Klaus Mann - Das literarische Werk. Klaus Mann. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Klaus Mann
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783754940884
Скачать книгу
schien. Er beobachtete eine Gruppe von jungen Franzosen, die ihren Tisch neben David Deutsch und seinen Freunden hatten.

      Es waren schmucke Burschen, einer von ihnen trug ein kleines, schwarzes Schnurrbärtchen, an den Enden aufgezwirbelt; alle hatten Abzeichen in den Knopflöchern ihrer Jacketts, sie sprachen über die Schande Frankreichs. Ein jüdischer Ministerpräsident hatte die Nation an den Rand des Abgrundes gebracht; was man nun dringend brauchte, war ein starker Mann. Man wünschte ihn sich einerseits brutal, andererseits auch versöhnlich; er sollte die Streiks verhindern – wenn nötig, auf die Arbeiter schießen lassen; mit Nazideutschland aber gute Freundschaft halten. Jüdische Intriganten beabsichtigten, la douce France in den Krieg zu zerren – angeblich um die Tschechen zu retten, in Wahrheit wegen der jüdischen Interessen. Die jungen Herren waren sehr ergrimmt. Einer von ihnen blickte drohend zu David Deutsch hinüber. Die hebräische Zeitung wirkte wie ein rotes Tuch auf die forschen Jünglinge – die reichlich Wein konsumiert hatten.

      Der Engel war sehr besorgt. Er raffte das dunkle Kleid und schwebte auf David zu. Gleichzeitig standen auch die jungen Herren auf; sie hatten ihre Mahlzeit beendet, ihre Rechnung bezahlt. Würde alles gut gehen? War die Gefahr überwunden? Die Camelots hatten die Tür erreicht, der Rabbi ließ einen Seufzer der Erleichterung hören; nur der Engel – hinter Davids Stuhl – blieb kummervoll und gespannt.

      Einer der Jünglinge – es war der mit dem hübschen Bärtchen – machte kehrt. Es erschien ihm wohl unerträglich, das Lokal zu verlassen, ohne den frechen Israeliten eine Lektion erteilt zu haben. Hebräische Zeitungen – mitten in Paris! C’est trop fort, après tout! Dies Gesindel – durfte es sich alles erlauben?

      Leicht schwankend, doch in aufrechter Haltung, durchschritt der junge Herr nochmals das Restaurant. Vor David Deutsch blieb er stehen. Der wußte schon, was nun kommen würde – er hatte es zweimal erlebt. Es gibt Cauchemars, die man, in gewissen Abständen, immer wieder, immer noch einmal träumen muß. Ein SA-Mann hatte gespuckt, auf dem Kurfürstendamm, in Berlin – wie lang war es her? Er hatte »Saujud!« dazu gesagt – mit gelassener, beinah freundlicher Stimme. Umso erregter war die amerikanische Dame gewesen, mit ihrem: »Sales Boches!« Übrigens eine Spuckerin ersten Ranges – sie hatte einen respektablen Speichelpatzen produziert!

      Der Pariser Kavalier sagte: »Sales Juifs!« Gegen die »boches« hatte er nichts, solange sie nur faschistisch waren. Er taumelte ein wenig; ohne Zweifel: er war leicht betrunken – indessen noch rüstig genug für die Spuckzeremonie. Mit der Amerikanerin freilich konnte er es keineswegs aufnehmen – das Resultat seiner Bemühungen war vergleichsweise kümmerlich; auch der SA-Mann hatte Besseres geleistet. Kein fetter Batzen sprang aus dem Munde des Kavaliers, nur ein dünner Strahl, eine matte Fontäne – beinah war es mitleiderregend. Übrigens konnte er gar nicht zielen. David mußte ihm mit dem Fuß entgegenkommen – mechanischer Reflex, wie von einem, der sehr oft geschlagen wird und schon weiß, wohin die Schläge treffen sollen – sonst wäre das schwache Tröpfchen ins Leere gefallen. Davids Stiefel wurde leicht benetzt. Der Kavalier wiederholte: »À bas les sales Juifs!«

      Der Rabbi war aufgefahren – das Gesicht über dem schwarzen Bart weiß vor Zorn. Im Lokal ward ein Gemurmel laut; teils beifällig, teils entrüstet. Die Entrüstung überwog. Die Kameraden des Kavaliers lachten etwas krampfhaft, in der offenen Türe stehend; sie spürten, daß die allgemeine Stimmung eher gegen sie war. Herr Nathan senkte wortlos die Stirn. Und David?

      David hätte geschrien. Sein Mund verzerrte sich; Zuckungen liefen über die wachsbleiche Miene; die zerbrechlichen Finger – gelenkige und zarte Finger des Uhrmachers – fuhren ins starre Haar. Er hätte geschrien; doch der Engel ließ es nicht zu. Er neigte sich über ihn, er legte ihm die flache Hand vor den Mund. Er beschützte ihn mit seinem Mantel und mit seiner Hand. Er wollte nicht, daß er schrie. Der Aufschrei würde alles nur noch ärger machen. – Klage nicht, David! Ich bin bei dir – dein Engel! Sei demütig! Sei stolz! Sei besonnen und fromm! Unterdrücke den Laut des Jammers! Dein Engel hat ihn gehört.

      David verhielt den Schrei; nur die Augen sprachen. Die schönen, dunklen, sehr erfahrenen Augen seiner alten Rasse ließen den Kavalier – diesen mäßig begabten Spuckheroen; sie blickten an ihm vorbei und über ihn hinaus. ›Was haben wir getan und angerichtet, daß wir gehaßt werden, mit so unversöhnlichem Haß?‹ fragten die dunklen Augen. ›Ist Israel unter den Völkern das schwarze Schaf? Wie haben wir uns vergangen? Was bedeutet soviel Schmach – die Erniedrigung durch Jahrtausende? Eine sublime Auszeichnung des Herrn? Das Stigma, das wir durch die Zeiten tragen müssen – ist es das Mal der Erwähltheit? So wären wir denn wirklich das erwählte Volk?

      Ach – verdienen wir diese schaurige Ehrung?

      Was sollen wir tun, um ihrer würdig zu sein?

      Herr Israels, der Du uns durch die Wüste geführt hast – was willst Du denn, daß wir tun?‹

      Der junge Herr, ziemlich ernüchtert, entwich, rückwärts schreitend. Menschen sprachen heftig durcheinander. »Ça, alors – quelle salopperie, alors …!« Die Franzosen waren beleidigt. Es ging über den Spaß.

      Der Engel löste langsam seine Hand von Davids Mund – sehr vorsichtig, als wäre sie dort festgewachsen, und er fürchtete, es könnte wehe tun. Noch mehr Schmerz war David Deutsch wohl nicht zuzumuten. Das Maß war voll; der Engel wußte, was Menschen zu ertragen fähig sind.

      Dann gab er Kikjou das Zeichen. Und da war die Wolke.

      Neue Szenerie; heftig verändertes Licht. Die Dinge zeigen härtere Konturen. In Paris scheinen sie von perlgrauem Schimmer umhüllt; hier aber sind sie nackt. Ist dies afrikanische Landschaft? Der Engel bedeutet Kikjou: »Wir sind in Spanien. Die Stadt heißt Tortosa, sie ist nicht weit von Barcelona entfernt. Es war eine hübsche Siedlung«, stellt der Engel mit betrübter Stimme fest. »Die Bomben haben sie ganz zerstört.«

      Nein – viel übrig geblieben war nicht von der Stadt, die Tortosa hieß; sie hatten gute Arbeit getan, die deutschen und die italienischen Piloten. Hier gab es fast nur noch Trümmer. Von manchen Häusern war die Vorderseite erhalten – eine kulissenhaft täuschende Fassade; dahinter aber lag Schutt. Alle Bewohner hatten die Stadt verlassen; indessen war sie doch nicht völlig unbewohnt. Die Ruinen wurden bewacht von Männern, die verschiedene Sprachen hatten. Spanische Soldaten, französische, deutsche und amerikanische Soldaten beschützten die Trümmer, deren Name einst Tortosa gewesen war. Durch die tote Ruinenstadt lief ein lebendiger Fluß, er hieß Ebro. Die Trümmer jenseits des Flusses gehörten dem Feind – der lag in gefährlicher Nähe. Nur ein Streifen Wassers trennte die Soldaten der Republik von ihren Gegnern, den arabischen Söldlingen und den italienischen Hilfstruppen des rebellischen Generals. Es wurde geschossen. Der Kampf um das zerstörte Tortosa stagnierte, aber hörte nie völlig auf.

      Der Engel war furchtlos. »Es wird ein bißchen geknallt.« Er zuckte die Achseln. »Ich habe anderes mitgemacht. – Komm!« – Er geleitete Kikjou in ein Haus, es war relativ gut erhalten. Von der Treppe, die ins erste Stockwerk führte, waren immerhin Teile intakt geblieben. Droben gab es eine Flucht von Zimmern, früher mußte es hier fürstlich fein gewesen sein, jetzt waren die Wände geborsten, die Seidenbehänge zerfetzt, in den Fenstern fehlten die Scheiben, man hatte den Blick auf den Fluß. »Drüben liegen die Faschisten.« Der Engel runzelte die Stirn und sah ungnädig aus. Nach einer Pause bemerkte er noch – verächtlich, aber doch schon wieder besänftigt: »Mein Gott – es sind auch nur Menschen …«

      In dem Raum waren zwei Männer, sie sprachen spanisch miteinander, einer von ihnen mit deutschem Akzent. Der Engel – zuverlässiger und präziser Conférencier – gab die nötigen Aufklärungen: »Es ist Hans Schütte, ein Deutscher, seit Beginn des Bürgerkrieges in Spanien, hat sich vor Madrid gut bewährt, er ist Politkommissar. Morgen fährt er nach Barcelona, übermorgen nach Frankreich weiter. Sein Dienst ist zu Ende.« – »Aber der Bürgerkrieg geht doch weiter?« fragte Kikjou. – »Die Internationalen Brigaden werden aufgelöst«, sagte der Engel. »Die loyalistische Armee ist stark genug, hat jetzt auch genug Offiziere. Man braucht die Fremden nicht mehr.« – »Man schickt sie weg?« fragte Kikjou. Der Engel bestätigte ruhig: »Ja. Man schickt sie weg.«

      Hans Schütte packte Gegenstände in einen