»Zuerst zeige ich dir das Beste!« sagte der Engel – da waren sie schon am Ziel, schon unsichtbare Gäste in einem Haus – bescheidene Villa; aber sauber und gemütlich, »Colonial Style«: man befand sich im südlichen Teil der Vereinigten Staaten; Kikjou wußte es, ohne vom Engel unterrichtet worden zu sein. – ›Hier also lebt Marion!‹ dachte er. ›Sie hat mir ihre Adresse nicht geschrieben; man muß sich ja mit den Engeln verbünden, um sie aufzufinden …‹
Er sah Marion, sie saß an einer Wiege, er sah einen fremden Mann – gedrungene Gestalt; das rundliche Gesicht von den Augen beherrscht – wer war es denn? Der Engel belehrte ihn: »Professor Benjamin Abel, ein famoser Kerl.« – Kikjou sah Marion an; seinem Begleiter indessen schien es mehr auf das Kind anzukommen; schon näherte er sich, schwebenden und schleppenden Ganges, der Wiege. Das Kind schrie, Marion sagte: »Man sollte das Radio abstellen, Marcel kann nicht schlafen.« – »Es ist aber gerade so interessant«, sagte Benjamin. »Chamberlain will nach Berchtesgaden fliegen.« – Marion, während sie mit der Fußspitze leicht die Wiege schaukelte: »Das bedeutet wohl, daß der Krieg etwas verschoben werden soll. Kleine Verzögerung der anberaumten Apokalypse …« – »Ich werde nicht mehr klug aus der englischen Politik«, sagte Professor Abel und stellte den Apparat ab. Marion lachte leise. »Als wir Kinder waren, fragte Mama uns manchmal: Bist du dumm oder bist du bös? Das möchte ich von den britischen Ministern manchmal auch gern wissen …« – Sie ließ ihre Augen nicht vom Kind, während sie sprach. »Was hat der Kleine denn heute abend? Er hört gar nicht auf zu weinen. – Du wirst mir doch nicht krank?« – Sie redete über die Wiege geneigt.
Kikjou rief Marions Namen, sie drehte sich gar nicht um, er hatte keine Stimme: wer unsichtbar ist, wird auch stumm. Er war eifersüchtig auf Professor Abel, er haßte ihn, weil er zu Marion sprechen durfte, und weil die Worte, die er sprach, ihr verständlich wurden. – War Marion glücklich? Jedenfalls schien sie stiller, weniger nervös als in den alten Pariser Tagen. Ihre Hände ruhten auf dem Rand der Wiege; früher hatte man sie fast stets in zuckender Bewegung gesehen. Kikjou fand in ihrem Blick eine ernste Heiterkeit. ›Es muß schön sein, ein Kind zu haben‹, dachte Kikjou – petit camérade des anges …
Da erschauerte Marion: der Engel der Heimatlosen war zu ihr getreten. Sie sah ihn nicht – unsichtbar: sein bestaubter Hut, das ramponierte Kostüm; unsichtbar der müde Mund, der gnadenvolle Blick. Sie spürte jedoch seine Nähe. Sie fürchtete sich.
»Ich fürchte mich«, gestand sie ihrem Benjamin. »Vielleicht wird doch Krieg kommen; es sieht alles so beunruhigend aus. Oder ein Frieden, der noch schlimmer ist als Krieg. – Und das Kind hört nicht auf zu schreien!« rief sie gequält.
Sie war es – die junge Mutter – die schrie; das Kind lächelte schon. Die Nähe des Engels war ihm angenehm; der kleine Marcel war erst vier Wochen alt und dem Paradiese noch nicht fremd geworden. Er lachte, der kleine Marcel; er strampelte, er bewegte lachend die Fäustchen. Mit großer Vergnügtheit empfing er Blick und Kuß des Boten. Der Engel der Heimatlosen segnete und küßte Marions Kind.
»Ist er nicht goldig!« rief entzückt Vater Abel. Er war goldig, Marion bestätigte es. Er wird die Augen bekommen, um derentwillen Marion zwei Menschen geliebt hat: Tullio und Marcel.
Welch ein schönes Baby! Sein Gesicht war nicht rot und faltig; vielmehr glatt, von fester Substanz und angenehm bräunlicher Farbe. Es hatte schon Augenbrauen – die junge Mutter kannte ihre Linie, die kühnen, tragischen Bögen …
»Ich bin stolz auf das Kind«, sagte Vater Abel mit feuchtem Blick.
Und die Mutter – unendlich zärtlich, sorgenvoll und stolz: »Was ist ihm bestimmt? – Was ist dir bestimmt, kleiner Marcel?«
»Ich weiß es«, sagte der Engel der Heimatlosen – ziemlich laut, aber unhörbar. – Er hatte das Kind geküßt; dies war erledigt, anderes blieb zu tun; »wir müssen weiter!« raunte er Kikjou zu. Der Sterbliche flüsterte: »Bitte nicht!« Er wollte so gern noch ein wenig bleiben; es gefiel ihm so gut hier, das Kind war reizend, für Marion hatte er immer starke Sympathie gehabt – und wäre es nicht interessant gewesen, den Professor ein bißchen näher kennenzulernen? – »Nur noch ein paar Minuten!« bettelte Kikjou. Der Engel aber war unbarmherzig, wie alle pflichtgetreuen Beamten. Schon beschwor er, mit zwei erhobenen Fingern, die Silberwolke. – »Was wird aus dem Kind?« fragte Kikjou noch, ehe er eingehüllt und fortgetragen ward. »Sage mir’s! Ich muß es wissen!!«
Der Engel antwortete nicht. Sein Blick, mitleidsvoll und streng, umfing noch einmal die Gruppe: den Vater, die Mutter, die Wiege mit dem Neugeborenen – drei Menschen. – »Komm!« forderte der Engel der Heimatlosen. Dies galt Kikjou und ward schon aus der Wolke gesprochen.
Aufstieg; Entrückung – mit leichtem Schaukeln; komfortables Wunder; magische Verwandlung. Paris, Ecke Boulevard St.-Germain – Rue des Saints-Pères. Ein kleines Restaurant – Kikjou hatte häufig hier gegessen. »In dieser Ecke saß ich immer – mit Martin!« Er flüsterte es dem Engel zu – der es schon gewußt hatte und schweigend nickte.
Das Lokal war voll; übrigens schien das Publikum aufgeregt und nervös. Man besprach die Ereignisse des Tages; erwog auch, was die Zukunft bringen mochte. »Gibt es Krieg?« – »Natürlich! Es wird ja schon mobilisiert!« – »Aber Chamberlain ist nach Berchtesgaden geflogen!« – »Er ist noch in London, vielleicht wird Hitler ihn nicht empfangen …« – »Lohnt es sich, Krieg zu machen, für diese Sudetendeutschen, die niemand kennt?« – »Les Tchèques c’est pour moi quelque chose comme les Chinois …« – »Die Tschechoslowakei ist unser Bundesgenosse und eine gute Demokratie …« – »Monsieur Benesch ist Jude, deshalb mag er den Führer nicht …« – »Monsieur Benesch soll ein sehr kultivierter, feiner Mann sein …« – »L’honneur de la France …« – »Les avions Allemands …« – »Les sales Tchèques …« – »Les sales Boches …« – »Les sales Juifs …« – »Nous autres Français …« – »Je suis pacifiste …« – »J’admire Monsieur Chamberlain …« – »Après tout, Hitler, lui aussi, est un type épouvantable …«
Da entdeckte Kikjou seinen Freund David Deutsch, er saß mit zwei älteren Herren, alle drei waren schweigsam, die Kellnerin stellte gerade Teller und eine Flasche Rotwein vor sie hin. Einer von den Männern hatte einen prachtvollen schwarzen Vollbart – steif und hart, wie ein Brett aus Ebenholz. Er studierte eine Zeitung, die in hebräischen Lettern gedruckt war. »Es ist ein Rabbi«, erklärte der Engel, »sehr gelehrt und fromm. In Krakau geboren, 1886; lebt seit fünfundzwanzig Jahren in Paris.« – »Und der andere?« wollte Kikjou wissen. Er ward unterrichtet: es war ein väterlicher Freund von David Deutsch, Herr Nathan. Er hat das Umschulungslager für jüdische Intellektuelle in Skandinavien organisiert – höchst verdienstvollerweise. David wollte sich als Schreiner ausbilden lassen; hat sich auch sehr geplagt; brach aber bald zusammen: die Kräfte reichten nicht aus. Herr Nathan riet ihm, er solle Uhrmacher werden: dazu braucht man mehr Intelligenz und weniger Muskeln als zur Schreinerei. Jetzt kann David Uhren auseinandernehmen und zusammensetzen – eine heikle Kunst. Er hat eine Stellung in den französischen Kolonien bekommen, durch gütige Vermittlung des Rabbi mit dem schönen schwarzen Bart. Morgen geht das Schiff nach Marseille, jetzt feiern sie