Haus der Geheimnisse. Rita Hajak. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Rita Hajak
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783738065367
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grüßend die Hand.

      Er liebte seine Mutter und sie ihn. Das zeigte sie ihm deutlich. Seit seinem zehnten Lebensjahr hatte sie ihn alleine großgezogen. Sein Vater war damals auf und davongegangen. Ihm war das Leben, das sie führten, zu langweilig geworden. Er war ein Abenteurer. Nie wieder hatte er etwas von sich hören lassen. Sie hatte lange Zeit hart arbeiten müssen, um ihnen einen gesicherten Lebensstandard bieten zu können. Markus hatte sehr darunter gelitten, plötzlich ohne Vater zu sein. Seine Mutter hatte sich ihm zuliebe keinen neuen Partner gesucht. Sie wollte jeden Konflikt vermeiden. In einer stillen Stunde hatte sie es ihm anvertraut. Markus hatte gehofft, sie würde doch noch einen neuen Lebensgefährten finden, aber sie wollte nicht. Er war Anfang dreißig. Seine Mutter hatte das Rentenalter erreicht. Was würde sein, wenn er irgendwann das Haus verließe? Würde seine Mutter zurechtkommen? Ihre Rente war klein. Er jedoch verdiente als Anwalt gut. Deshalb steckte er seiner Mutter jeden Monat einige Scheine zu. Sie hatte lange Jahre auf viele Dinge verzichten müssen. Jetzt sollte sie auch mal an sich denken und sich einige Wünsche erfüllen können.

      Drei

      Völlig verkrampft kauerte Katja auf ihrem Sitz und presste angstvoll die Lippen aufeinander. Nach dem Tod ihrer Eltern hatte sie eine gewisse Flugangst. Aber sie hatte eingesehen, dass es die schnellste Verbindung nach London war. Sie wollte stark sein und ihrer Angst die Stirn bieten. Zu ihrer Erleichterung verlief der Flug ruhig. Allmählich löste sich ihre Anspannung. Erst jetzt nahm sie die anderen Passagiere der voll besetzten Maschine wahr. Verstohlen blickte sie zu ihrem Sitznachbarn, der gemütlich zurückgelehnt in einem Buch las.

      Sie schloss die Augen und döste vor sich hin. In der vergangenen Nacht hatte sie vor Aufregung kaum geschlafen. Sie musste an Markus denken. Er liebte sie. Aber liebte sie ihn auch? Darüber hatte sie sich bisher keine Gedanken gemacht, sah in ihm nicht mehr als einen engen Freund. Sie kannte ihn seit zehn Jahren, seit sie mit ihren Eltern in das Haus neben ihm gezogen war. Sie sind zusammen ins Kino oder in die Disco gegangen. Auch bei den Schulaufgaben war er ihr oft behilflich gewesen. Mit der Zeit hatte sich eine wunderbare Freundschaft entwickelt. Als sie vor drei Jahren von ihrem Freund verlassen wurde, war er es, der sie getröstet hatte. Aber musste sie ihn deshalb lieben? Allerdings fiel ihr der Abschied heute Morgen auch nicht gerade leicht. Markus hatte es sich nicht nehmen lassen, sie zum Flughafen zu begleiten. Sie seufzte und musterte den Mann an ihrer Seite.

      Er schien ihren Blick gespürt zu haben. »Kann ich Ihnen helfen?« Seine Stimme klang warmherzig.

      Katja schämte sich, als ihr bewusst wurde, dass sie ihn eine ganze Weile angestarrt haben musste. Eine leichte Röte flog über ihr Gesicht. »Entschuldigen Sie, ich war in Gedanken. Es ist alles in Ordnung.« Sie hatte keine Lust, sich mit ihm zu unterhalten. Dennoch wirkte dieser Mann beruhigend auf sie. Wie alt mochte er sein? Um die Dreißig, wie Markus, dachte sie flüchtig.

      Der junge Mann lächelte belustigt. Er schien ihr kein Wort zu glauben. Sicher hätte er gerne mit ihr geplaudert. Aber worüber? Über ihre Trauer? Über Markus? Er war ein Fremder für sie.

      Entschieden wandte sie ihr Gesicht zur Seite und schaute aus dem kleinen Fenster auf die dichte Wolkendecke. Sie wollte ihre Ruhe haben und schloss die Augen. Sie erwachte erst, als die bevorstehende Landung des Flugzeugs angekündigt wurde. Unmittelbar danach ebbte das Geräusch der Turbinen etwas ab, und sie spürte am Druck in ihren Ohren, dass die Maschine an Höhe verlor.

      Katja atmete erleichtert auf, als das Flugzeug sicher gelandet war. Der junge Mann nickte ihr zum Abschied freundlich zu. Sie nickte lächelnd zurück.

      Die weiterreisenden Passagiere fuhren mit der Express-Bahn in kurzer Zeit direkt in den Bahnhof von Paddington ein. Der Zug nach Cornwall stand abfahrbereit am Bahnsteig.

      Katja hatte einen Fensterplatz gefunden und schaute nachdenklich hinaus. Links und rechts neben den Gleisen erhoben sich blühende Büsche und Hecken, die wenig Blick auf die Umgebung freigaben. Ein schöner, weiter Ausblick auf die Landschaft bot sich ihr bei der Überfahrt einer hohen, aus hellem Stein gemauerten Brücke. Unter ihr sah sie saftige, grüne Wiesen und bunte Blumen.

      Sie fragte sich, was sie bei Tom Graham wohl erwarten würde. Über sein Privatleben wusste sie wenig. Er war Witwer und hatte einen Sohn in ihrem Alter. Mehr wollte er anscheinend nicht preisgeben. Während ihrer Studienzeit an der Hamburger Universität hatte sich zwischen ihnen beiden ein warmherziges Verhältnis entwickelt. Mr. Graham hielt dort als Gastprofessor viele Jahre Vorlesungen in Kunstgeschichte, einem ihrer Lieblingsfächer. Kurz vor seinem sechzigsten Geburtstag trat er in den Ruhestand und kehrte nach England zurück. Ob sie sich richtig entschieden hatte, dorthin zu reisen? In ein fremdes Land, wo sie außer ihm niemand kannte?

      Sie verwarf ihre negativen Gedanken und beschloss, sich auf den bevorstehenden Besuch zu konzentrieren. Neugierig war sie schon. Es wäre ihr nur lieber gewesen, sie hätte mehr über die Familie gewusst.

      Ein Bahnangestellter schob den Getränkewagen durch den Gang. Katja genehmigte sich eine Tasse Kaffee.

      Nach einer langen Fahrt trudelte der Zug in das Provinzstädtchen in Cornwall ein. Hastig nahm sie ihre Koffer an sich, stieg aus und verließ das Gebäude. Draußen hatte sie direkten Blick auf das Meer. Es war neblig. Ein kühler Wind wehte ihr ins Gesicht.

      Aus einiger Entfernung vernahm sie das Motorengeräusch eines Bootes, vermutlich ein Fischkutter. Es roch nach Fisch und Tang, was auf den nahe gelegenen Hafen schließen ließ. Eine Schar Möwen kreiste über dem Wasser, als erhofften sie, einige Leckerbissen zu ergattern. Katja blickte sich nach dem Wagen um, der sie nach Lands End bringen sollte. Sie sah einen älteren Mann in dunkler Bekleidung auf sie zueilen. Sie vermutete, dass er im gleichen Alter war wie der Professor.

      Mit einer steifen Verbeugung stellte er sich als John Taylor vor. »Sie sind Miss Berghoff?«

      Sie nickte freundlich und reichte ihm die Hand, die er ziemlich rasch wieder losließ. Etwas an ihm störte sie. War es der feindselige Blick? Vielleicht lag es auch an ihr. Seit dem Unglück war sie kaum mit Menschen zusammengekommen und reagierte wohl etwas überempfindlich. An der Sprache konnte es nicht liegen, die beherrschte sie perfekt. Während Mr. Taylor ihr Gepäck verstaute, ließ sie sich in die weichen Polster des Wagens sinken.

      Es war bereits Mittag. Allmählich löste sich der Nebel auf. Sie fuhren durch einige Dörfer, die freundlich wirkten. Die Häuser aus dunklem Gestein waren aneinandergereiht, wie an einer Kette. In den Vorgärten blühten farbenfroh die letzten Sommerblumen.

      Die Straße wurde schmaler.

      »Wir sind gleich da«, sagte ihr Chauffeur, der während der Fahrt geschwiegen hatte. Jetzt öffnete er das Schiebedach des Wagens. Katja konnte das Meer riechen. Ein Schwarm Seevögel flog mit durchdringendem Geschrei über sie hinweg. Sie warf ihnen einen verträumten Blick hinterher.

      Endlich waren sie in Lands End angekommen. Taylor bog auf ein großes mit Koniferen umrandetes Wiesengrundstück ein, auf dem viele Sträucher blühten und mehrere Obstbäume standen. Er lenkte den Wagen über einen Kiesweg vor den Hauseingang. Rosenstöcke säumten die Einfahrt. Die Sonne zeigte sich blass und hatte ihren höchsten Stand erreicht. Katja war beeindruckt. Ebenso von der zauberhaften Villa mit dem Türmchen und dem mit Schiefer gedeckten Dach. Durch die vielen, kleinen Winkel und Ecken des Hauses sah es aus wie ein verwunschenes Märchenschloss.

      Sie war bereits ausgestiegen, als sich die Haustür öffnete und eine große, schlanke Frau heraustrat, die vermutlich den Zenit ihres Lebens schon überschritten hatte. Sie sah hübsch und gepflegt aus. Ihr schwarzes Haar war zu einer schicken Hochfrisur aufgesteckt.

      Sie kam Katja entgegen und reichte ihr die Hand. »Schön, dass Sie da sind, Miss Berghoff«, sagte sie höflich. »Ich hoffe, Sie hatten eine angenehme Reise.« Ihrer Stimme war nicht zu entnehmen, ob sie sich über den Besuch freute.

      »Vielen Dank«, erwiderte Katja, »auf jeden Fall war es eine lange Reise.«

      Die Frau schenkte ihr ein kurzes Lächeln und stellte sich vor:

      »Mein Name ist Mary Lindslay, ich kümmere mich