begegneten sich beide Familien zum ersten Mal: die Familie der Braut aus der Stadt und die Familie des Bräutigams vom Lande. An Gegensätzen kaum zu überbieten.

      Die eine stammte aus der ländlichen niederschlesischen Idylle mit kleinen Gebirgsketten sowie Bächen und Flüssen, in denen es Fische zum Angeln gab, die danach zu leckeren Gerichten verarbeitet wurden. Viel Obst hing an den Bäumen und genug Vieh stand in den Ställen. Das Leben spielte sich in der Natur ab. Die Kinder tollten am Bach neben dem Familienbesitz herum und in den stets schneereichen Wintern schnallten sie sich sogar selbst gebaute Skier unter die Füße und fuhren die Hänge hinab.

      Demgegenüber war Claire, die Braut, ein Kind der Großstadt in damaliger Zeit. Claire mit ihren beiden Schwestern bewegten sich als Stadtkinder in ihrer Umgebung und kannten weniger natürliche Freiheit. Sonntags spazierten die Eltern mit ihren Töchtern auf der wundervoll angelegten, sogenannten Hakenterrasse. Ihr Name stammte vom Bauherrn Hermann Haken. Die gesamte Anlage ist aus Sandsteinblöcken gemauert. Rechts und links der Treppenaufgänge befinden sich die als Lampenträger stilisierten Leuchttürme und oben zwei große Pavillons als Flankenbegrenzung. Unten steht eine Plattform mit der Springbrunnengrotte darunter. Der Spaziergang wurde immer von gemütlichem Kaffeetrinken unterbrochen. Von den Lokalitäten konnten die im Hafen liegenden oder auslaufenden Schiffe betrachtet werden, was den Kindern Spaß machte.

      Kriegszeit, familiäre Belastungen und Schwangerschaft

      Die Kriegsereignisse nahmen die parteilos gebliebenen Jungvermählten in ihre Dienste. Er wurde Soldat und sie Stabshelferin. Die jeweiligen Tätigkeiten sorgten für häufige räumliche Trennungen. Edwin war zunächst in Niederschlesien stationiert und Claire als Stabshelferin in verschiedenen Orten nahe Stettin tätig. Es war 1942 und für die Bevölkerung sah es aus, als wäre alles gut. Die Familie in Stettin war noch im Ort und Edwins Mutter konnte ihr Gasthaus in Schlesien weiterhin betreiben.

      Durch die Kriegsdienste konnte sich das junge Ehepaar jedoch immer nur kurzfristig treffen. 1943 wurde Claire schwanger. Sie war inzwischen nach Peenemünde versetzt worden – einem gemütlichen Städtchen an einer Ostseemündung im Oderhaff. Der Fluss Peene prägte diese traumhafte Naturlandschaft. So ahnte niemand der jungen Leute, was in der sogenannten Heeresversuchsanstalt Peenemünde eigentlich stattfand.

      Sie waren einberufen worden und verrichteten irgendwelche Tätigkeiten: die Frauen Schreibarbeiten und – eingeteilt in Gruppen – vielfältige Zugehdienste für die Soldaten. Es gab große Küchen für alle, in denen auch einige arbeiteten. Die jungen Frauen wohnten in verschiedenen Häusern, getrennt von den Wohnblöcken der Soldaten. Die Stabshelferinnen waren zum Teil in Holzbaracken im Wald untergebracht. Ein anderer Teil wohnte in einem Hochhaus an der Ostseemündung. Die Freizeit wurde mit Sport oder fröhlichen Veranstaltungen ausgefüllt. Niemand bekam mit, was wirklich dort vor sich ging, denn nur Eingeweihten war bekannt, wo das Kriegsmaterial hergestellt und gelagert wurde. Auch die Einheimischen bekamen nicht mit, dass dort Versuche stattfanden oder Waffen eingelagert wurden. So dachte niemand daran, dass Bomben ausgerechnet in Peenemünde abgeworfen werden, obwohl Küstenorte als beliebte Kriegsziele galten. Das hier oft hergestellte Kriegsmaterial konnte schnell und einfach auf Frachtschiffe verladen und über den Seeweg zu den Orten gebracht werden, an denen man sie benötigte.

      Passagierschiffe im Krieg hatten verschiedene Einsätze. So war beispielsweise die Wilhelm Gustloff ein großartiges Schiff mit vielen Annehmlichkeiten der damaligen Zeit. Das junge Ehepaar Claire und Edwin unternahm auf der Wilhelm Gustloff nach ihrer Hochzeit eine kleine Fahrt. Es gehörte zu ihren schönen Erinnerungen. Als die Gustloff durch einen Beschuss mit Tausenden Menschen an Bord versenkt wurde, trauerten die Eltern der Wilhelm Gustloff nach. Der Untergang war eine große Katastrophe.

      Es war der 17. August 1943 und gegen Mittag, als plötzlich die Sirenen heulten. Gellend, kreischend, lauter und immer unerträglicher werdend, erfüllte ein unbeschreiblicher Lärm die sonst so stille Luft in dieser herrlichen Landschaft. Die Tiefflieger kamen wie Pfeile angeschnellt, um ihre an Bord geladenen Bomben abzuwerfen. Quälende Gedanken, dass es hoffentlich bald vorbei ist. Minuten wurden zu Stunden. Erbarmungslos heulte und knallte es. Alle rannten umher, um Unterschlupf zu finden.

      Als das Hochhaus getroffen wurde, in dem viele junge Frauen wohnten, kamen zu dem Lärm des Fliegerangriffs noch die Schreie der Frauen dazu. Die mit Phosphor gefüllten Brandbomben ließen sich nicht löschen und daher warfen sich die schreienden Frauen ins Meer, um ihre feurigen Körper zu löschen. Sie kreischten und schrien, aber das Wasser half nichts. Sie fackelten wie lebendige Kerzen unter grausamen Schmerzen ab und verkohlten bei lebendigem Leibe.

      Auch die junge, schwangere Claire rannte – so schnell sie konnte – mit den anderen Frauen ins Wirtschaftsgebäude, welches bisher verschont geblieben war. Sie kauerte sich mit den anderen Frauen aneinander, schlotternd versuchten sie, einander Halt zu geben. Claire war am meisten mitgenommen. Ihre Freundinnen mussten sie eine ganze Weile festhalten, bis sich ihr Körper beruhigt hatte. Das Geschehen lief ab wie in einem Zeitraffer der Unendlichkeit, so beschrieb sie es später. Wie alle feststellten, hatte der Angriff nur kurz gedauert, denn es war immer noch um die Mittagszeit.

      Zurück ließ er den Himmel – neblig, grau und verhangen – einen