Klaus Mann - Das literarische Werk. Klaus Mann. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Klaus Mann
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783754940884
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wird fallen.« Marion machte eine abschließende kleine Handbewegung, als wäre dies nun erledigt. »Auch die Spanische Republik wird untergehen – ein paar Dutzend Millionäre wünschen es. Tschechische Flüchtlinge, spanische Flüchtlinge; auch französische und Schweizer Flüchtlinge könnte es noch geben – woher sollen wir denn all die Affidavits nehmen? – Die Chinesen sterben, anstatt zu fliehen. Millionen sterben. In Wien wütet der Selbstmord wie eine Epidemie. Das neue Barbarentum, die Faschisten, die Hunnen – nicht einmal kämpfen müssen sie! Ohne Kampf läßt man sie siegen! Sie begegnen keinem Widerstand, keinem Gegner …! Man läßt das Scheußliche rasen, zerstören, sich austoben – als wäre es eine Naturkatastrophe! Als lebten wir auf einem Vulkan, der Feuer speit! Es gibt keine Hilfe. Jeder wartet, ob es ihn trifft …«

      Ihr Atem ging schwer; sie verstummte. Der große Ausbruch hatte sie erschöpft. Sie legte die Hände auf den gewölbten Leib. Auch Abel schwieg. Er schaute sie liebevoll, sorgenvoll an. Er dachte: ›Wie schön sie ist! Wie sie leidet! Kann ich sie trösten? Ich muß sie trösten können, ich liebe sie.‹

      »Der Vulkan …« Jetzt konnte sie nur noch stammeln. »Wir alle, an seinem Rande … Auf unseren Stirnen schon sein glühender Atem; die Augen geblendet, die Glieder gelähmt, die Lungen voll erstickendem Qualm … Und da soll man Kinder bekommen!!« Nun kreischte ihre Stimme, überschlug sich und klirrte wie geborstenes Glas – ihre geübte, schöne, zuverlässige Stimme – wie entartet, wie zerrüttet war sie nun! Sie lachte, nach ihrer schrillen und schlimmen Äußerung über die Kinder – ein hysterisches Lachen, ein Gelächter der Pein: Benjamin hatte es noch niemals von ihr gehört. Auch ihr Gesicht war entstellt; Zuckungen um Mund und Augenbrauen ließen es fremd und beinah häßlich werden. War dies die Schmerzensraserei der Seherin? Der epileptische Anfall der Gottesbraut? Fiel sie in Trance, bewegte krampfhaft die Hände, hatte Schaum vorm Mund?

      Nichts dergleichen; sie wurde schon wieder still. Ihre Traurigkeit bekam wieder vernünftige Maße; war aber immer noch groß und tief. – »Ich kann das Kind nicht bekommen!« Die Worte ihrer armen kleinen Schwester Tilly – Marion kannte sie nicht und wiederholte sie doch. »Ich kann das Kind nicht bekommen!« Sie bewegte flehend die Hände, die Augen waren ihr naß: Marion weinte. »Heute ein Kind zu kriegen – so ein Frevel …« brachte sie hervor, »so eine Sünde, eine Dummheit … Kriege werden kommen, Revolutionen, Kampf ohne Ende … Mein armes Kind wird vernichtet …«

      »Es wird leben«, sagte Professor Abel – sehr ruhig, aber dezidiert.

      »Nein, nein, nein!« Sie schüttelte angstvoll den Kopf. »Ich kann es immer noch entfernen lassen. Es ist wohl noch nicht zu spät …«

      »Es ist ganz entschieden zu spät«, versetzte er, fest und gelassen.

      Sie wollte ihr Kind töten; seltsamerweise war ihr alles daran gelegen, Benjamins Erlaubnis für ihre Untat zu erwirken. Sie achtete ihren Gatten, sie vertraute ihm. Er sollte gutheißen, was ihr unvermeidlich schien. Sie bettelte: »Du mußt es doch verstehen! Versuche, es zu begreifen! Ich kann doch kein Kind haben! Ich muß nach Europa zurück – muß unabhängig, aktiv sein! Ich muß kämpfen! Muß mich ganz einsetzen. Das Kind würde mich stören«, sagte sie hart, und fügte kränkend, beinah ordinär hinzu: »Und überhaupt – es ist ja gar nicht von dir! Sein Vater ist ein Vagabund – der hätte gespürt, was ich meine! – Was geht es dich an?« fragte sie ihn grausam. »Es ist mein Kind; nicht deines.«

      »Es ist unser Kind!« Jetzt erhob er sich aus dem Sessel. Die kleine, gedrungene Figur wirkte imposant, wie sie sich nun männlich-würdig reckte. Auch aus seinen Augen konnten Flammen springen: kein hysterisches Strohfeuer; ernste, gediegene Glut. Er war sehr blaß geworden; sein beinah frauenhaft zarter Mund bebte. »Der kleine Marcel gehört uns!«

      Er hatte den Namen ihres Kindes genannt, mit fester, markiger Stimme, wenngleich innig bewegt. Das Kind sollte Marcel heißen, dies war schon seit langem bestimmt. Marcel – tödlich getroffen, unter fremden Himmeln – er würde fortleben in dem Knaben, der nicht seines Blutes war: so hatte Marion es gewollt – Benjamin mußte sie daran erinnern. Er mußte neu die mütterliche Zärtlichkeit in ihr erwecken, die sie – Prophetin und Amazone – vor lauter Zorn und Schmerz vergessen hatte. »Wir werden ihn lieben!« mußte er ihr sagen – ach, er liebte ihn schon! Er war nicht der Vater: zwei Abenteurer, zwei Fremde waren ihm vorgezogen worden. Der eine hatte das Kind gezeugt; nach dem anderen sollte es geraten. Aber wieviel väterliche Zärtlichkeit auf Benjamins Zügen, welch inniger Ernst, welch ergreifender Stolz, da er seine Frau nun gemahnte: »Er wird groß und brav! Er wird glücklich! Er sieht bessere Zeiten. Neue Spiele fallen ihm ein, neue Aufgaben stellen sich ihm, er bewältigt sie alle. – Marion, Marion, du weißt es doch – was sollte all dein Kampf und dein Aufbegehren, wenn es nicht für ihn wäre und für all seine Brüder? Was ginge die Menschheit uns an, wenn wir nicht an ihre Zukunft glaubten – wenn wir die kommenden Geschlechter nicht liebten? – Marion, Marion – du weißt es doch …« Seine Stimme hatte fast hypnotisierende Kraft – raunende, beschwörende Stimme des Liebenden, beruhigend und fordernd zugleich.

      Er zog die Geliebte an sich; er liebkoste ihren Leib, der das fremde Kind trug. Sie ließ sich umfangen, ließ sich küssen und stützen. Er rückte ihr die Kissen im Stuhl zurecht. Plötzlich fühlte sie: Ich bin müde. Wie gut, daß er ihr ein Lager richtete! Sie konnte es brauchen; sie dehnte dankbar die Glieder. Dieses schläfrig-gelöste Lächeln, den vertrauensvoll-zärtlichen Blick – ihre jungen, ungestümen Freunde – Marcel und Tullio – hatten dergleichen nie von ihr zu sehen bekommen. Benjamin Abel schaute und liebkoste ein Gesicht, das noch keiner vor ihm gekannt hatte. Er wußte es, er war stolz. – Kennen Jünglinge dies zarte, schwierige Glück, das nun das Herz des Alternden erschüttert? ›Wie reich werde ich jetzt noch beschenkt!‹ empfindet der Nicht-mehr-Junge. ›Man muß lange, lange üben und sich vorbereiten, ehe man die schwere Kunst der Liebe lernt. Jetzt bin ich meiner ganz sicher; beinah übermütig bin ich – weil ich weiß: Ich kann es, ich kann es. Ich alter Schüler habe alles gelernt, manche Klassen habe ich wiederholen müssen, aber es lohnt sich, es hat sich alles gelohnt. Nun kenn ich die Liebe – die komplizierte, unsagbar schwere, unsagbar süße Aufgabe. Wie ungeschickt sind die Jünglinge! Ich kann mir nicht helfen: sie kommen mir ein wenig komisch vor. Immer wollen sie »besitzen« – oder »verzichten«. Schwieriger und süßer ist es, den schwebenden Ausgleich zu finden zwischen Besitz und Verzicht; die rätselhafte Mitte, da man das geliebte Wesen zugleich losläßt und hält. Jünglinge mögen lachen über meine Liebe zu der Frau, die ihr Kind von einem anderen hat; geradezu fassungslos und beinah degoutiert wären sie angesichts meiner väterlichen Neigung zu dem fremden, ungeborenen Kind. Ach, ihr dummen Jünglinge! Wäret ihr klüger und feiner – aber wie solltet ihr klug und fein sein bei so bedauernswertem Mangel an Herzenstraining? – ihr empfändet Neid statt Belustigung, ließe ich euch als Zeugen meiner späten, schwierig-zarten Wonne zu. Ich werde mich aber hüten! Zeugen sind nicht erwünscht. Zur Weisheit der Liebe gehört, daß sie sich verbirgt – oder doch viel einfacher scheinen will, als sie ist. Ahntet ihr, mit welchen Schauern von Entzücken und Resignation ich diese Frau umfange – meine Frau, mein Kind, Marion, die Mutter meines Kindes, meine fremde Marion, meine Geliebte …‹

      Sie ruhte, an ihn gelehnt. Sie sprach wieder; ihre Worte paßten nicht ganz zu dem besänftigten, selig-matten Lächeln auf ihren Zügen. »Der kleine Marcel wird kämpfen müssen.« Es klang, als prophezeite sie ihrem Sohne das heiterste Los. »Er wird sich schlagen müssen, wie wir. Die große Auseinandersetzung ist noch lange nicht am Ende; vielleicht fängt sie gerade erst an. – Er wird tapfer sein!« Sie hielt die Augen geschlossen; ihr Lächeln aber ward inniger, stärker und kühner. »Er wird siegen!« Dabei hob sie ein wenig den Kopf.

      Benjamin sagte: »Wer spricht von Siegen? Überstehn ist alles.«

      Sie schickte einen schrägen, etwas mißtrauischen Blick über ihn hin. »Was bedeutet das?« wollte sie wissen.

      Er erklärte, gleichsam um Entschuldigung bittend: »Es ist eine Zeile von Rilke. Sie ist mir gerade eingefallen.«

      »Von Rilke also.« Es schien sie etwas unruhig und verdrießlich zu machen. »Ich kenne es gar nicht – dabei habe ich doch viel von ihm rezitiert … Du hast immer ein passendes Zitat bereit!«