Klaus Mann - Das literarische Werk. Klaus Mann. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Klaus Mann
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783754940884
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Rhapsodie hallte weiter: »Ich sehe den Kampf – er geht um Leben und Tod, keiner meiner Schützlinge darf ihm ausweichen. Ich sehe den Selbstmord, den Ruin, das Laster, die Niedertracht als Konsequenz des Elends; ich sehe die Häßlichkeit in tausend Formen und die blühende Unschuld, die erst allmählich entstellt wird vom Leid; das kurze Glück – seinen zögernden Anfang, sein rapides Ende – die Bemühungen, die Enttäuschungen, die Entbehrungen ohne Ende – ich sehe, ich sehe! Was habe ich nicht alles gesehen! Meine Augen sind nur noch Schmerz, soviel Schmerzen haben sie angeschaut …«

      Er berührte seine Augen mit den Fingerspitzen: da wurden sie blind. Gerade hatten sie noch geleuchtet, jetzt waren sie leere Höhlen, schwarz und tot – ach, wohin der Schimmer? Die himmlischen Lichter – wohin?

      »Elend – Elend, über alles Maß …« War dies Jammerruf oder Lobgesang? – Der Knabe auf seinem Lager begriff: Die Engel – Teil von Gottes Substanz – huldigen dem Herrn, auch wenn sie klagen. Dies faßt kein Sterblicher. Kikjou keuchte:

      »Wie lange noch? Und was ist der Sinn?«

      Der Engel – das Gesicht mit den toten Augen zur Maske erstarrt und verzerrt – schwebte und tänzelte vor dem Bett. »Frage nur! Frage!« Es klang höhnisch. »Aber wünsche dir keine Antwort – die dich zermalmen müßte. Zerschmettert wärest du, wenn die Antwort käme! Du Narr! Du Sterblicher! Du Ahnungsloser!« Dazu ein Lachen – wie aus Höllenschlünden.

      Kikjou – außer sich; alle Vorsicht vergessend; aus dem Bette springend – schrie ihn an: »Verfluchter!!« – und war auf das Schlimmste gefaßt. Ein Engel, der so infernalisch gemeckert hatte, konnte auch Feuer speien, ihm war schlechthin alles zuzutrauen.

      Der Bote, statt zu toben, reagierte sanft. Er bekam wieder lebendige Augen – menschlich-übermenschliche Sterne – und sie glänzten feucht. Tränen hingen an den schön gebogenen Wimpern. Aus dem Dunkel des Mantels traten, blaß und schmal, die Hände hervor. Ihre Gesten flehten um Verzeihung, wie die sanften Blicke.

      »Nenn mich nicht so!« bat er innig, die beseelten Augen rührend aufgeschlagen. »Ich begreife, daß du dich fürchtest vor mir und sogar etwas ekelst. War ich vorhin sehr häßlich und abscheulich? Das passiert mir manchmal. Ich komme zu oft und nah an Widriges heran: es wirkt ansteckend. Manchmal packt es mich, und ich muß selber gräßlich werden – es ist wie ein Anfall – sehr quälend; dauert aber nicht lang. Gerade dir gegenüber ist es mir unangenehm.« Der Engel machte eine wirkungsvolle Pause, ehe er mit feierlichem Nachdruck sagte: »Nicht um dich zu verfluchen, bin ich zu dir gekommen.«

      »Warum bist du hier?« wollte Kikjou wissen. Er stand mit bloßen Füßen auf dem Steinboden. Er fror.

      »Um dich zu küssen. Um dich zu segnen.« – Dies war nicht die Stimme eines einzelnen mehr; wie Chorgesang hallte es durch den Raum. Sehr viele Engel – die Heerscharen allesamt – schienen ihrem ramponierten Bruder Gewalt und Süßigkeit ihrer Kehlen zu leihen: das wundersam geübte Ensemble der Cherubim ließ sich hören.

      Der Knabe schluchzte. Da er außerdem fror, wurde er besonders heftig geschüttelt. »Warum gerade mich?« fragte er, bitterlich weinend. »Warum sind Kuß und Segen mir zugedacht – unter allen Brüdern und Kameraden gerade mir?« – Er hatte Angst vor der hohen Gunstbezeugung. Er fürchtete sich. Er war schwach. Dies verriet er, da er sich nun in einen Winkel zurückzog und flehte: »Bitte nicht …!«

      Der Engel, unbarmherzig und hold, folgte ihm, schwebenden, schleppenden Ganges. Er hatte sich schon wieder verändert – er war ein Verwandlungskünstler; liebte die überraschenden Tricks. Sein Reisekostüm leuchtete silbrig-weiß, die Flügel waren länger geworden, sie strahlten, sogar der runde Hut hatte Glanz: er löste sich in hellen Nebel auf, ohne dabei völlig die Façon zu verlieren. – »Fürchte dich nicht!« verlangte der Leuchtende. – Er hatte Kikjou gänzlich in die Ecke gedrängt. Der Weg war dem Kleinen verstellt. Vor dieser Umarmung gab es kein Entweichen.

      Lieblich und majestätisch stand der Himmlische aufgerichtet, das Gesicht beinah nur noch Glanz: Glanz das Haar, das unter dem Nebelhute sichtbar ward; Glanz – der Mund, die Stirn, die tänzelnden Füße, die bewegten Hände. Die Augen – sie allein – blieben fest umrissen, bei all der strahlenden Auflösung. Aus ihnen floß Mitleid, ungeheuer stark; Erbarmen, mächtig wie eine Flamme; Trost, der nicht nur lindert, sondern auch fordert und alarmiert.

      Die Augen des Engels verlangten viel von diesem Sterblichen. Der senkte das Haupt. Er empfing den Blick – höchste Gunst; strengstes Urteil. – »Fürchte dich nicht!« rief die Stimme, die von oben kam – und doch stand der Bote noch auf unserer Erde.

      Er bückte sich ein wenig; denn er war viel größer als der Mensch, den er küssen wollte. Der Kuß war eisig – Hauch aus Sphären, die kein Strahl erwärmt. Kikjou zitterte stärker, hielt sich indessen aufrecht, in lobenswert tapferer Haltung. Er hatte den Blick ausgehalten; so mußte auch der Kuß sich ertragen lassen. Nur schien es ihm ratsam, seinerseits die Augen zu schließen, damit er das eisige und feurige, zugleich zerfließende und steinern geprägte Gesicht nicht gar zu sehr aus der Nähe sähe.

      Es verging eine kleine Weile, vielleicht war es auch eine lange Zeit, Kikjou stand wie im Schlaf, er machte die Augen nicht auf. Endlich sagte er – fast zu seiner eigenen Überraschung: »Jetzt werde ich es vielleicht schaffen.«

      »Was?« fragte der Engel. Er hatte sich ein paar Schritte zurückgezogen; die Stimme kam nicht mehr aus so drohend-zärtlicher Nähe.

      »Nicht heute oder morgen …« Kikjou redete wie zu sich selber, als wäre kein Engel da. »Aber irgendwann. Mit der Zeit. Ich werde es sicher schaffen.«

      »Sprichst du von deinem Buch?« Der Engel wußte Bescheid; seine Frage vorhin war rein rhetorisch gewesen.

      »Ursprünglich ist es Martins Buch gewesen«, erläuterte Kikjou. »Aber er hat es nur bis zum Vorwort gebracht, und ein paar Notizen sind da, ich habe alles bewahrt. Auch Marcel hat es schreiben wollen oder hat es zu Teilen geschrieben. Alles, was er hinterlassen hat, sind Bruchstücke unseres Buches. – Darf ich es vollenden?« Die Frage war dringlich; umso enttäuschender die etwas spöttische Gegenfrage des Engels: »In welcher Sprache willst du es denn schreiben?«

      Kikjou war ein bißchen beleidigt. »Darauf kommt es doch gar nicht an. Ich kann alle Sprachen. Aber es ist so schwer, die Wahrheit festzuhalten – in welcher Sprache auch immer. Die Wahrheit ist so ungeheuer kompliziert, so traurig und so schockierend. Ich fürchte mich vor der großen Arbeit …«

      »Fürchte dich nicht!« Die Stimme kam nicht mehr von oben und hatte menschliches Maß. Gerade deshalb wirkte sie tröstlich – Zuruf eines guten Kameraden.

      Kikjou gestand: »Ich wundere mich selber über meine Courage. Du mußt mich für sehr ehrgeizig und eitel halten. Habe ich überhaupt Talent? Das ist noch lang nicht bewiesen; die paar Schreibübungen während der letzten Jahre rechnen kaum. Und nun will ich mich an eine so große Sache wagen …«

      »Es soll ein Roman werden?« Der Engel erkundigte sich mißtrauisch, wie ein Verleger, dem ein unberühmter junger Autor Vorschläge macht.

      »Eine Chronik«, versetzte Kikjou, schüchtern und stolz. »Die genaue Chronik unserer Verwirrungen, Leiden, auch der Hoffnungen. Ich habe viel Material«, behauptete er hoffnungsvoll. »Es müßte ein ziemlich langes Buch werden, vieles ist einzubeziehen, eine Menge von Themen machen die Symphonie. Ich darf nichts vereinfachen, auch nichts weglassen; umständlich und aufrichtig muß ich sein. – Wenn es aber langweilig würde? Das wäre grauenhaft! Vielleicht sind Bücher nicht mehr zeitgemäß? In den meisten Ländern werden sie verboten – und wo sie noch erlaubt sind, machen sie kein besonderes Aufsehen. Die Leute gehen lieber ins Kino. – Mein Gott!« Kikjou war tief erschrocken. »Sind alle Bücher langweilig?«

      »Es gibt immerhin Unterschiede!« bemerkte der Engel, mit mattem Trost.

      Kikjou war gleich wieder zuversichtlich, wenngleich immer noch von Zweifeln geplagt. »Mein Roman muß aber doch zu den interessanteren gehören!« rief er flehend. »Bei all dem Material, das ich habe …«

      Der Engel, mit einem Achselzucken: »Es wird eben ein