Wem gehört das Huhn?. Alexander Laszlo. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Alexander Laszlo
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783753192796
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schenken zu können. Ein Mensch, der das Gute in sich nie aus den Augen verloren hatte.

      Nach all dem Schlimmen, das uns widerfahren war, verhieß Santa Roca die Chance, zur Ruhe zu kommen, und die Möglichkeit, wenigstens damit zu beginnen zu verarbeiten, was uns widerfahren war. Wir hatten unser gesamtes Leben verloren, und es gab keine Chance, es zurückzubekommen. Denn was geschehen war, war geschehen. Das konnte niemand ändern. Ich hatte die Verantwortung für meine Familie, ich musste stark sein und schwor mir selbst, den Blick nur nach vorne zu richten. Ich musste Rosalie und den Mädchen der stärkste Rückhalt sein, der ich sein konnte. Am besten noch mehr als das. Wenn ich jetzt nicht die beste Version von mir sein würde, die ich sein konnte, dann würde ich es nie sein.

      Obwohl es in ganz kleinen Schritten wieder bergauf ging, gab es ein grundlegendes Problem. Solange nicht über unseren Asylantrag entschieden war, durften wir nicht arbeiten. Wir würden von unseren Ersparnissen leben müssen, denn wir waren zu wohlhabend für staatliche Unterstützung.

      Unser Fahrer sprach die ganze Fahrt über praktisch kein Wort mit uns. Auf der Rückbank des riesigen Kombis schliefen die Mädchen links und rechts an Rosalie gekuschelt, die sich ein Lächeln für mich abrang, als ich nach hinten blickte. Ich lächelte zurück, aber wir wussten beide, dass es sehr lange dauern würde, bis wir wieder richtig lachen konnten. Erschöpft lehnte ich meinen Kopf an das Fenster und ließ die Welt an mir vorbeiziehen. Eine Welt, von der ich im Moment so weit entfernt war, dass sie genauso gut auf einem weit entfernten Planeten hätte sein können.

      Mir kamen die Worte ins Gedächtnis, die William Brown mir vor dem Gehen noch mitgegeben hatte.

      „Ein wichtiger Ratschlag noch“, hatte er gesagt, als wir sein Büro schon verlassen hatten und er mir auf den Flur gefolgt war, „halten Sie sich an die Regeln. Nach allem, was ich aus Santa Roca höre, sind die Menschen dort warmherzig und offen, mit einer Ausnahme: Bezirksrichterin Ruth Buttworth. Sie wissen, dass Sie sich alle drei Monate bei ihr melden müssen, denn sie entscheidet über ihren Asylantrag. Aber denken Sie immer daran, pünktlich zu sein. Geben Sie Richterin Buttworth keinen Anlass für Kritik. Am besten sind sie immer ein paar Minuten früher da. Sie wollen nicht, dass Ihr Antrag abgelehnt wird, nur weil Sie fünf Minuten zu spät kommen.“

      „Wir werden pünktlich und höflich sein.“ Das waren die letzten Worte, die ich zu Brown sagte. Aber warum hatte ich sie gesagt? Für mich war es selbstverständlich, pünktlich und höflich zu sein.

      Der Weg nach Santa Roca war ein verheißungsvoller, und für einen kurzen, glücklichen Augenblick gelang es mir, alles auszublenden, was uns hierhergebracht hatte, und einfach im Moment der Gegenwart aufzugehen. Im warmen Licht der Abendsonne rollten wir langsam über die breite Straße durch eine kleine Stadt. Ich kurbelte das Fenster ein Stück herunter. Die Luft war schwül und roch nach süßen Blüten. Eine ganze Weile starrte ich gedankenversunken aus dem Seitenfenster, bis ich mir dessen bewusst wurde und meinen Blick wieder fokussierte. Gerade fuhren wir an einem Basketballplatz vorbei, der von einem hohen Zaun umgeben war. Im grellen Licht der Scheinwerfer spielten Jugendliche hitzig gegeneinander. Vor den großen Flutlichtern, die den Platz hell erleuchteten, hatten sich Schwärme von Insekten zu einem riesigen Ball geformt, der sich scheinbar chaotisch und doch präzise durch die Luft bewegte und jedem Ball auswich, den die Jugendlichen nach ihm warfen.

      Ich blickte auf die Rückbank. Rosalie lächelte mich an. Sie hatte mich die ganze Zeit über beobachtet. Neben ihr schliefen die Mädchen erschöpft. Sie waren noch so klein und verstanden nicht, was vor sich ging. Kein einziges Mal hatten sie gefragt, warum wir so weit weggefahren waren. Aber das würde nicht mehr lange so bleiben. Ich sah Rosalie tief in die Augen und spürte, dass sie dasselbe fühlte wie ich in diesem Moment – Hoffnung! Die Hoffnung, das Leben der Kinder zu einem guten zu machen, und irgendwann auch wieder unser eigenes. Wir würden es schaffen, diese Geschichte würde kein schlechtes Ende für uns nehmen. Wir würden eine glückliche Familie bleiben, auch wenn das hieß, dass wir in den USA ganz von vorne beginnen mussten. Das flüsterten wir uns in Gedanken zu, vorbei an der Angst vor einer ungewissen Zukunft.

      Behäbig rollten wir weiter die Straße entlang, dann einen Hügel hinauf, als am Horizont langsam Santa Roca in Sicht kam. Ein pfirsichfarbener Wolkenschleier hatte sich an die Stelle geschoben, an der eben noch tief und groß die Sonne hing. Ich war fest entschlossen, nach vorne zu schauen. Nicht nur die Straße hinunter auf Santa Roca, sondern in unsere Zukunft. Wir mussten neu starten, nachdem wir fast alles verloren hatten, aber ich spürte, dass es uns gelingen würde, Ana und Teresa ein gutes Leben zu ermöglichen.

      Wir passierten eben das Ortsschild, als das Wageninnere plötzlich von köstlichem Grillduft erfüllt wurde und mein Magen laut zu knurren begann. Im Hof eines Barbecue-Restaurants grillte ein großer Afroamerikaner auf einem riesigen Grill Steaks, die eine Kellnerin dann zu den Gästen nach drinnen trug. „Wir sind gleich da, noch fünf Minuten”, meldete sich plötzlich der Fahrer, der nicht gesprochen hatte, seit wir losgefahren waren. Wahrscheinlich hatte er uns einfach in Ruhe lassen wollen, er machte einen sanftmütigen Eindruck.

      Kurz darauf stiegen wir aus dem Auto und wurden von Pfarrer Brown und seiner Frau herzlich begrüßt. Pfarrer Brown war ein groß gewachsener Mann mit scharfen Gesichtszügen, einer markanten Nase, die unweigerlich an Julius Cäsar erinnerte, und gutmütigen, blauen Augen. Wie wir schon bald feststellten, war er von ruhiger Natur und nur schwer aus der Reserve zu locken. Was nicht hieß, dass er nicht auch sehr deutliche Worte finden konnte, wenn sie seinen Zwecken dienten, wie wir nach wenigen Wochen feststellten. Und so waren seine Predigten in der Kirche manchmal ebenso scharf wie der Haken seiner Nase. Seine Ehefrau Dorothy muss einmal eine sehr schöne Frau gewesen sein, immer wieder blitzte das durch, auch wenn ihr Äußeres nicht mehr dasselbe war. Gesicht und Körper waren aufgeschwemmt. Eine Nebenwirkung der Medikamente, die sie wegen einer schweren Hormonstörung bis an ihr Lebensende einnehmen musste, wie wir später erfuhren. Auch wenn sie von außen keine Schönheit mehr war, so strahlte ihr Herz so viel Liebe aus, dass ausnahmslos jeder, der mit ihr in Kontakt kam, sofort von ihrer Aura eingenommen wurde. Kevin und Dorothy Brown waren ein glückliches Paar, das sich so sehr über die späte Geburt seiner Tochter gefreut hatte, dass sie das Mädchen Donata tauften – die Geschenkte. Donata war ein bildhübsches, pausbäckiges Mädchen von zehn Jahren. Schon bald war sie wie eine große Schwester für unsere Mädchen.

      Unser neues Zuhause war eine achtzig Quadratmeter große Wohnung, die im Obergeschoss eines zweistöckigen Hauses lag, das der Kirchengemeinde gehörte und von einer schönen Gartenanlage umgeben war. Im Haus nebenan, nur einen Steinwurf entfernt, lebte Familie Brown. Nachdem Pfarrer Brown und seine Frau uns in die Wohnung geführt und mit dem Wichtigsten vertraut gemacht hatten, ließen sie uns allein, damit wir erst mal in Ruhe ankommen konnten. Im Hinausgehen fragte Dorothy, ob wir noch etwas bräuchten. Rosalie beugte sich vor und flüsterte ihr etwas ins Ohr, das ich nicht verstehen konnte. Pfarrer Brown blickte mich an und lächelte. „Das bedeutet bestimmt etwas Gutes.“ Er klopfte mir aufmunternd auf die Schulter und verließ die Wohnung. Rosalie lächelte mich an. „Ich habe eine Überraschung für dich, aber die gibt es später. Umarme mich mal.“

      Oh, wie sehr liebte ich Rosalie dafür, dass sie so liebevoll war! Wir hielten uns in den Armen, und Rosalie drückte mich so fest wie nie zuvor. Ich spürte, wie sehr sie mich jetzt brauchte. Mir ging es ganz genauso. Nie sollte etwas zwischen uns kommen. Rosalie löste sich und gab mir einen Kuss, dann ging sie in die Küche.

      Ich blickte aus dem Fenster und sah Dorothy, die mit zwei großen Papiertüten bepackt zu uns herüberkam und kurz darauf mit Rosalie in der Küche verschwand. Pfarrer Brown hatte recht, das bedeutete bestimmt etwas Gutes. Ich ließ die beiden allein und öffnete die Tür zum Zimmer der Mädchen. Sie schliefen noch immer tief und fest, wir hatten sie aus dem Auto getragen und direkt in ihre Betten gelegt. Ihr Anblick erfüllte mich mit Wehmut, aber auch Zuversicht. Behutsam schloss ich die Tür, ging auf den Balkon und legte meine Hände auf die steinerne Brüstung. Es war schon beinahe ganz dunkel, aber noch immer angenehm warm. Ich schloss die Augen und atmete tief durch. Nach allem, was wir durchgemacht hatten, waren wir in Sicherheit. Zumindest vorerst. Es war noch zu früh, das alles wirklich zu begreifen, vor ein paar Tagen noch lebten wir in Mexiko und jetzt fragten wir uns völlig ungewiss, ob wir