Auf getrennten Wegen. Christian Linberg. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Christian Linberg
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783754131602
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schreiende, grölende, jubelnde Menge stand um sie herum, die einen großen Platz füllte. Ein Karree war abgesperrt, das von einer Gruppe Bewaffneter frei gehalten wurde, die sich energisch mit Helmbarten gegen die Masse stemmte. In der Mitte befand sich ein gähnendes Loch in die Dunkelheit, wie ein Fenster in die ewige Nacht unter ihnen. Ein mächtiger eiserner Deckel lag daneben.

      „Werft sie hinein!“, ertönte der strenge Befehl.

      Soldaten rückten mit Spießen, Keulen und dornigen Schilden näher…

      …knirschend öffneten sich die mächtigen Steintore. Sie versanken langsam in den dafür vorgesehenen Spalten im Boden. Dahinter fiel das Licht der schwachen Morgensonne auf die gewaltigen Kriegszüge der Naurim. Eiserne Wagen, fahrende Türme, rollende Mauern. Ohne Zugtiere schoben sie sich schnaubend und zischend langsam aus der gewaltigen Öffnung in die eisige Luft davor…

      …Ein Fischerboot schob sich knirschend auf den Strand der schmalen Bucht. Statt Kisten mit Fischen zu entladen, sprangen bewaffnete Halunken von Bord, um an Land zu waten. Sie wurden von nervös wirkenden Gefährten begrüßt, die bereits neben einer Ladung Waren auf sie gewartet hatten: „lasst uns schnell machen. Die Sümpfe gefallen mir nicht. Irgendwas treibt sich hier herum.“

      „Das behauptest Du jedes Mal, aber die Leichensammler waren noch nie am Strand.“

      „Das Salzwasser bekommt ihnen nicht, sagt der Meister“, ergänzte ein Zweiter.

      „Weniger quatschen, mehr schleppen. Moraks Schmugglerhäscher suchen die ganze Küste nach uns ab.“

      „Da können sie lange suchen“, spottete ein zahnloser Greis.

      „Unterschätze die schwarzen Schiffe nicht. Es heißt, sie werden von Wasserdämonen geführt“, widersprach ein großer Mann mit mokkafarbener Haut.

      „Was habe ich gesagt? Mehr schleppen und…“

      „Was war das?“

      Alle hielten in ihrer Arbeit inne.

      Jiang musste lächeln, als sie Shadarrs knurren hörte.

      Er war in der richtigen Position…

      …Bilder, Geräusche, Gerüche, Wortfetzen, Sonnenlicht auf ihrer Haut, Gefühle von Wut, Angst, Verzweiflung, Stolz. Eindrücke von Tageszeiten, Orten, Plätzen. All das rauschte so schnell an ihr vorbei, dass sie nur wenige Ereignisse festhalten konnte. In ihrem Kopf rasten die Visionen umher, vermischten sich und verschwanden wieder oder verbanden sich auf neue Weise.

      Nur langsam gelang es ihr, Ordnung in das Chaos zu bringen.

      Mit ihrer mentalen Disziplin, Atemübungen und Meditation beruhigte sich die überwältigende Flut von Eindrücken wieder.

      Erst danach konnte sie einen Blick auf die Steine des I-Ging werfen. Überrascht stellte sie fest, dass es nicht die klassischen Elfenbeinsteine waren, sondern unterschiedliche. Jade, Gold, schwarzes Horn, Ebenholz, Silber, Blutstein, Saphir. Jeder Stein war ein Einzelstück. Das Schriftzeichen graviert und mit einem anderen, wertvollen Material ausgefüllt. Nur der Jadekaiser selbst besaß einen wertvolleren Satz der Wahrsagersteine, und auch nur, weil seine Steine größer waren.

      Vorsichtig strich sie mit den Fingerkuppen über die oberste Lage. Sie spürte die Vibrationen der Macht, die darin geborgen war. Ein Lächeln stahl sich in ihre sonst so beherrschten Gesichtszüge. Darum hätte sie sogar der Kanzler beneidet und selbst das Oberhaupt der Orakel von Jinchuan hätte ihr dafür einen Königsschatz angeboten. – Nicht, dass sie jemals verkaufen würde.

      Die Steine konnten Kriege entscheiden, Dynastien zu Fall bringen. Richtig verwendet waren sie fast so machtvoll wie Attravals Kompass.

      Nacheinander nahm sie jeden einzelnen heraus, um ihn von allen Seiten zu betrachten und anschließend wieder zurück zu legen.

      Als sie ihre Untersuchung beendet hatte, bemerkte sie Shadarr, der sie aus dem Schutz des Schilfmeeres heraus beobachtete. Wirklich sehen konnte sie ihn nicht, dazu war er zu gut verborgen. Es war mehr ein Gefühl seiner Anwesenheit. Das I-Ging hatte offenbar auch ihre Wahrnehmung geschärft.

      „Du hast mich bis hierher getragen, und vor allen Feinden und Raubtieren beschützt. Dafür danke ich Dir. Sind unsere Gefährten wohl auf?“

      Shadarrs leises Knurren klang für sie fragend.

      Er wusste es also nicht.

      „Drakkan?“

      Wieder ein unbestimmtes Knurren. Das war ungewöhnlich, denn die Verbindung zwischen beiden sollte eigentlich klare Aussagen möglich machen. Sie machte sich nun ernsthafte Sorgen um ihn. Wenn er…

      Nein, das hätte das I-Ging ihr sicher gezeigt. Sie hatte eine Vision von ihm gehabt. Da war sie sich sicher.

      „Kmarr?“

      Erleichtert wandte sie sich wieder an Shadarr.

      Dieses Mal war die Antwort eindeutig.

      „Gut.“

      Noch einer ihrer Freunde hatte wohlbehalten überlebt.

      Ganz war die Sorge um Drakkan noch nicht verschwunden, allerdings vertraute sie auf die Orakelsteine.

      Nach ihrer Einschätzung waren bereits mehrere Tage vergangen. Schnee hatte alle Spuren bedeckt, daher macht eine Umkehr, um sie zu suchen wenig Sinn, auch wenn sie lange darüber nachdachte.

      Schließlich versuchte Sie sich an die letzten Visionen zu erinnern. Das I-Ging hatte ihr gezeigt, dass sie zum Strand gehen würde. Damit stand für sie fest, dass sie genau dies auch tun würde, und zwar mit Shadarr, den sie in der Zukunft ebenfalls gesehen hatte. Von dort würde sie ein Schiff nach Hause nehmen.

      Sofern alles eintraf, was sie gesehen hatte, waren alle ihre Freunde mit dem Leben davon gekommen. Also konnte sie ihren Weg ohne schlechte Gefühle fortsetzen.

      Beinahe gelang es ihr, sich davon zu überzeugen.

      Zunächst galt es, Kräfte zu sammeln und sich zu reinigen.

      Der Dreck war äußerst unerfreulich. Mühsam, auf wackeligen Beinen sammelte sie Holz und Schilf, um das Feuer zu erneuern, dessen Reste neben ihr gebrannt hatten. Sie verspürte Hunger, doch im Gegensatz zu sonst hatte sie kein Interesse daran, etwas zu kochen.

      Sie zog die kalte Küche vor.

      Irgendwo hatte Shadarr eine komische Kreatur gefangen, die aussah, wie eine Kreuzung aus Frosch und Schlange. Sie filetierte das Wesen gekonnt und aß es roh, zusammen mit einer Portion kaltem Reis. Das Fleisch schmeckte erstaunlich gut. Süßlich mit einer fischigen Note. Leider war es nur einer und sie war wirklich hungrig. Also macht sie sich daran, die Vorräte weiter zu dezimieren. Shadarr hob zwischendurch träge den Kopf, blieb ansonsten aber ruhig liegen.

      „Hier lagern? Gut. Dann werde ich meditieren.“

      Jiang versuchte, sich zu entspannen, was ihr angesichts des Schmutzes nicht leicht fiel. Die Stärkung hatte dennoch ihr Übriges getan, ihr neue Kraft zu geben. Sie spürte allmählich Krankheit und Anspannung weichen, ersetzt durch die innere Ruhe, die sie benötigte, um ihre arkanen Energien zu erneuern.

      1 - 24 Jäger und Gejagte -

      Leider versprach der Morgen keine Besserung. Noch bevor die Sonne sich über den nebligen Horizont gequält hatte, hörten sie es beide: Das fauchende Geheul ihres Verfolgers.

      „Dann wollen wir ihm mal einen würdigen Empfang bereiten“, bemerkte Droin mit einer freudigen Anspannung in der Stimme: „Bleib in Deckung der Ruine. Wenn er uns nicht sieht, wird er nicht bis zur Dämmerung warten, sondern annehmen, wir wären weiter weg und unsere Fährte würde nur hier vorbei führen. Sieht er uns, wird er sich bis zur Nacht auf die Lauer legen.“

      Phyria blieb gehorsam in Deckung. Sie verstaute die Ausrüstung, während Droin begann, die Drachenrüstung anzulegen. Auch ohne Feuerkugel war sie ein wirksamer Schutz.

      „Du wirst den