„Benützen Sie Pomade?“, frage ich ehrlich interessiert, völlig ignorierend, was er zu mir gesagt hat.
„Bitte?“ Leicht konsterniert sieht er mich an.
„Ob Sie… Ach, vergessen Sie’s…“ Ein wenig zu spät erkenne ich, dass die Frage völlig unpassend ist. Und gibt es so etwas wie Pomade überhaupt noch?
Dr. Walker räuspert sich, setzt wieder eine ernste Miene auf und beugt sich weit vor, als wolle er gleich über den Schreibtisch klettern.
„Sie igeln sich zu sehr ein“, fährt er mit dem ursprünglichen Thema fort. Er spricht in einer altväterlichen Art zu mir, die nicht zu seinem nur leicht ergrauten Haaransatz und dem sonnengebräunten Gesicht eines wohlhabenden Mannes Mitte vierzig passt, der vermutlich jedes Sommerwochenende auf seiner Yacht im Royal Forth Yacht Club von Granton verbringt.
„Ich bin krank“, gebe ich fast schon panisch zurück.
Das Letzte was ich will, ist, mir eine ‚Aktivität außer Haus‘ zu suchen.
„Das sind Sie nicht“, protestiert Dr. Walker leicht tadelnd. „Sie bilden sich ein, krank zu sein. Das ist ein meilenweiter Unterschied.“
„Ich habe Probleme zu atmen.“ Ich atme probeweise ein und aus. Es fällt mir schwer, die Luft tief in die Lungen zu ziehen.
„Machen Sie die Übung, die ich Ihnen gezeigt habe?“, fragt mein Gegenüber und zieht eine seiner dunklen Augenbrauen hoch.
„Ich zähle bis vier beim Einatmen und mindestens bis sechs beim Ausatmen.“
„Machen Sie das immer, wenn Sie rausgehen?“
Ich spiele verlegen an meinem silbernen Armband herum. Ich gehe nicht gerne raus und Dr. Walker weiß das auch. Genaugenommen unternehme ich nur die Wege, die absolut nötig sind. Allein hier zu sitzen, kostet mich eine Menge Kraft und das einzige, was mich von einer aufsteigenden Panikattacke ablenkt, ist, das Haar des Arztes zu betrachten und zu überlegen, welcher Person in meinem neuen Roman ich einen so vollen, prächtigen Haarschopf zuschreiben soll.
„Ich gehe nicht oft raus“, gebe ich schließlich zähneknirschend zu.
„Genau das meinte ich. Sie müssen sich eine Aktivität außer Haus suchen. Sie haben es nicht nötig rauszugehen, da Sie von zu Hause aus arbeiten. Dabei wäre es gerade für Sie so wichtig zu erleben, dass die Außenwelt nicht gefährlich ist. Kaufen Sie wenigstens selbstständig ein?“
„Ähm…ja…sicher…“, lüge ich eine Spur zu schnell und denke, wie praktisch es doch ist, dass der Supermarkt drei Straßen weiter einen Lieferservice anbietet.
Ein schmalbrüstiger, pickliger Teenager mit flammend roten Locken, der sich nach der Schule etwas dazuverdienen möchte, bringt mir alles, was ich bestelle. Das Internet macht’s möglich. Und genaugenommen kaufe ich selbständig ein, nur eben nicht außer Haus.
Dr. Walker zieht eine Augenbraue fragend hoch.
„Wann verlassen Sie sonst noch das Haus?“
„Ich gehe zu Terminen mit meiner Lektorin.“
Mehr fällt mir beim besten Willen nicht ein. Natürlich hätte ich lügen und irgendwelche Restaurantbesuche mit Freunden erfinden können, die nie stattgefunden haben. Nicht umsonst habe ich eine blühende Fantasie. Aber irgendwie kommt es mir nicht richtig vor, meinen Hausarzt zu belügen. Schon die Sache mit dem Einkauf macht mich nervös und ich frage mich, ob er mich nicht durchschaut. Vermutlich schon.
„Kontakte zu Freunden?“, fragt er auch prompt.
„Ich habe eine Freundin, die mich regelmäßig besucht.“
Selbst in meinen Ohren klingt das ziemlich armselig und ich schrumpfe in meinem roten Sessel förmlich zusammen.
„Haben Sie weitere Freunde? Besuchen Sie diese?“
„Ist das nicht ein wenig zu persönlich?“
„Ich denke nicht, wenn ich Ihnen helfen soll.“
„Vielleicht sollten Sie meine Lunge genauer untersuchen. Ich denke, ich muss zu einem Spezialisten.“
„Das ist nicht nötig, Miss Anderson.“
Dr. Walker steht auf und umrundet seinen Schreibtisch, bis er bei meinem Sessel ankommt. Er legt mir seine große Hand, auf deren Rücken ein paar schwarze Härchen sprießen, in einer vertraulichen Geste auf die Schulter.
„Sie sind gesund. Das einzige was Ihnen fehlt, sind soziale Kontakte. Sie leiden unter Panikattacken, sobald Sie das Haus verlassen und es gibt nur eine Möglichkeit, die Angst zu bekämpfen: Sie müssen rausgehen und sich dem stellen, was Sie nervös macht.“
Das Atmen fällt mir plötzlich noch schwerer, wenn ich nur daran denke, mich länger als nötig außerhalb meines Hauses aufzuhalten.
„Das geht nicht.“, presse ich hervor und stehe auf.
Ich will jetzt nur noch hier raus. Die Wände erscheinen mir zu eng, es ist heiß im Raum und ich zupfe nervös am Ausschnitt meines H&M-Oberteils herum, das ich im Internetshop günstig ergattert habe.
„Miss Anderson, Sie wollen doch irgendwann am Leben wieder teilnehmen.“ Dr. Walker sieht mich eindringlich an. „Bitte nehmen Sie sich meinen Rat zu Herzen. Und suchen Sie sich einen Therapeuten. Ich habe ihnen doch schon vor Monaten ein paar Adressen mitgegeben.“
„Natürlich“, verspreche ich halbherzig.
An dem skeptischen Blick, den er mir zuwirft, sehe ich, dass er mir nicht glaubt. Kein Wunder. Ich glaube mir nicht mal selbst und ich bin ziemlich gut darin, mich zu belügen.
Eilig nehme ich meine Tasche vom Boden auf, drücke Dr. Walker die Hand und lächle ihm so gut es geht zu. Dann fliehe ich förmlich aus der Praxis.
Auf der Straße angekommen atme ich so tief als möglich ein und sehe mich um, als wäre ich noch nie hier gewesen. Der Weg nach Hause ist nicht weit, dennoch bedeutet er für mich eine Herausforderung. Es ist ein ziemlich heißer Tag für schottische Verhältnisse.
„Gott, ich hasse Sonne.“, schimpfe ich leise vor mich hin, presse meine riesige schwarze Handtasche an mich und wappne mich. Das Sonnenlicht sucht sich einen Weg durch die kleinen Reihenhäuser von Portobello, sodass es kaum möglich ist im Schatten zu laufen. Grell fällt es auf die helle Sandsteinfassade von Dr. Walkers Haus. Sorgsam versuche ich die Umgebung auszublenden und nur ans Zählen zu denken, dann marschiere ich mit gestrafftem Rücken los.
1,2,3,4 – einatmen
1,2,3,4,5,6 – ausatmen
Es klappt für eine Weile, ganz so, wie ich es gewohnt bin, doch bereits an der nächsten Straßenbiegung nimmt mir die Angst so sehr die Luft zum Atmen, dass ich nur noch mühsam beim Ausatmen bis vier komme. Mein ganzer Körper beginnt zu kribbeln und ich beschleunige meine Schritte. Ein fataler Fehler, wie ich weiß, denn dadurch fällt mir das gleichmäßige Atmen nur noch schwerer. Doch das einzige, was ich jetzt wirklich will, ist, möglichst schnell wieder in meinen vier Wänden sein. Meine strassbesetzten FlipFlops klatschen laut auf den Boden, mit jedem Schritt den ich mache.
Ich renne schon fast, als ich in die Brunstane Road einbiege, wo ich von weitem mein Häuschen sehen kann. Menschen gehen an mir vorbei, die an diesem schönen Tag auf dem Weg zum Strand sind und ich habe das Gefühl, als würden sie mich anstarren. Als stünde auf meiner Stirn: Ich habe gerade eine Panikattacke.
Wenigstens stirbst du nicht allein, denke ich und haste weiter. Jeden Moment wird mir die Luft ausgehen, da bin ich ganz sicher. Was danach kommt, weiß ich genau. Ich werde nicht sterben, soviel ist klar, wenngleich ich das gerne mal ausblende.
Vor meinem Haus angekommen, suche ich mit zittrigen Fingern die Schlüssel.