Das Phänomen. Karin Szivatz. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Karin Szivatz
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783754171868
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gab er nach wenigen hundert Metern die Verfolgung auf.

      Just in dem Moment donnerte ein Platzregen auf die beiden hernieder und sie standen auf offener Straße. Rosalie lachte noch immer über den etwas tollpatschig wirkenden Muskelprotz und zog sich das T-Shirt über den Kopf. Ihre blanken Brüste glänzten in Schein der Straßenlaterne silbrig. Lionels Augen traten wie die einer Weinbergschnecke hervor und aus seinem offenstehenden Mund drang kein einziger Laut. Nach rund einer Minute schnappte er wie ein Fisch auf dem Trockenen nach Luft; er hatte sogar zu atmen vergessen.

      Rosalie hingegen hielt ihr Gesicht in den Himmel und sprang ausgelassen auf der leeren Straße umehr. Ihre festen, relativ großen Brüste wippten dabei im Takt auf und ab. Lionel ließ sich von ihrer guten Laune anstecken, streifte ebenfalls sein T-Shirt ab und tanzte mit ihr die Straße entlang. Oder aber er hatte Angst, beim Anblick ihres formschönen Busens schwach zu werden und hatte sich deshalb mit dem Tanzen abgelenkt. Darüber gesprochen hatten sie danach niemals.

      Als sich ihr ehemaliger Studienfreund meldete, zuckte sie kurz zusammen, denn sie war noch fest in der Erinnerung verankert.

      Nachdem sie ein paar Höflichkeitsfloskeln ausgetauscht hatten, kam sie gleich zur Sache und erklärte die Sachlage in ihrem Dorf und formulierte ihre Bitte an ihn. Dann biss sie sich wieder leicht auf die Unterlippe und wartete gespannt auf seine Antwort. Es dauerte bei ihm immer eine geraume Zeit, bis er sich zu einer Antwort entschließen konnte. Das hatte sie nicht nur zu Studienzeiten rasend gemacht, sondern auch noch während der darauffolgenden Jahre, in denen sie nur noch telefonischen Kontakt zu ihm pflegte.

      „Nun ja, das hört sich tatsächlich sehr interessant an und es ist selbstverständlich, dass ich die Situation näher unter die Lupe nehme. Kann ich gleich morgen kommen? Da ist mein freier Tag. Aber nur, wenn du mir deine köstliche Studentenlasagne servierst. Ohne Gage rühre ich nämlich keinen Finger, nicht einmal den kleinen!“

      „Lasagne, so viel du essen kannst, versprochen! Ich freue mich schon auf dich, bis morgen dann!“

      Taylor beäugte sie etwas misstrauisch, schob aber seine Bedenken, dass zwischen den beiden wieder etwas aufflammen könnte, beiseite. „Aber von der Studentenlasagne will ich auch ein Stück abhaben. Und es muss genauso groß wie Lionels sein, wenn nicht sogar noch größer“, räumte er mit einem leichten Anflug von Eifersucht ein. Rosalie lächelte ihn an, küsste ihn und nickte bestätigend.

      „Jetzt muss ich aber noch mal zu Grant, um Lasagneblätter und Faschiertes zu kaufen. Fährst du mit?“, fragte sie und schnappte ihren Autoschlüssel. Ohne zu antworten stand er auf und hielt ihr mit einer galanten Verbeugung die Haustür auf.

      Während Rosalie sich beim Greißler umsah, stöberte Taylor in den Zeitungen herum, da er sich nicht mit Emma, der Kindergärtnerin unterhalten wollte. Sie war mit ihrem sechsjährigen Sohn Nathan ebenfalls einkaufen und beäugte jedes Stück Obst, das in den Kisten lag, mit Argusaugen. Nathan trieb sich währenddessen bei den Süßigkeiten herum, warf aber dann einen Blick auf Rosalie und schlenderte lässig auf sie zu. „Gott zum Gruße, edles Fräulein. Gebet mir doch Preis, wo ich einen Humpen des besten Gerstensafts erstehen kann und was ich dafür berappen müsste; ich hatte seit dem gestrigen Tage keinen mehr! Mein Odem ist schon ganz trocken und mein Wanst ist leer!

      Meine Queste nach dem Bollemoschder könnten Sie, oh holde Maid, vielleicht auch beenden?“

      Rosalie starrte den sommersprossigen Jungen an. Auch Taylor hatte diese Worte gehört und konzentrierte sich auf den Jungen. Geistesgegenwärtig übernahm er die Rolle seiner Frau und gab ihm an ihrer Stelle Antwort.

      „Ihr müsset in die Herberg gehen, dort schenket der Wirt gut ein. Aber nur, wenn ihr Silberlinge habt. Dero zwei sollten reichen für einen Humpen. Und lasset euch nicht auf eine Disputatio mit dem Bollemoschder ein, er ist nicht gut auf Auswärtige zu sprechen!“

      Nathan lachte süffisant auf. „Ihr glaubet wohl, ich sei ein tumber Tor? Mitnichten! Aber hier gefallet es mir nicht, ihr nidet mir nur.“ Dann drehte er sich um und spazierte zur Tür. „Nun denn, gehabt Euch wohl!“, sprach der Knirps und war auch schon bei der Tür draußen.

      Grant, Rosalie, Taylor und Emma starrten auf den Platz, wo gerade Nathan gestanden und diese eigenartigen Worte von sich gegeben hatte. Die Erste, die sich bewegte, war seine Mutter. Sie ließ die Mango in die Kiste zurückfallen und lief ihrem Sprössling hinterher. Wohl weniger um ihn nach den Worten zu fragen als ihn vor den Gefahren der Straße zu beschützen.

      „Was zum Teufel war das denn?“, fragte Grant und entschuldigte sich sofort für seinen verbalen Missgriff.

      Taylor schüttelte ungläubig den Kopf. „Das war die Sprache des sehr späten Mittelalters, beziehungsweise wurde sie auch noch vor etwas mehr als einhundert Jahren in unseren Breiten gesprochen. Woher hat dieser Junge diese Ausdrücke nur?“, fragte er und lief ebenfalls aus dem Laden ohne die Zeitung zurück ins Regal zu stecken.

      Rosalie verließ gleichfalls den Laden und stürmte den dreien in Richtung Rathaus nach. Nur Grant blieb in der Nähe seines Ladens, stand aber in der Mitte der Straße, um noch einen Blick auf die vier Laufenden erhaschen zu können.

      Nachdem Taylor Nathan erreicht und zum Stehen bleiben überredet hatte, legte er ihm die Hand auf die Schulter und lobte ihn für seine Schnelligkeit und Kondition. „Dafür hast du dir ein Eis verdient. Du magst doch Eis, oder? Welches hättest du denn gern?“

      Nathan keuchte zwar ein wenig, grinste aber glücklich. „Schokolade, Marille und Kirsche“, war die prompte Antwort und er machte sich sofort auf den Weg zum Eissalon gleich um die Ecke.

      Emma wollte schon Protest einlegen, weil der Zucker im Eis seinen Zähnen schaden könnte, doch Rosalie nahm sie beherzt zur Seite und sah sie eindringlich an. „Taylor muss sein Vertrauen gewinnen um herauszufinden, woher er diese Worte kennt und weshalb er so spricht. Das geht bei Kindern am besten mit Süßigkeiten. Drücken Sie einfach ein Auge zu, denn es ist sehr wichtig. Vielleicht können Sie mir sagen, wo er diese Sprache gehört hat und weshalb er sie so gut nachahmen kann. Haben Sie eine Idee?“

      Rosalie zog Emma auf eine Bank. „Hat er schon jemals so gesprochen?“

      Emma schüttelte energisch den Kopf.

      „Waren Sie in letzter Zeit mit ihm in einer Mittelalterausstellung? Oder in einem Verein, in dem diese Sprache gepflegt wird? Vielleicht hat er sie in einem Film gehört? Denken Sie bitte nach, es ist wirklich wichtig“, insistierte Rosalie und legte ihre Hand vertrauensvoll auf die ihres Gegenübers.

      Emma starrte blicklos auf einen Punkt auf der Straße, schüttelte aber nach geraumer Zeit den Kopf. „Nein, nichts dergleichen. Ich achte sehr darauf, was er hört oder sieht und mit dem Mittelalter bin ich sehr vorsichtig, weil es von Gewalt und Mord geprägt ist. Mein Nathan soll in eine liebevolle Kindheit gebettet sein und nicht mit all den Grauen der Welt konfrontiert werden, die sie zu bieten hat. Er wird noch früh genug die Grausamkeit am eigenen Leib erleben müssen.“

      Rosalie hatte den Verdacht, dass Emma ihren Sohn unter eine Käseglocke setzt, in der es nichts als Sonnenschein gab. Der arme Junge wird aufs Leben absolut nicht vorbereitet, dachte sie leicht erzürnt. Sie nimmt ihm die Möglichkeit, sich an die zum Teil doch sehr grausame Welt zu gewöhnen.

      Aber dann rief sie sich selbst zur Ordnung, denn es war nicht ihr Junge und deshalb hatte sie auch nicht das Recht, über Emmas Erziehungsmethoden und Einstellungen zu urteilen.

      Sie breitete ihre Arme wie ein Priester bei der Einladung ‚Lasset uns beten’ aus und hob ratlos die Schultern. „Wo kann er dann diese Worte aufgeschnappt haben? Was denken Sie?“

      Rosalie war klar, dass die Frau keine Ahnung hatte, wollte aber herausfinden, ob sie diesen Vorfall mit all den anderen Ereignissen in Zusammenhang brachte. Doch Emma schien all die Veränderungen rund um sie auszublenden und da schien sie nicht die Einzige zu sein. Offensichtlich wollte sich keiner mit dem Phänomen auseinandersetzen; ausgenommen sie selbst und ihr Ehemann. Das stimmte sie einerseits traurig, weil die Menschen nicht bereit waren, Änderungen zu erkennen und zu hinterfragen, andererseits war sie froh darüber, denn so wurde wenigstens keine Massenpanik