Klaus Mann - Das literarische Werk. Klaus Mann. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Klaus Mann
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783754940884
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Konzept zu bringen – alte Schwalbe, angesichts der kleinen schwarzen Urne ebenso natürlich und ungeniert wie hinter ihrer Theke im Lokal – fährt fort: »Schrecklich oft habe ich ihn auszanken müssen wegen seiner sündhaften Faulheit. Was hätte der nicht alles schaffen können! Aber es lag ihm wohl nichts daran. Er hat viel zu früh aufgehört. Was hätte er noch alles bringen und bedeuten können, für ihn selber und für die Freunde! Er war ja so reich – so reichlich ausgestattet mit schönen Gaben. Aber er hat sich nicht schonen und nicht aufsparen können; er hat furchtbar mit sich gewüstet. ›Auf was soll man denn warten, für welch kostbare Gelegenheit soll man sich denn aufheben?‹ hat er mir oft gesagt. Ich habe ihn dann zurechtgewiesen: ›Aber du willst doch Deutschland wiedersehen, Martin, und du wirst in Deutschland noch viel zu tun haben.‹ – Dann hat er nur sonderbar gelacht und hat vielleicht mit einer schönen, traurigen Bewegung gesagt – mit einer Bewegung, wie sie ihm niemand nachmachen kann: ›Ach, Deutschland …!‹ Unser Freund hat furchtbar unter allem gelitten, was dort geschieht; es hat ihn beinah verzehrt – von innen verzehrt – ich weiß es – und es hat sicher seinen Tod beschleunigt. – Diese Mörder!« ruft, plötzlich sehr zornig, die alte Schwalbe, und sie hebt die Faust – sie reckt ihre sehnige alte Faust über diesem kleinen, schwarzen Behälter, der die Asche ihres liebsten Gastes birgt. – »Diese Mörder da drüben! Sie bringen nicht nur die um die Ecke, die sie totschießen oder zertrampeln oder erschlagen; sondern auch die vielen andern, denen sie die Freude am Leben und das Leben selber kaputt machen; die sie erledigen, die sie zerstören: einfach, weil für empfindliche Lungen die Luft nicht zu atmen ist, die von diesen Ungeheuern vergiftet wird! – nicht nur in Deutschland! Der Pestherd schickt seine Dünste aus. Daran – und an nichts anderem! – ist unser Martin eigentlich gestorben!« – Neues Räuspern des Herrn Korella, diesmal heftiger. Ist das eine passende Grabrede? Diese merkwürdige Person namens Schwalbe irrt sich augenscheinlich im Ort: sie ist hier auf keiner Volksversammlung. Das scheint ja eine rechte Hetzerin zu sein. Schon die Anspielung auf Martins Faulheit vorhin ist eine horrende Taktlosigkeit gewesen. Der Junge war ja recht träge, zugegeben; aber man erwähnt es doch nicht am Grabe. Und nun diese Entgleisung, unerhört, das ist doch geradezu eine Rücksichtslosigkeit. ›Schließlich muß ich morgen nach Berlin zurück‹, denkt Herr Korella, und er spürt eine Beklemmung in der Magengegend bei dieser Idee. ›Wer weiß, ob nicht unter den Trauergästen ein Spitzel ist, man muß immer mit so was rechnen. Und überhaupt, es ist ja Unsinn, was sie da redet, es ist doch der schiere Quatsch. Die Nazis sollen schuld sein an Martins traurigem Ende? Alles was recht ist, aber man kann die Leute doch nicht für jedes Unglück verantwortlich machen. Ich, als Vater, habe immer gewußt, daß es mit dem Jungen nicht gut ausgehen wird, trotz seinen schönen Talenten …‹

      Die kleine Trauergemeinde läßt deutlich merken, daß man zum zweiten Mal peinlich berührt ist von der seltsamen Unbeherrschtheit der alten Schwalbe. Natürlich gibt man ihr recht und unterschreibt innerlich ohne Vorbehalt die wilden Worte, die sie vorgebracht hat. Aber – so empfindet man allgemein – eine gewisse Rücksicht auf die alten Herrschaften aus Berlin wäre doch ratsam und am Platze gewesen. – Betretene Gesichter im ganzen Kreise; nur der fremde junge Mann, den die gleichfalls ziemlich fremde Friederike, genannt Frau Viola, mitgebracht hat, wirkt gänzlich unbeteiligt; etwas gelangweilt, und als interessiere ihn nichts von dem, was hier geredet oder getan wird, spielt er mit seinen Handschuhen.

      Übrigens scheint die alte Schwalbe zu spüren, daß sie Mißfallen oder doch Verwunderung erregt hat. Sie beißt sich die Lippen; schüttelt den Kopf, als wolle sie sich selber zurechtweisen: Dummes Ding, kannst du dich denn gar nicht ein bißchen zusammennehmen! – und sie wird sogar etwas rot; es macht einen sonderbaren und recht rührenden Eindruck, wenn ein verwittertes, von allen Winden und Wettern gegerbtes Kapitänsgesicht, wie das der Mutter Schwalbe, sich schamhaft verfärbt. Ihre Stimme ist weich und leise, da sie nun fortfährt:

      »Hoffentlich hast du jetzt die Ruhe, lieber Martin, nach der du dich so gesehnt hast. Uns wirst du sehr fehlen, es wird schwer und bitter sein, sich daran zu gewöhnen, daß du nicht mehr da bist. Wir sind doch eine Familie – nicht wahr, Kinder, ich übertreibe nicht, und es ist keine sentimentale Redensart, wenn ich uns so bezeichne?« Dies sagt sie bittend, fast flehend, und ihr Blick wandert in einer ängstlichen Frage von einem zum anderen. Alle nicken ihr zu. Die leichte Mißstimmung ist schon wieder verflogen. Sie ist eben doch eine prachtvolle alte Person, unsere Schwalbe, freilich sind wir eine Familie, und dir, alte Schwalbe, haben wir dankbar dafür zu sein; denn du hältst uns zusammen, du bist der Kapitän und die Mutter, die Ernährerin und der General.

      »Ja, ja«, ruft die alte Frau, jetzt beinah freudig, und aus ihrem ängstlich forschenden Blick ist ein zuversichtlich leuchtender geworden. »Eine Familie – das sind wir – und das sollt ihr auch in Berlin erzählen!« Dabei wendet sie sich triumphierend Herrn und Frau Korella zu, die nicht wissen, ob sie gerührt oder empört sein sollen, und in Wahrheit beides gleichzeitig sind. »Davon sprecht in Berlin!« verlangt die Schwalbe von ihnen. Aber dann schaut sie wieder weg von Martins krampfhaft steif aufgerichtetem Vater und von der tränennassen Mama, und ihre Augen bleiben noch einmal an dem schwarzen kleinen Behälter hängen, an dem bescheiden verzierten Gefäß, in dem das graue Aschenhäufchen aufgehoben ist. »Nun ist unsere Familie plötzlich viel ärmer geworden« – dieses wird von ihr vorgebracht, als spreche sie zu sich selbst und habe vergessen, daß es hier Zuhörer gibt. »Viel ärmer geworden«, wiederholt sie mit betrübter Nachdenklichkeit. »Der Beste ist weg.« Sie zuckt die Achseln, mit einer bitteren und gar nicht pathetischen Resignation.

      »Ja, er ist wohl so ziemlich der Beste gewesen …« Dabei hat ihr Gesicht etwa den Ausdruck, welchen es bekommt, wenn Frau Schwalbe die Geschäftsbücher prüft: es ist, als ließe sie in Eile sämtliche Mitglieder ihrer großen Familie Revue passieren und als prüfe sie hastig, aber genau, die Valeurs jedes einzelnen, um festzustellen, ob Martin wirklich der Wertvollste gewesen ist. Und sie kommt zum Ergebnis: »Ich behaupte gar nicht, daß er der Tüchtigste war, oder der Nützlichste, oder der Tapferste, oder der Klügste; aber in einem gewissen Sinn ist er der Kostbarste von uns gewesen; er war vom Kopf bis zu den Füßen aus einem sehr feinen, seltenen, edlen, leicht zerstörbaren Material gemacht. – Von allen meinen Kindern habe ich dieses am liebsten gehabt.« Großes, zärtlich-schmerzliches Lächeln – mütterliches Lächeln auf dem Kapitänsgesicht. »Das darf nun keiner von euch anderen übelnehmen«, bittet sie sanft. »Einen muß man doch am liebsten haben – so ein Herz ist ungerecht.« Mit einer weit ausholenden, ungeschickt großartigen Gebärde deutet sie auf ihr Herz, das unter dem dunklen Regenmantel, unter der streng zugeknöpften grauen Bluse so stark, so innig, so jugendlich klopft. »Diesen also hat mein Herz bevorzugt«, verkündigt die alte Schwalbe, fürstlich-eigensinnig, einer Königin ähnlich, die dem Günstling in majestätischer Laune einen höheren Orden verleiht, als er ihm wohl eigentlich zukäme. – »Schlafe in Frieden!« – Wieder eine unbeholfen-pathetische Geste; ein weites Breiten der Arme, das eigentlich gar nicht zu den Worten paßt, die sie spricht. »Vielleicht gibt es einen Ort, von dem aus du uns zuschauen und beobachten kannst. Nun, wir wollen jedenfalls so leben, als wachtest du über uns, und wenn wir einmal etwas Gutes erreichen und einen tüchtigen Schritt weiterkommen – dann werden wir an dich denken, und eine Stimme, ganz tief drinnen in uns, wird sagen: Bist du jetzt zufrieden, lieber Martin? Freust du dich etwas mit uns, an dem unbekannten, wahrscheinlich sehr weit entfernten und vielleicht sehr schönen Ort deines Aufenthaltes? – Wie schade, wie jammer-jammerschade, daß du nicht mehr mit uns sein kannst …«

      Dieses war die höchst überraschende, teilweise anstößige und teilweise ergreifende Trauerrede der alten Schwalbe. Sie hat geendigt, nun tritt sie zurück und wischt sich die Augen mit einem großen, nicht ganz sauberen Männertaschentuch. Viele weinen im Kreise; andere schauen starr und gramvoll vor sich hin. Jemand aber stößt einen kleinen, durchdringenden Klagelaut aus – es klingt wie das Heulen eines fremdartigen Tieres in der Nacht. Dieser Jammerruf kommt von Kikjou; er hat sich bis jetzt ganz still im Hintergrund gehalten, nun aber taumelt er, er scheint niedersinken zu wollen, ja, er wäre gestürzt, wenn nicht David Deutsch ihn aufgefangen hätte. David ist mit elastisch-behenden Sprüngen herbeigehüpft; er lächelt verzerrt, mit verzweifelter Höflichkeit, und in den Armen hält er den Knaben, an dem Martins Herz mit so unglücklicher und zäher Leidenschaft hing; den problematischen kleinen Vagabunden, den grüblerischen Aventurier – eine wie