Flüchtlingsdrama eines Drillings. Isa Louise Reichenbach. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Isa Louise Reichenbach
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783737586252
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Diese schleppte sich elend und schlapp dahin und konnte vor Schwäche kaum das Bett verlassen. Die Oma kochte für ihre beiden süßen Enkelmädchen Tee und flößte ihnen diesen schlückchweise ein. Das sollte den Durchfall und das Erbrechen lindern, jedoch half er nicht, die Infektion einzudämmen. Die Kinder hatten gleichzeitig Hunger und Schmerzen und erbrachen sich. Sie schrien markerschütternd. Die Oma, die bis zu diesem Krieg schon ein schwieriges eigenes Leben gehabt und jahrelang ihre eigene, schwer erkrankte Mutter versorgt hatte, erlebte erschüttert ihre Ohnmacht, denn sie konnte ihrer Tochter und den leidenden Babys nicht helfen. Fassungslos stellten alle fest, dass keine Überlebensmöglichkeit besteht.

      Der Vater, Edwin, wollte mit seinen kranken Babys gern in die größere Stadt Breslau fahren, um zu einem helfenden Arzt zu gehen, und fragte seinen Kompaniechef. Der lehnte jedoch mit dem Argument ab, dass es Fahnenflucht sei, wenn sich ein Soldat ein paar Kilometer von der Einheit entfernt. Und für Fahnenflucht gab es schwere Strafen bis hin zu Tod durch Erschießen. Vor dieser Strafe hatte Edwin wiederum Angst, weil er es bei Kameraden schon erlebt hatte – also gab es kein Entrinnen.

      Oma Elsa war eine sehr gläubige evangelische Frau mit großer Liebe zu Gott, also taufte sie selbst die beiden todgeweihten Kinder auf ihre Namen Barbara und Sieglinde. Sie verzweifelte schier an den Umständen, hielt sich jedoch tapfer aufrecht, um das Nötige zu tun. Sie trug zusammen mit Edwin die sterbenden Kinder auf den Armen. Die Kindsmutter kämpfte um ihr eigenes Leben, sodass sie nichts tun konnte. Nicht nur die äußere Kälte ließ frieren, sondern auch die innere Kälte. Die Herzen erstarrten bei diesem Anblick von Leiden, Elend und Ohnmacht. Sie erlebten, wie zwei Kinder verhungerten. Es gab nichts Tröstendes, nichts, woran man Hoffnung festmachen konnte – Lähmung hatte sich unter diesen wenigen Menschen ausgebreitet.

      Der Tod nahm zuerst das zweitgeborene Baby, Sieglinde. Sie lag im Arm des Vaters, als ihr Herz aufhörte zu schlagen.

      Erschütterung in den Herzen. Stille und Fassungslosigkeit.

      Ein kleiner weißer Sarg wurde bestellt, in den das Baby hineingelegt und zugedeckt wurde. Die Mutter der Kinder, immer noch vom Fieber geschüttelt, konnte gar nicht das Bett verlassen, um zur Beerdigung zu gehen. Der Pastor versuchte in seiner Trauerrede, die göttliche Vorsehung aufzuzeigen. Danach wurde der Sarg unter einem Baum in Zobten am Berge in die Erde versenkt.

      Niemand konnte jedoch die Decke, die sich über die Erstarrten gelegt hatte, abnehmen. Es gab in jenen Kriegszeiten keine Gespräche, keine Nähe oder Zärtlichkeit, sondern nur Aufregung und Unruhe und den Kampf ums eigene Überleben, dem niemand entrinnen konnte.

      Einige Tage später schloss auch das erstgeborene Mädchen, Barbara, für immer die Augen, um der Schwester zu folgen. Sie starb in Omas Armen und wurde auch in einen kleinen weißen Sarg gelegt. Als sie zu Grabe getragen wurde, schleppte sich die Mutter mit zum Friedhof. Sie wollte die Stelle sehen, an der ihre Kinder in die kalte Erde gelegt wurden. Zu ihrer eigenen Erkrankung kam die Erschütterung über das Erlebte. Das Geschehen war für sie unerträglich und es dauerte einige Zeit, bis ihr Körper die Kraft zur Gesundung fand und sie wieder in den Dienst treten konnte.

      Erneute Schwangerschaft und Kriegsende

      Man versetzte Claire, die eine gelernte Bürokauffrau war, in das Büro eines Kinderheims. Das Kinderheim war in Zobten und schnell für sie zu erreichen. Doch diesen Dienst versah sie nicht allzu lange, denn im Januar 1945 wurde das Kinderheim von Zobten nach Bad Kudowa verlegt. In diesem dauernden Wechsel bekam die junge Frau Heimweh und das unbändige

      Verlangen, zu ihrer Mutter und den Schwestern nach Stettin zu fahren. Sie wollte nur noch nach Hause.

      Claire, die den Geruch des Todes noch um sich hatte, war erneut schwanger. Sie war schwanger mit mir, die diese Zeilen schreibt. Überwältigt von Heimweg und den Geschehnissen, setzte sie sich in den Zug in Richtung Stettin, ihrem schönen Zuhause. Sie kam aber nur noch bis Berlin, denn weiter fuhren keine Züge mehr.

      Da stand sie nun allein, ohne alles, und fragte sich, was nun wohl werden solle? Sie hatte Angst, Angst vor der Zukunft, sie kannte niemanden, auch keinen Arzt, und wusste nicht wohin mit sich und dem Kind in ihrem Bauch. Bedrückende Gedanken durchzogen sie, auch dass ihr das heranwachsende Kind wieder genommen werden könnte. Viel Zeit zum Denken blieb ihr allerdings nicht. Es musste vorangehen. Die Angst wurde abgehakt und ein neues Ziel gesucht.

      Aus ihrer Verzweiflung heraus fuhr sie nach Köthen, wo ihr Mann stationiert war. Das Lager Köthen war gerade im Begriff, aufgelöst und nach Österreich verlegt zu werden. Etliche Soldaten waren schon umgesiedelt und hatten ihre Frauen mitnehmen dürfen. Als Claire ihrem Mann die Lage schilderte, fragte er den Lagerkommandanten, ob er seine Frau auch mitnehmen könne. Das wurde ihm jedoch verneint, denn eine schwangere Frau war nicht schnell und problemlos transportfähig.

      Was sollte nun geschehen? Diese Zeit war geprägt von Angst und Panik ums nackte Überleben.

      Nun schaltete sich ein Kamerad von Edwin – Hermann Ebmann – ein. Er sagte:

      „Fahr zu meiner Frau Martha nach Werste. Dort ist kein Krieg. Dort wirst du unterkommen können“.

      Da schon März 1945 war und das Kind im August geboren werden sollte, war die Zeit zum Zaudern und weiterem Suchen nach einer Bleibe ohnehin begrenzt. Während Claires Mann mit seinem Einsatzkommando nach Österreich abrückte, stieg die schwangere Frau in die Eisenbahn und fuhr in Richtung Minden. Nach Minden kam Bad Oeynhausen, wo Familie Ebmann wohnte. Als der Zug fünfzehn Kilometer vor Bad Oeynhausen angekommen war, ging es plötzlich nicht mehr weiter. Die Brücke über die Weser war gesprengt worden.

      Wieder stand diese schwangere Frau völlig verdutzt ganz allein vor der Tatsache, dass es nicht mehr weiterging. Da sie noch nie in dieser Gegend war, wusste sie nun gar nicht, in welche Richtung sie nach Bad Oeynhausen musste. Was nun?

      Da kam erneut etwas Unerwartetes zu Hilfe. Plötzlich riefen die Leute:

      „Ein Milchwagen kommt. Der fährt nach Bad Oeynhausen und nimmt einige Leute mit.“

      Da Claire schwanger war, durfte sie bis zum Bahnhof in Bad Oeynhausen mitfahren. Von dort aus konnte sie die Schwägerin von Frau Ebmann, Lisa Halstenbach, anrufen, die sie dann mit dem Fahrrad abholte.

      Nun lagen die Schrecken, heimatlos zu sein, endlich hinter dieser jungen Frau, die viel Schreckliches und Verluste erlebt hatte. Nun, in eine fremde Gegend gekommen, würde sie die Natur mit neuem Leben erfüllen.

      Das werdende Leben sollte das Licht der Welt im August erblicken. Ein Leben, das buchstäblich in und aus den Trümmern entstanden und dazu bestimmt war, ein neues und friedlicheres Zeitalter zu gestalten.

      Der Krieg war am 8. Mai 1945 zu Ende.

      Auch am Ende war die Hoffnung so vieler Menschen, die wie meine Eltern ihre Heimat hinter sich gelassen hatten, diese jemals wieder betreten zu dürfen. Daran, Hab und Gut wiederzubekommen, verschwendete niemand Gedanken. Verloren waren harmonische Träume, das schöne Leben, die Gemeinsamkeiten, der Austausch der Erlebnisse, die Fröhlichkeit des Plauderns, der Vergnügungen, ja, die familiäre Geborgenheit. Das waren verlorene Gefühle – erfroren und erstarrt. Sie waren einfach nicht mehr vorhanden. All das war mit einer dicken Mauer umringt. Eine Decke des Schweigens verhüllte die Vergangenheit.

      Gezeigt wurden ehemals Einsatz, Leistungsdenken, Handeln, Tun und Aufbauen. Gefühle, die vor dem Krieg erlebt und gelebt wurden, die menschliche Beziehungen geknüpft hatten, wurden mit jedem Bombenangriff in Angst verwandelt. Sie wichen mit dem Anblick des Sterbens und der dauernden Flucht aus den Menschen. Unsicherheit und Angst setzte sich tief und fest in die Menschen. Es gab keine Antworten auf die Frage Warum.

      Frau Halstenbach freute sich, dass sie der jungen Frau helfen konnte, und wies ihr einen kleinen Raum in ihrem Hause zu. Hermann, der Kriegskamerad von Edwin, und seine Frau Martha lebten direkt daneben. Aber sie hatten weniger Platz als Frau Halstenbach, die Schwägerin. Im Haus lebte noch die Oma Halstenbach.

      Diese Menschen, die der Krieg verschont gelassen hatte, standen der werdenden Mutter sehr freundlich gegenüber. Claire half im Haushalt, so wie