kollateral. Robert Lang. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Robert Lang
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783753183886
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Nichts ist ihm gleichgültiger als das Wetter, aber mit seiner Bitte hat er im Gedächtnis des Wirtes seine Anwesenheit zu einer bestimmten Zeit verankert. Diese Uhrzeit wird sich bei Bedarf abrufen lassen.

      Er hält jetzt alle Fäden in der Hand. Von nun an wird es darauf ankommen, seine Karten wohlüberlegt und in der richtigen Reihenfolge auszuspielen. Niemand hat die Tat beobachtet. Es gibt keine Spur, die zu ihm hinführt. Zuhause vermisst ihn niemand, denn er hat sich bei seinen Nachbarn für eine längere Auslandsreise abgemeldet. Seine Rückkehr wird erst in ein paar Wochen erwartet werden, lange, nachdem diese Sache hier beendet ist.

      Oben im Haus, in der Schublade seines Nachttisches, liegen ein falscher Reisepass und ein ebenso falscher Führerschein. Sie sind die relativ preisgünstig erstandenen Eintrittskarten zu seinem neuen Leben.

      Es gibt keinen Grund mehr, noch länger hierzubleiben. Zufrieden setzt der Kidnapper das Bierglas an seine Lippen und trinkt es mit einem tiefen Zug leer. Dann winkt er den Wirt heran und bezahlt. Der zweite Akt kann beginnen.

       4

      Er sitzt in einem altmodischen, mit durchgewetztem Stoff überzogenen Armsessel, dessen verblasste Farben von einem langen Leben erzählen. Es ist still im Haus, sieht man von dem monotonen Geräusch des Regens ab, der auf das Dach fällt, und von einem gelegentlicher Windstoß, der durch die Äste der Fichten streicht, die hinter dem Haus stehen und dessen Rückfront umschmeicheln.

      Als er aus der Kneipe zurückgekommen ist, hat Britta in unveränderter Stellung auf dem Bett gelegen. Seit ein paar Minuten beginnt sie, sich von einer Seite auf die andere zu wälzen, wobei die Ketten an ihren Handschellen ein metallisches Klirren hören lassen.

      Sie wird noch die ganze Nacht unter den Nachwirkungen des Fausthiebs leiden, aber das wird ihr geringstes Problem sein. Er fragt sich, wie sie den Schock verarbeiten wird, wenn sie begreift, was geschehen ist. Die ersten Stunden sind wichtig, denn er braucht ein Mindestmaß an Kooperation.

      Er will ihr eine vernünftige Behandlung ohne unnötige Schikanen gewähren für den Fall, dass sie sich ruhig verhält. Sollte sie ihm Schwierigkeiten machen, dann ist er bereit, ihr zu zeigen, wie die Machtverhältnisse liegen. Er will mit dieser Macht so sparsam umgehen wie möglich, aber er wird kompromisslos von ihr Gebrauch machen, wenn Britta Stern seine Ziele in Gefahr bringt.

      Sie ist die Stieftochter des Mannes, den er am meisten verabscheut, seit dieser ihn wegen einer Bagatelle rausgeschmissen hat, und zwar mit der Drohung, ihn sogar vor Gericht zu zerren. Bornemann ist schuld daran, dass Britta und Langer heute hier sind.

      Kurz nach diesem Vorfall hat er ein Interview mit dem Unternehmer im Wirtschaftsteil einer Tageszeitung gelesen; demnach hofft der alte Drecksack, dass seine sehr vielversprechende Stieftochter eines Tages seine Firma weiterführen wird. Zu diesem Zweck studiert sie derzeit Betriebswirtschaftslehre an der Frankfurter Universität und hospitiert in der Firma.

      Mit diesem Wissen als Grundlage ist Marc Langer so lange auf dem Campus der Uni herumgelungert, bis er ihren Stundenplan auswendig kannte. Mehrere Male ist er ihr auf ihrem Heimweg bis kurz vor die Haustür gefolgt. Dort hat er sie ursprünglich kidnappen wollen – ein reichlich gewagtes Unterfangen. Doch dann hat er herausgefunden, dass sie beinahe jeden Abend um dieselbe Zeit in einem Park unweit ihrer Wohnung joggen geht. Er hat sich die Gegend gründlich angeschaut und seine Meinung geändert. Der abendliche Park ist der geeignete Ort.

      Während Britta langsam wieder zu Bewusstsein kommt, unterzieht er den Inhalt ihrer Gürteltasche, den er vor sich auf dem Tisch ausgebreitet hat, einer genauen Überprüfung; Ein Bund mit mehreren Schlüsseln, ein silbernes Handy (ausgeschaltet, dennoch entfernt er jetzt die Sim-Karte, weil er einmal gehört hat, dass diese Dinger auch im ausgeschalteten Modus angepeilt werden können. Er wird sie bei seiner nächsten Autofahrt entsorgen, wenn er es nicht vergisst); des Weiteren ein zerdrücktes Päckchen ultraleichter Zigaretten, zwei Tampons, einige Haarbänder, schließlich ein kleines Portemonnaie mit Hartgeld und eine Brieftasche mit hundertsiebzig Euro Bargeld, Ausweise, Führerschein und drei Kreditkarten, zwei in Gold, eine in Schwarz. Wozu sie diesen ganzen Kram beim Joggen benötigt, weiß wohl nur sie selbst. Zuletzt ein abgegriffenes kleines Adressbuch, das er vorläufig beiseitelegt.

      Wieder klirren die Ketten. Er blickt auf und stellt fest, dass sein Gast wach ist. Nun, vielleicht noch nicht ganz, aber Brittas Augen sind geöffnet und fixieren die Decke. Er sieht das intensive Dunkelblau ihrer großen Augen. Blondes Gift, denkt er, und der Gedanke löst eine leise Unruhe in ihm aus.

      Er steht auf, geht in die Küche, füllt ein Glas mit Leitungswasser und löst zwei Aspirin darin auf. Sie muss rasende Kopfschmerzen und einen höllischen Durst haben.

      Sie reagiert nicht, als er ihr Blickfeld kreuzt. Er kann sehen, dass ihre Augen verquollen und gerötet sind, wahrscheinlich eine Folge des Chloroforms. Nur langsam! Es gibt keinen Grund, die Dinge übermäßig zu forcieren.

      Ihr ausdrucksloser Blick erfasst ihr linkes Handgelenk und die mit einer Imitation von Samt gepolsterte Handschelle (die eigentlich frivoleren Zwecken dient und die man deshalb in einschlägigen Geschäften erwirbt) und versucht, dem Lauf der Kette zu folgen, die hinter dem Kopfende ihrem Blickfeld entschwindet. Mit Mühe wendet sie den Kopf nach rechts und findet dort das gleiche Bild vor. Die mit dieser Beobachtung verbundenen Fakten scheinen noch nicht vollständig zu ihr vorzudringen.

      „Wo bin ich?“ - „Sie sind entführt worden. Ich werde Ihnen alles erklären, wenn Sie ganz wach sind, okay?“

      Er setzt sich auf die Bettkante, hilft ihr in eine aufrechte Position und beginnt, ihr den Inhalt des Glases einzuflößen. Sie trinkt in kleinen Schlucken, wobei sich ihre Gesichtszüge verzerren, ob vor Schmerz oder aus Ekel (oder beidem), ist nicht zu entscheiden. Er stellt das halbleere Glas auf den Nachttisch und lässt ihren Kopf vorsichtig zurück auf das Kissen sinken. „Eins nach dem anderen“, sagt er nochmal, „kommen Sie erst einmal zu sich.“

      Sie bleibt stumm und starrt wieder zur Decke. Ihr Entführer geht zurück zu seinem Sessel, trinkt einen Schluck Wodka Orange und zündet sich eine Zigarette an. Augenblicklich fing sie an zu husten. „Was rauchen Sie denn für einen Mist!“ Sein Gast wird munter; und der erste Kontakt ist hergestellt.

      Es ist kurz vor halb elf. Wenn er vor Tagesanbruch noch genügend Schlaf bekommen will, muss er bald mit ihr reden und sie mit ihrer neuen Lage vertraut machen. Sie soll die Regeln lernen, nach denen dieses für sie beide wichtige Spiel funktionieren kann.

      Er greift nochmals nach ihrem Adressbuch. Richtig, da ist etwas, an das er nicht gedacht hat. Es ist ihm in der ganzen Zeit, in der er seinen Coup geplant hat, nicht gelungen, die private Telefonnummer von Britta Sterns Stiefvater herauszufinden. Sie steht in keinem Telefonbuch, die Auskunft rückt sie nicht heraus und die elektronischen Verzeichnisse im Internet geben auch nichts her. Eine Geheimnummer, um den Pöbel fernzuhalten - Pöbel wie ihn.

      Doch in diesem kleinen Büchlein bekommt er die Nummer frei Haus geliefert, unter „Didi“. Sie findet sich innen auf der Einbandseite und nicht im alphabetisch geordneten Teil, warum auch immer. Er denkt ein wenig über seine Entdeckung nach und kommt zu dem Schluss, dass ihm diese Telefonnummer eine ganze Nacht und einen halben Tag kostbarer Zeit einsparen wird. Wenn er im Lauf der nächsten Stunden einen Brief mit seinen Forderungen beim Empfänger einwirft und dann einen kurzen Anruf tätigt, um diesen Empfänger darauf hinzuweisen, dass sich etwas im Briefkasten befindet, dann …

      „Warum ich?“ Er schreckt aus seinen Betrachtungen auf und schaut zum Bett, wo sich Britta gerade in eine bequemere Stellung bringt. Ihre Stimme ist jetzt fester. Die Tabletten und das Wasser tun ihre Wirkung.

      „Es geht um Geld.“ Das ist zwar nicht ganz falsch, trifft aber auch nicht den Kern der Sache. Keine Antwort, stattdessen nur ein verdrossenes Gesicht, so als langweile sie das. Sie hat ihn noch nicht erkannt, obwohl die Wahrscheinlichkeit nicht gering ist, dass sie ihn in der Firma ihres Vaters oder später einmal auf dem Unigelände gesehen hat.

      Oder auch nicht - wenn man Britta Stern heißt, dann schwebt man hoch über den Niederungen, in denen sich ein Marc Langer bewegt. Sie pflegt Aushilfen, die in ihrer Firma zum