Wem gehört das Huhn?. Alexander Laszlo. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Alexander Laszlo
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783753192796
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liegen. Das Messer liegt auf dem Boden. Rosalie erkennt ihre Chance, sie will fliehen, aber der Polizist lässt sie nicht. Er packt sie am Bein, sie fällt hin, er zieht sie zu sich heran. Wieder lacht er, immer lauter, immer lauter. Rosalie reißt sich los, will wegrennen, aber er tritt ihr die Beine weg und sie fällt erneut zu Boden, direkt auf den Dicken, er bremst ihren Sturz. Von Adrenalin gepeitscht greift sie das Messer. Der Polizist stürmt auf sie zu. Sie hebt das Messer und rammt es ihm in die Brust. Er schreit auf, ist jetzt völlig außer sich und greift Rosalie weiter an. Aber sie ist im Überlebensmodus. Immer und immer wieder rammt sie das Messer in seine Brust und seine Arme, bis sie es der Bestie schließlich mit der allerletzten Kraft in den Hals rammt und er zu Boden sinkt. Blut schießt im Takt des Pulses aus seinem Hals. Dann hört sein Herz auf zu schlagen, das Blut spritzt nun nicht mehr, sondern quillt dick und dunkel aus seinen Wunden und verteilt sich auf dem Teppich.“

      „Wo waren Ihre Kinder?“

      „Sie haben geschlafen, im ersten Stock. Gott sei Dank haben sie von all dem nichts mitbekommen. Auch die beiden Männer im Gewächshaus haben nichts gehört. Rosalie ist nach oben gerannt, hat die Mädchen geschnappt, sich mit ihnen aus dem Hinterausgang geschlichen, ist zum Auto gerannt und losgefahren. Panisch hat sie immer wieder in den Rückspiegel geblickt. Aber sie hat dort nur ihre eigene Staubwolke gesehen. Folgten die Typen ihr? Es war unmöglich zu erkennen. Aber niemand ist ihr gefolgt. Sie ist direkt zu mir in den Hafen gekommen. Können Sie sich vorstellen, was ich gefühlt habe, als ich sie so gesehen habe? Die Mädchen in ihren blutverschmierten Armen?

      Ich mache mir solche Vorwürfe. Wie hatte ich sie allein auf der Ranch lassen können? Wir wussten doch, dass diese Leute hinter uns her waren! Rosalie hat am ganzen Körper heftig gezittert, sie war nicht in der Lage, auch nur ein einziges Wort zu sprechen. Ich wusste, ihr war das Schlimmste passiert, an das ich denken konnte, und habe sie einfach nur festgehalten. Können Sie sich das vorstellen?“ Jetzt konnte ich meine Tränen nicht zurückhalten. „Meine Frau hat einen Mann getötet! Aber sie ist keine Mörderin!“

      „Notwehr! Das war Notwehr!“, rief Brown lautstark. Dann versuchte er, sich wieder zu beruhigen und professionell zu bleiben. Aber unsere Geschichte ließ ihn nicht kalt, obwohl er sicher schon eine Menge schlimmer Geschichten gehört hatte. Es schien für ihn etwas Persönliches zu sein.

      „Wir konnten nicht klar denken. Ein Polizistenmord, wir waren uns sicher, niemand würde uns glauben, nicht unter diesen Umständen, nicht im korrupten Los Santos. Wir hatten nichts als die Kleider am Leib, unser Auto und unsere Papiere im Safe. Auf die Ranch konnten wir nicht zurück, in der Stadt bleiben auch nicht. Und zur Polizei? Nein, nein, nein. Wir waren uns sicher, dass wir das nicht überleben würden. In unserer Panik gab es nur einen Ausweg. Wir mussten weg, ganz weit weg und in Ruhe überlegen, was zu tun ist. Wo sollten wir hin? In Mexiko konnten wir nicht bleiben. Wir mussten das Land verlassen. Aber wie? Bis wir an der Grenze wären, würden die Behörden sicher schon nach uns suchen. Wegen Polizistenmord! Man würde uns sofort verhaften! Auf legalem Wege würden wir das Land also nicht verlassen können. Wir hatten ja nicht mal richtige Ausweise, nur die Kopien, die ich in meinem Büro hatte. Das war alles so schlimm! Würde ich noch mal so reagieren? Ich weiß es nicht! Aber ich bete, dass ich nie wieder solch eine Entscheidung treffen muss.

       Wir sind fast ohne Pause bis zur Grenze gefahren. Nur einmal haben wir angehalten, um den Mädchen etwas zu trinken zu kaufen. Und die ganze Zeit über haben wir gedacht, gleich werden wir verhaftet. Wir hatten das Gefühl, jeder Polizist sah uns an, was wir getan hatten. Was wir hatten tun müssen. Den halben Tag und die ganze Nacht waren wir unterwegs. Im Morgengrauen haben wir schließlich die Grenze erreicht. Es war wahnsinnig viel los. Hunderte Menschen überquerten den Grenzübergang in beide Richtungen. Wir haben das Auto geparkt, die Mädchen auf den Arm genommen und sind einfach im Gewusel der Menschenmassen zu Fuß über die Grenze marschiert. Wir mussten uns so sehr zusammenreißen, nicht zu rennen! Wir haben uns nicht umgedreht und zu Gott gebetet, er möge uns beschützen! Und tatsächlich hat uns niemand aufgehalten. Auf der amerikanischen Seite sind wir in den nächsten Bus gestiegen und einfach nach Norden gefahren. Nach einer halben Stunde, weit genug entfernt von der Grenze, sind wir ausgestiegen und haben uns der Polizei gestellt. Und jetzt sind wir hier. Vielleicht war es die falsche Entscheidung, illegal in Ihr Land zu kommen, aber für uns war es die einzige, die wir hatten.

      Und jetzt sind wir hier. Wir haben unser gutes Leben verloren, doch wir sind gute Menschen geblieben, wir haben nichts Unrechtes getan. Aber in Mexiko können wir keine Gerechtigkeit erwarten.“

      Mr. Brown stoppte mich, indem er energisch die Hand hob. „Geben Sie mir einen Moment, Mr. Olivares. Ich muss verdauen, was Sie mir da gerade erzählt haben. Menschen können bestialisch sein. Aber Menschen können auch gut sein. Ich muss entscheiden, wie es für Sie und Ihre Familie weitergeht. Und ich muss entscheiden, ob ich Ihnen glaube, dass Sie mir die Wahrheit erzählt haben. Ich werde auch mit Ihrer Frau sprechen, gleich im Anschluss. Sie werden vorher nicht mit ihr sprechen können.“

      Er atmete tief durch, klopfte die Akte auf den Schreibtisch und legte sie wieder hin.

      „Wissen Sie, wenn Familien mir ihre Geschichte erzählen und mich anlügen, dann merke ich das. Wissen Sie, woran?“

      Panik stieg in mir auf. Hatte ich mir Browns gutmütige und gerechte Art nur eingebildet?

      „Nein, ich weiß es nicht.“

      „Sie erzählen dieselbe Geschichte. Und zwar nicht irgendwie, sondern wörtlich. Und beim nächsten Interview genauso. Immer und immer wieder dieselben Worte. Sie haben ihre Geschichte auswendig gelernt. So unterscheide ich eine Lüge von der Wahrheit. Mr. Olivares, ich glaube Ihnen, aber ich werde mit Ihrer Frau sprechen, und dann entscheide ich, ob das auch so bleibt. Erzählt mir Ihre Frau dieselbe Geschichte wie Sie, nur aus ihrer Perspektive, ist alles gut. Erzählt Sie mir Ihre Geschichte mit denselben Worten wie Sie, ist nicht alles gut. Dann muss ich davon ausgehen, dass Sie sich abgesprochen haben.“

      Mein Herz setzte einen Schlag aus. „Wenn Sie uns nach Mexiko zurückschicken, schicken Sie uns in unseren Untergang. Bitte …“

      „Beruhigen Sie sich, Mr. Olivares. Ich habe es Ihnen gesagt, wer wirklich Hilfe braucht, der bekommt sie auch.”

      „Und wie geht es jetzt für uns weiter?“

      „Vorausgesetzt, das Gespräch mit Ihrer Frau verläuft positiv, werden Sie diese Unterkunft noch heute verlassen. Und dann beantragen Sie offiziell Asyl in den Vereinigten Staaten. Es gibt besondere Orte für Flüchtlinge wie Sie. Immer vorausgesetzt, Sie haben die Wahrheit erzählt.“

      „Flüchtlinge wie wir? Was bedeutet das?“

      „Das bedeutet, dass sie keine Wirtschaftsflüchtlinge sind und ich Ihnen eine gute Sozialprognose ausstelle. Vorausgesetzt, das Gespräch mit Ihrer Frau verläuft gut. Wenn das so ist, werden Sie mit Ihrer Familie hier in Kalifornien bleiben, in einem kleinen Ort namens Santa Roca. Und, Mr. Olivares, eines noch …“

      Verunsichert blickte ich Brown an. „Ja?“

      „Herzlich willkommen in Amerika! Es wird sicher alles gut werden. Glauben Sie an das Gute!“

      „Das tue ich. Noch immer.“

      »Santa Roca« 2020–2024.

      Drei Stunden nach dem Gespräch mit William Brown saßen wir in einem Auto der Einwanderungsbehörde Richtung Santa Roca. Das Gespräch zwischen Mr. Brown und Rosalie war gut verlaufen, und noch in Browns Büro hatten wir offiziell einen Asylantrag gestellt. Bis über den entschieden wurde, würden wir in einem Haus der Kirchengemeinde von Santa Roca wohnen, und der Gemeindepfarrer würde sich um uns kümmern. Sein Name war Kevin Brown! Er hieß tatsächlich auch Brown. Er hatte denselben Nachnamen wie William Brown von der Einwanderungsbehörde, mit dem wir eine so gute Erfahrung gemacht hatten. Es war wahrscheinlich einfach Zufall, schließlich war dieser Name in den USA weit verbreitet, aber für mich war es ein Zeichen. Die Zukunft meinte es gut mit uns.