Die kleine Trauergemeinde läßt deutlich merken, daß man zum zweiten Mal peinlich berührt ist von der seltsamen Unbeherrschtheit der alten Schwalbe. Natürlich gibt man ihr recht und unterschreibt innerlich ohne Vorbehalt die wilden Worte, die sie vorgebracht hat. Aber – so empfindet man allgemein – eine gewisse Rücksicht auf die alten Herrschaften aus Berlin wäre doch ratsam und am Platze gewesen. – Betretene Gesichter im ganzen Kreise; nur der fremde junge Mann, den die gleichfalls ziemlich fremde Friederike, genannt Frau Viola, mitgebracht hat, wirkt gänzlich unbeteiligt; etwas gelangweilt, und als interessiere ihn nichts von dem, was hier geredet oder getan wird, spielt er mit seinen Handschuhen.
Übrigens scheint die alte Schwalbe zu spüren, daß sie Mißfallen oder doch Verwunderung erregt hat. Sie beißt sich die Lippen; schüttelt den Kopf, als wolle sie sich selber zurechtweisen: Dummes Ding, kannst du dich denn gar nicht ein bißchen zusammennehmen! – und sie wird sogar etwas rot; es macht einen sonderbaren und recht rührenden Eindruck, wenn ein verwittertes, von allen Winden und Wettern gegerbtes Kapitänsgesicht, wie das der Mutter Schwalbe, sich schamhaft verfärbt. Ihre Stimme ist weich und leise, da sie nun fortfährt:
»Hoffentlich hast du jetzt die Ruhe, lieber Martin, nach der du dich so gesehnt hast. Uns wirst du sehr fehlen, es wird schwer und bitter sein, sich daran zu gewöhnen, daß du nicht mehr da bist. Wir sind doch eine Familie – nicht wahr, Kinder, ich übertreibe nicht, und es ist keine sentimentale Redensart, wenn ich uns so bezeichne?« Dies sagt sie bittend, fast flehend, und ihr Blick wandert in einer ängstlichen Frage von einem zum anderen. Alle nicken ihr zu. Die leichte Mißstimmung ist schon wieder verflogen. Sie ist eben doch eine prachtvolle alte Person, unsere Schwalbe, freilich sind wir eine Familie, und dir, alte Schwalbe, haben wir dankbar dafür zu sein; denn du hältst uns zusammen, du bist der Kapitän und die Mutter, die Ernährerin und der General.
»Ja, ja«, ruft die alte Frau, jetzt beinah freudig, und aus ihrem ängstlich forschenden Blick ist ein zuversichtlich leuchtender geworden. »Eine Familie – das sind wir – und das sollt ihr auch in Berlin erzählen!« Dabei wendet sie sich triumphierend Herrn und Frau Korella zu, die nicht wissen, ob sie gerührt oder empört sein sollen, und in Wahrheit beides gleichzeitig sind. »Davon sprecht in Berlin!« verlangt die Schwalbe von ihnen. Aber dann schaut sie wieder weg von Martins krampfhaft steif aufgerichtetem Vater und von der tränennassen Mama, und ihre Augen bleiben noch einmal an dem schwarzen kleinen Behälter hängen, an dem bescheiden verzierten Gefäß, in dem das graue Aschenhäufchen aufgehoben ist. »Nun ist unsere Familie plötzlich viel ärmer geworden« – dieses wird von ihr vorgebracht, als spreche sie zu sich selbst und habe vergessen, daß es hier Zuhörer gibt. »Viel ärmer geworden«, wiederholt sie mit betrübter Nachdenklichkeit. »Der Beste ist weg.« Sie zuckt die Achseln, mit einer bitteren und gar nicht pathetischen Resignation.
»Ja, er ist wohl so ziemlich der Beste gewesen …« Dabei hat ihr Gesicht etwa den Ausdruck, welchen es bekommt, wenn Frau Schwalbe die Geschäftsbücher prüft: es ist, als ließe sie in Eile sämtliche Mitglieder ihrer großen Familie Revue passieren und als prüfe sie hastig, aber genau, die Valeurs jedes einzelnen, um festzustellen, ob Martin wirklich der Wertvollste gewesen ist. Und sie kommt zum Ergebnis: »Ich behaupte gar nicht, daß er der Tüchtigste war, oder der Nützlichste, oder der Tapferste, oder der Klügste; aber in einem gewissen Sinn ist er der Kostbarste von uns gewesen; er war vom Kopf bis zu den Füßen aus einem sehr feinen, seltenen, edlen, leicht zerstörbaren Material gemacht. – Von allen meinen Kindern habe ich dieses am liebsten gehabt.« Großes, zärtlich-schmerzliches Lächeln – mütterliches Lächeln auf dem Kapitänsgesicht. »Das darf nun keiner von euch anderen übelnehmen«, bittet sie sanft. »Einen muß man doch am liebsten haben – so ein Herz ist ungerecht.« Mit einer weit ausholenden, ungeschickt großartigen Gebärde deutet sie auf ihr Herz, das unter dem dunklen Regenmantel, unter der streng zugeknöpften grauen Bluse so stark, so innig, so jugendlich klopft. »Diesen also hat mein Herz bevorzugt«, verkündigt die alte Schwalbe, fürstlich-eigensinnig, einer Königin ähnlich, die dem Günstling in majestätischer Laune einen höheren Orden verleiht, als er ihm wohl eigentlich zukäme. – »Schlafe in Frieden!« – Wieder eine unbeholfen-pathetische Geste; ein weites Breiten der Arme, das eigentlich gar nicht zu den Worten paßt, die sie spricht. »Vielleicht gibt es einen Ort, von dem aus du uns zuschauen und beobachten kannst. Nun, wir wollen jedenfalls so leben, als wachtest du über uns, und wenn wir einmal etwas Gutes erreichen und einen tüchtigen Schritt weiterkommen – dann werden wir an dich denken, und eine Stimme, ganz tief drinnen in uns, wird sagen: Bist du jetzt zufrieden, lieber Martin? Freust du dich etwas mit uns, an dem unbekannten, wahrscheinlich sehr weit entfernten und vielleicht sehr schönen Ort deines Aufenthaltes? – Wie schade, wie jammer-jammerschade, daß du nicht mehr mit uns sein kannst …«
Dieses war die höchst überraschende, teilweise anstößige und teilweise ergreifende Trauerrede der alten Schwalbe. Sie hat geendigt, nun tritt sie zurück und wischt sich die Augen mit einem großen, nicht ganz sauberen Männertaschentuch. Viele weinen im Kreise; andere schauen starr und gramvoll vor sich hin. Jemand aber stößt einen kleinen, durchdringenden Klagelaut aus – es klingt wie das Heulen eines fremdartigen Tieres in der Nacht. Dieser Jammerruf kommt von Kikjou; er hat sich bis jetzt ganz still im Hintergrund gehalten, nun aber taumelt er, er scheint niedersinken zu wollen, ja, er wäre gestürzt, wenn nicht David Deutsch ihn aufgefangen hätte. David ist mit elastisch-behenden Sprüngen herbeigehüpft; er lächelt verzerrt, mit verzweifelter Höflichkeit, und in den Armen hält er den Knaben, an dem Martins Herz mit so unglücklicher und zäher Leidenschaft hing; den problematischen kleinen Vagabunden, den grüblerischen Aventurier – eine wie