kollateral. Robert Lang. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Robert Lang
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783753183886
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er das Glück gehabt, schnell einen neuen Job zu finden, mit besserem Arbeitsklima, besserer Bezahlung und freier Zeiteinteilung. Aber das hat seinen Zorn und das unangemessene Gefühl persönlichen Versagens nicht lindern können. Es spukt weiter in seinem Kopf herum.

      In seinen Tagträumen phantasiert er gelegentlich davon, dieser Sekretärin ein Paket mit einer toten Ratte zu schicken; oder Bornemanns Büroräume zu verwüsten, nachts, als Reinigungskraft getarnt. Oder – das hat er gelesen – er könnte wegen der vielfach gefälschten Stundenbelege für die Aushilfen in Bornemanns Betrieb eine Selbstanzeige beim Landesarbeitsamt einreichen. Dann käme er selbst straffrei davon, aber der Alte hätte eine Betriebsprüfung am Hals, samt Strafe und hoher Nachzahlungen an Sozialversicherungsbeiträgen.

      Vorgestern hat er zufällig die Stieftochter des Unternehmers auf dem Unicampus gesehen, wo sie vermutlich auf dem Weg in eine Vorlesung oder ein Seminar gewesen ist. Seither denkt er an sie, und seine Gedanken kreisen um alle möglichen Schandtaten, die er ihr antun könnte. Er hat sie ein- oder zweimal in der Firma gesehen, aber sie hat keinerlei Notiz von ihm genommen. Wozu sollte sie auch? Ihn und sie trennen ganze Universen.

      Irgendwie wird er den Impuls nicht los, ihr – und damit dem Alten – Schaden zuzufügen. Aber das ist reiner Unfug. Was soll er schon tun? Ihren Aktenkoffer stehlen? Sie mit dem Fahrrad anfahren? All das ist albern und letztlich brotlose Kunst. Will er vielleicht noch eine Anzeige riskieren?

      Aber derlei Gedanken lassen sich nicht abwimmeln, wenn man mit seinem Schicksal hadert. Er denkt daran, wenn er unter der Dusche steht, und er denkt daran, wenn er sich wie heute wenig stilvoll betrinkt. „Hör auf zu träumen, Junge!“ Wenn es nur so einfach wäre.

      Was hat Claudia gesagt, als sie ihm den Laufpass gab? „Du bist unreif, du sehnst dich nach etwas, was du nicht benennen kannst. Und du bist ins Scheitern verliebt.“ Dazu hat er keine Meinung. Diese drei Dinge sind wohl nur unterschiedliche Aspekte einer einzigen Sache, wenn sie überhaupt zutreffen. Aber welcher?

      Später am Abend sitzt er vor dem Fernseher und sieht sich beiläufig einen Krimi an, während er auf seiner Gitarre ein paar Akkordfolgen spielt, mit denen er einen vor einigen Tagen geschriebenen Songtext rhythmisch unterlegen will. Er kommt nicht wirklich zurecht damit, und so schweift sein Blick immer wieder zum Fernseher ab. Der Film handelt von einer Kindesentführung, und die Eltern des Mädchens sind verzweifelt. Auch die Polizeibeamten wissen keinen Rat, besonders, weil nach inzwischen drei Tagen und Nächten noch keine Lösegeldforderung eingegangen ist. Das lässt schlimme Befürchtungen aufkommen.

      Endlich hat er eine Idee, wie er den Song gestalten kann (nur beim Refrain klemmt es noch, ohne dass er so genau weiß, woran es liegt), und der Krimi ist wieder vergessen. Zumindest bis zu dem Moment, in dem er sich leicht angetrunken aufs Bett legt und einzuschlafen versucht.

      Doch dann, irgendwo im Niemandsland zwischen Wachsein und Schlaf, hat er urplötzlich ein Bild vor Augen, das ihn dazu veranlasst, sich blitzartig aufzusetzen. Er denkt einen Moment über dieses Bild nach, legt sich wieder hin, und kurz, bevor er endgültig einschläft, hat er eine vage Vorstellung davon, wie er sich seine Selbstachtung zurückholen kann.

       2

      An diesem Abend sitzt Kommissar Schuchardt von der Mordkommission der Kripo Frankfurt in seiner spärlich eingerichteten Dreizimmerwohnung im Frankfurter Westend und isst zu Abend.

      Er denkt mit einigem Verdruss über seinen gegenwärtigen Fall nach, einen Mord in der Drogenszene der Stadt. Die gibt es hin und wieder, und normalerweise geben sie nur wenig her, was einen Polizisten mit seiner langjährigen Erfahrung besonders beansprucht.

      Er hat nach Dienstschluss keine Lust, für sich allein zu kochen; wenn er einmal Appetit auf etwas Deftiges hat, geht er von seinem Büro aus in eine der Studentenkneipen im benachbarten Universitätsviertel (oder das, was noch davon übrig ist), isst Hackbraten mit Bratkartoffeln oder ein Rahmschnitzel mit Pommes Frites. Das ist es schon mit der Abwechslung, Essen bedeutet ihm nicht viel und er erledigt es wie einen Job, den er zu verrichten hat, um fit für den Alltag zu bleiben.

      Und sein Alltag ist im Moment die Leiche eines 24-jährigen jungen Mannes, der mit einer Einwegspritze im Nacken tot auf der Toilette im Untergeschoss des Hauptbahnhofs gefunden worden ist, von einer rumänischen Putzfrau, die bei seinem Anblick so schockiert war, dass man sie zur Beobachtung in die psychiatrische Abteilung der Universitätsklinik bringen musste. Also der ganz normale Wahnsinn, denkt Schuchardt.

      Etwas ist an diesem Mord, das ihn nicht zur Ruhe kommen lässt. Die Spritze, Heroin - mit einer ganzen Portion Strychnin versetzt - ist dem Jungen von jemandem verabreicht worden. Der vom Pathologen beschriebene Einstichkanal beweist, dass er es nicht selbst bewerkstelligen konnte („Ich scheiße auf Ihren Einstichkanal!“, hat sein Boss ihn angeschnauzt, nachdem er wegen dieser Sache bei ihm vorstellig geworden ist. „Haben Sie nichts Besseres zu tun?“).

      Aber Schuchardt mag keine unerledigten Fälle, und er glaubt nicht, dass einer seiner Kollegen, wenn er an seiner Stelle ermitteln sollte, sich große Mühe geben wird, der Sache wirklich auf den Grund zu gehen. Einen Selbstmord oder auch einen Mord unter drogensüchtigen Bahnhofsstrichern aufzuklären ist nichts, wofür man Lametta an seine Uniform gehängt bekommt. Es ist eine Routinesache in einem Milieu, um das man sonst gerne einen großen Bogen macht.

      Doch da ist etwas bei der Befragung von eventuellen Zeugen gewesen, das ihn hat aufmerken lassen. Die kleinen Dealer, mit denen er redet, machen einen verschüchterten Eindruck, als er sich nach dem Verstorbenen erkundigt, Blicke werden verschleiert, Mienen umwölken sich, Stimmen klingen belegt, es wird eher geraunt als gesprochen.

      Und ein windiger Geschäftsmann, dem drei Puffs in diesem Viertel gehören und der trotzdem keinen Cent Steuer bezahlt, sagt etwas zu ihm, das auch als Drohung verstanden werden kann, ist aber trotz Aufforderung nicht dazu bereit, das Gesagte zu wiederholen oder näher zu erläutern. Irgendetwas ist an dieser Sache faul, und Schuchardt kommt vorläufig nicht dahinter, was es ist.

       3

      Britta Stern schaut immer wieder nervös über ihre Schulter, aber da ist niemand. „Verdammt“, murmelt sie, und als sie die Haustür erreicht hat, schiebt sie nervös den Schlüssel ins Schloss und öffnet.

      Sie fängt an, paranoid zu werden. Ein Stalker? Ein Student, der ihr nachstellt? Sie fühlt sich seit Wochen immer mal wieder beobachtet, aber sie sieht nie jemanden, der ihr folgt. Wahrscheinlich liegt es an ihrem unkonventionellen Nebenjob. Man hat ihr vorgeschlagen, diesen Job wahlweise in Mannheim, Karlsruhe oder Stuttgart zu verrichten, wenn ihr Frankfurt zu gefährlich ist, aber das hat sie bisher abgelehnt. Lange Auto- oder Zugfahrten sind nicht ihre Sache. Ihr Tagesablauf ist präzise durchgeplant, es gibt da nur wenig Spielraum. Sie hat vor, ihr Studium in Rekordzeit zu beenden; die Nebenbeschäftigung bei einer Escort-Agentur ist ihr deshalb nur logisch erschienen, denn sie muss nur am Wochenende arbeiten, und – was noch erheblich reizvoller ist – sie verdient in einer Nacht mehr Geld als ihre bedauernswerten Mitstudentinnen mit zwei Wochen Plackerei am Fließband einer Fabrik. Das leichte Geld ist da, aber sie sehen es nicht.

      Im dritten Stock angekommen, schließt sie ihre Wohnungstür auf, schaltet das Licht ein und stellt ihren Aktenkoffer auf den Schreibtisch. Heute Abend hat sie noch dreißig Seiten „Investition und Finanzierung“ durchzuarbeiten, aber sie wird nicht damit anfangen, bevor sie joggen war und danach geduscht und gegessen hat. Das Wetter ist nicht einladend, aber das ist kein Hindernis. Es ist eben Herbst.

      Ihre Nike-Laufschuhe haben nicht mehr allzu viel Profil. Sie notiert es auf ihrer To-Do-Liste, die sie akribisch führt und genauso akribisch abarbeitet. Sie mag Ordnung in ihren Dingen, und das fängt mit den einfachsten Angelegenheiten an. Ausgeschlafen sein (außer, wenn sie in den Nachtstunden jobbt), Körperpflege, Einkaufen, Studium, Bekanntschaften (mehr ist da nicht, denn Freundschaften bedeuten einen inakzeptablen Zeitaufwand), einmal im Monat Besuch bei ihrer Mutter, der sie mit Respekt, aber ohne viel Zuneigung gegenübersteht, und ihrem Stiefvater, den sie nicht mag, in dessen Fußstapfen sie aber nach Beendigung ihres Studium treten wird, wenn alles so läuft wie geplant.

      Sie