Klaus Mann - Das literarische Werk. Klaus Mann. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Klaus Mann
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783754940884
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und Erbärmlichkeit Teil von Gottes Substanz.

      Löst und erlöst sich das Materielle, an jenem Tag der Verheißung, da die Pläne und Absichten endlich sich erfüllen dürfen? Sehr wohl möglich – der Flügelherold hat dergleichen angedeutet, wenngleich in ungenügender Formulierung. Mögen Engel eine etwas stammelnde Konversation über das Letzte, Fernste, Äußerste machen! Was uns betrifft, wir haben andere Sorgen – sie liegen näher; bleiben aber trotzdem im Zusammenhang mit gewissen väterlich-ehrgeizigen Intentionen.

      Unser irdisches Heil ist wichtiger als das Heil unserer Seele: vielmehr, eines ist gar nicht zu trennen vom anderen. Denn der Liebe Herr vom Flammenthron identifiziert sich mit der Kreatur: Solches Maß hat Seine Gnade, und Seine Liebe ist so riesenhaft. Inmitten des Geschaffenen schlägt Sein schaffendes Herz. Unsere Schritte führen auch Ihn zum Ziel. Unser Sieg ist immer auch der Seine, unsere Entwürdigung wird Seine Schmach. Wer im Irdischen frevelt, hat auch Ihn verletzt. Er stöhnt in Qualen, wenn ein Mensch dem anderen wehe tut. Seine Kreaturen zerfleischen sich – und Er blutet aus tausend Wunden.

      Er vergißt nicht, verzeiht nicht. Wer den Skandal vergißt, mit dem Unerträglichen sich abfinden möchte, ist selbst schon Greuel. Die schlauen Saboteure Höchster Pläne und Intentionen sollen vernichtet sein. Ein Blick trifft sie aus der Flammensphäre – er bedeutet Fluch. ›Ihr seid mir ärgerlich!‹ sagt der furchtbare Blick. Der Rest bleibt uns überlassen. Unseres Amtes ist es, das Ärgernis auszureißen, samt der Wurzel.

      Es ist unsere Erde; wir tragen die Verantwortung – was immer hier geschieht. Das Übel, das die Menschenwelt verdirbt, ist zäh, nimmt auch höchst mannigfache Formen an. Einem wuchernden Pilz gleicht das Ärgernis; wir zertreten es – schon wagt es sich an anderer Stelle hervor. Zuweilen aber bekommt der wuchernde Skandal das Ausmaß einer universalen Provokation. Dann stinkt die Schöpfung; der Liebe Vater ist nicht nur sorgenvoll, sondern auch degoutiert.

      Von uns verlangt Er dann: Handelt! Protestiert! Schreitet ein! – Er ruft die Kreatur zur Aktion, damit das kolossale Stinken nur endlich aufhöre.

      An euch liegt alles: alles liegt bei euch – spricht die Höchste Instanz. Nichts wird euch abgenommen, kein Engel hilft euch – nur als Beobachter sind die Cherubim unterwegs. Ich empfange Berichte – die mein umfassendes Wissen bestätigen, nicht bereichern können. Ich resümiere, kalkuliere, verifiziere; Ich hoffe, leide, schluchze, gräme mich, freue mich; Ich frohlocke, verstumme; Ich warte. Ich bin geduldig.

      Kein Engel hilft euch. Seht, auch der Schutzpatron der Heimatlosen, der Dämon der Expatriierten hat sich entfernt! Vorm Flammensitz legt er genauen Rapport ab. Ich lausche, vergleiche, ziehe Schlüsse, lasse mir nichts entgehen. Dem Engel der Heimatlosen bin Ich sehr gewogen – wenngleich er vorhin etwas schwatzhaft war. Er ist ein tüchtiger Engel, sein Amt ist schwer, und er liebt es. In meinem Hofstaat nimmt er sich sonderbar aus, mit dem bestaubten Melonenhut, dem zerschlissenen Kleid. Aber Ich habe ihm ein Antlitz gegeben mit kühnen und milden Zügen. Gleicht es nicht dem Gesicht eines Kriegers, hart und gespannt, wie es ist? In die Augen jedoch habe Ich ihm das Licht des Erbarmens getan – daher ihre sanfte Macht.

      Der Engel der Heimatlosen hat ein Menschengesicht – von der Art, wie es sein sollte und werden muß. Ich liebe diesen, der unter meinen Engeln der Geringste ist, weil Ich euch und eure Zukunft liebe.

      Ihr habt so schöne, sonderbare Möglichkeiten. Nutzt sie doch! Meine Liebe zu euch ist voll Ehrgeiz und Mißtrauen, sehr wachsam und sehr empfindlich – alles um der schönen Möglichkeiten willen, die so leicht verderben. Wie schade wäre es um so viele reiche Chancen! Wie jammerschade würde es sein, wenn ihr das Bild, das Ich von euch im Vaterherzen trage, so sehr entstelltet, daß Ich euch nicht mehr erkenne oder mich gezwungen sehe, euch definitiv zu verstoßen! Unvorstellbar die Katastrophe, die solches bedeuten müßte: der Skandal der Skandale, das Fiasko meines ganzen Unternehmens, der universale Ruin. Mir bliebe nichts zu tun, als etwas völlig Neues anzufangen – aber woher die lustvolle Initiative zu einer anderen, zweiten Schöpfung nehmen, wenn die erste, höchst geliebte verdorben ist?

      Wollt ihr mir dies nicht ersparen? So nehmt euch doch etwas zusammen! Ich bin sehr besorgt – wenngleich keineswegs ohne Hoffnung. Es liegt alles an euch.

      Hört ihr mich, ihr Sterblichen, meine Sorgenkinder mit den interessanten Möglichkeiten? Du, zum Beispiel, Knabe dort auf dem Bett – schmiegsamer Gefährte meiner Cherubim, kleiner Heimatloser – hörst du mich? Vernimmst du den spontanen Ausbruch meiner gewaltigen Sorge?

      Nein – natürlich kannst du mich nicht verstehen. Deine Entrückung ist ja zu Ende, und übrigens hätte nicht einmal der Engel dir die Ohren öffnen können für meine Stimme. Du bist irdisch, und du sollst es bleiben. Du schlummerst, ziemlich ermattet von deinem extravaganten Ausflug, der dir eigentlich nicht zugekommen ist – am besten, du vergißt ihn oder hältst ihn für einen Traum.

      Ich liebe die Schlummernden, Ich liebe die Atmenden. Ich liebe euch, wenn ihr aufsteht und den Kopf hoch tragt und Gedanken denkt und Worte bildet mit euren Lippen. Ich liebe euch mit unendlicher Liebe, wenn ihr geht und schreitet und vorwärtskommt – auf euren Füßen.

      Euer Lachen und euer Weinen klingen mir angenehm, euer Lächeln rührt mich, mich rühren eure Umarmungen, die Küsse, die ihr tauscht, die Lust, die ihr beieinander empfindet. Es gefällt mir, euch essen und trinken zu sehen. In alles, was ihr tut, ist Lust gemischt – meine Lust! Meine väterliche Wonne! Noch in euren Schmerzen kann Ich die Lust erraten; jeder eurer Affekte ist mir Wohlbehagen. Ich liebe eure Hände, wenn sie zupacken und wenn sie ruhen. Ich liebe eure lebendigen Körper und eure Gesichter, die lebendig sind – auf ihnen liegt der Schimmer meiner großen, besorgten Liebe.

      Ach – es ergreift mich, wie ihr die Glieder regt; wie ihr euch anfaßt und wieder lasset; wie euer Organismus sich aufbaut und sich entwickelt, Zelle für Zelle, und wie er altert und müde wird und zerfällt. Ich liebe euer Blühen und euer Verwelken. Mich erschüttert eure Anmut und eure Häßlichkeit. Alle Gesten, mit denen ihr euer Leben verbringt, sind mir Gegenstand des gerührten Entzückens.

      Das Herz des Vaters ist Flamme. Es brennt, es verzehrt sich in Flammen der Zärtlichkeit.

      Dies sollt ihr nicht wissen. Der Liebe Vater verbirgt, stolz und schamhaft, Sein ungeheures Gefühl. Er verhüllt den Blick; Er verschweigt das Wort. Mit liebender Geduld harrt Er jener Stunde entgegen, von der ihr nichts wissen sollt – der Hochzeitlichen Stunde, der Stunde der Kommunion, dem Erlösungsfest, dem Feiertag des Großen Kusses, des Erlöschens …

      Mit Schauern von Glück und Angst harrt der Vater, geduldet Sich der Große Liebende. – Ihr aber sollt im Schweiße eures Angesichts erledigen, was euch aufgetragen: Euer Erdenpensum. Die Pläne und Absichten sind zu erfüllen – ob es auch Ströme von eurem Blut und euren Tränen koste.

      Seid wachsam und tapfer – dies fordert meine Liebe von euch! Seid energisch, seid realistisch, seid auch gut! Plagt euch! Kämpft! Habt Ehrgeiz und Leidenschaft, Trotz, Liebe und Mut! Seid rebellisch! Seid fromm! Bewahrt euch die Hoffnung!

      Steht auf eigenen Füßen!

      Epilog

      Ein junger Mensch saß in einem Café an der Canebière und schrieb:

      Marseille, den 1. Januar 1939. Lieber alter Karl! Wo steckst Du? Bist Du immer noch in Jugoslawien? Ich weiß Deine Adresse nicht – sonst hätte ich Dir schon lange geschrieben. Vor einem Jahr hast Du Dir Deine Briefe nach Ragusa, poste restante, bestellt. Ich versuche es mal. Hoffentlich erreicht Dich mein Gruß. Ich möchte gern von Dir hören.

      Nun bin also auch ich unter die Emigranten gegangen. Bist Du darüber erstaunt? – Ich denke mir, eher wirst Du Dich gewundert haben, daß ich so lange Zeit gebraucht habe, um den Entschluß zu fassen. Beinah sechs Jahre … Mir kommt es vor, als seien es sechzig gewesen … Hunderttausendmal hatte ich schon gemeint: Jetzt geht es nicht mehr; ich muß weg … und bin immer wieder geblieben. Aber dann war plötzlich eine Grenze erreicht. Ich hatte gar keine Wahl mehr – verstehst Du? Es ging um mein Leben.

      Ich spreche nicht von äußeren Gefahren – die gab es auch, und sie waren lästig genug. Natürlich hatte ich den Mund nicht halten