»Nicht anfassen, Frederik!«, klang es da auch schon hinter ihm. »Es könnte herunterfallen, dann ist es kaputt«, mahnte der Großvater. Er war Biologe gewesen und hatte bis zu seiner Pensionierung am Zoologischen Institut gearbeitet. Von seiner eigenen kleinen Sammlung mochte er sich aber nicht trennen und brachte von seinen Wanderungen und Urlaubsreisen immer etwas Interessantes mit, was er daheim näher studierte.
So reichten die Regale vom Boden bis zur Decke, waren voller gesammelter Objekte und Zeugnisse eines lebenslangen Interesses an der Natur und ihren Wesen. »Warum sind die Tiere in Wasser? Sind sie nicht tot, müssen sie auch trinken?«, fragte Frederik. Keine Frage, das Kind war aufgeweckt. Der Großvater lachte. »Nein, sie müssen nicht trinken und das sieht zwar aus wie Wasser, aber es ist Alkohol. Das konserviert sie.« »Was ist konserviert?«, wollte Frederik wissen, denn er konnte den Zusammenhang nicht begreifen. »Ah, konservieren heißt, etwas haltbar machen für eine lange Zeit. Das geht zum Beispiel mit Alkohol, dann halten die Objekte und verfallen nicht. Man hält also ein bisschen die Zeit an, sozusagen«, erklärte er seinem Enkel. »Sie bleiben dann so wie sie sind und du hast sehr lange etwas davon. Du kennst auch Konserven, oder? Bestimmt hast du bei deiner Mama in der Küche schon gesehen, dass sie eine Konservendose aufgemacht hat, zum Beispiel mit Ananasstückchen drin oder mit Tomaten?« Frederik nickte heftig, das kannte er und da naschte er auch immer ein Stückchen süße Ananas oder eine Mandarine. »Damit man sie immer anschauen kann, liegen sie in Gläsern und nicht in Konservendosen und sie schwimmen in Alkohol.« Das hatte Frederik nun verstanden, doch jetzt wollte er noch viel lieber süßen Früchtetee und von den Plätzchen naschen. Und natürlich eine schöne Geschichte hören, damit die Zeit bis zu den Geschenken schneller vorbei ging.
Der Großvater holte das dicke Märchenbuch hervor und las ihm die Geschichte von der Eiskönigin und dem kalten Herzen vor. Noch bevor sie das Ende erreichten, klingelte von unten das Glöckchen und das war wie Musik und da war kein Halten mehr. Frederik flog die Treppe herunter und der Großvater hinter ihm her, mehr aus Appetit auf die gebratene Gans als aus Sehnsucht nach Geschenken. Wie sich das im Alter relativiert, dachte er bei sich, da setzt man so profane Prioritäten wie Essen, das ist schon witzig.
Nach dem schönen Weihnachtsessen war Bescherung und Frederik durfte seine Geschenke auspacken und damit spielen. Besonders die Ritterburg hatte er sich sehnlichst gewünscht. Die Erwachsenen saßen noch beim Kaffee beisammen und erzählten von vergangenen Weihnachten und verglichen früher mit heute, als der Großvater zum Baum hinüber zeigte. »Euer Sohn liegt unterm Baum, man sieht nur nach seine Füße, haben sich die Ritter im Wald verirrt, Frederik?«, lachte er.
Frederik robbte zurück, in der Hand eine Flasche mit einem alten Etikett. Der Großvater verfärbte sich und wurde blass, er rang nach Luft. Sein Vater sprang auf, »um Himmels Willen, Frederik, was hast du gemacht?« Er nahm ihm die Flasche ab, auf deren Etikett LAPHROAIG 1815 stand, darin schimmerte noch ein goldfarbener Rest des fast 200 Jahre alten Whiskys, der sich seit vier Generationen im Besitz der Familie befand. Eine unvergleichliche Note nach Torf und Rauch der schottischen Insel Islay entsprang der Flasche, diesem außergewöhnlichen Single Malt. Es war im Jahr 1840, als sich ihr Vorfahr mit einer botanischen Expedition auf den Weg gemacht hatte nach Schottland zu dieser kleinen vom Sturm gepeitschten Insel Islay vor der Westküste, die südlichste Insel der Inneren Hebriden. Hier war er eines Tages, während ein verheerender Sturm wütete, und die Ausrüstung der Expedition fast vollständig zerstört wurde, mit den Männern in die abgelegene Destillerie geflüchtet. Die damaligen Besitzer hatten sie, die Deutschen, herzlich aufgenommen und ihnen Zuflucht gewährt, sie hatten sich ihrerseits revanchiert mit ihrem technischen Knowhow und tatkräftig in den folgenden Tagen bei der Whisky-Herstellung mit angepackt und den schweren Torf abgestochen. So war eine Freundschaft entstanden zwischen den Brüdern Donald und Alexander Johnston und ihrer Familie, die noch viele Jahrzehnte Bestand haben sollte. Zum Abschied erhielten die Männer als Dank jeder eine Flasche vom besten LAPHROAIG Single Malt. Was wohl mehr als Wegzehrung gedacht war, nahm sein Vorfahr mit nach Hause, als Andenken an eine warmherzige, tatkräftige Gastfreundschaft auf der kleinen, rauen schottischen Insel. Von Generation zu Generation war die Flasche vom Vater an den Sohn weitergegeben worden mit dieser Familiengeschichte. So sollte auch Frederik sie eines Tages bekommen.
»Ich habe den Weihnachtsbaum damit gegossen, ich will, dass er ewig hält und nie mehr weggeht. Es ist Alkohol und der konserviert – für immer!«, rief Frederik den Tränen nah und so sehr wünschte er sich, dass Weihnachten nie mehr aufhören sollte.
Die Mutter nahm Frederik in den Arm, »Weihnachten kommt doch jedes Jahr wieder und es ist nur schön, wenn man sich darauf freuen kann und im Sommer spielst du doch mit deinen Freunden viel lieber draußen und die Ferien verbringen wir am Meer, da passt doch der Weihnachtsbaum so gar nicht hin.«
Großvater und Vater blickten sich an, die Bestürzung und der erste Schreck waren einem Schmunzeln gewichen. »Die Geschichte bleibt uns auch so erhalten in der Familie, wir behalten einfach die leere Flasche als Andenken. Und den Rest, hm, nun ja, lasst uns wenigstens den genießen!« Mit diesen Worten nahm der Vater drei Gläser aus der Vitrine und goldgelb entfaltete sich darin der edle Tropfen. Er roch herrlich nach Torf und Rauch und war wunderbar weich wie das Wasser des Kilbride Streams, mit dem er hergestellt wurde.
Der Whisky machte dieses Weihnachtsfest zu etwas ganz Besonderem. Und noch viele Jahre später wurde an jedem Weihnachtsfest herzlich gelacht über Frederiks Versuch, den Weihnachtsbaum ›haltbar‹ zu machen, es wurde Tradition in der Familie. Dabei gehörte dann ein Glas guten Whiskys zum Abschluss jeden Weihnachtsfestes in Gedenken an die wunderbare Gastfreundschaft der Schotten in einem wilden Sturm auf Islay fortan dazu.
Leuchtfeuer
Sebastian Steffens
Aus Liebe kann manchmal Unglaubliches passieren.
So wie mir.
Ich hätte es mir niemals vorstellen können aber es ist nun vier Jahre her, seit ich aus Liebe vom quirligen Hamburg in die Einsamkeit umgesiedelt bin. Einsamkeit? Nein, das könnte falscher nicht sein. Seit dem Tag, an dem ich Kathy kennengelernt habe, war ich nie mehr einsam. Kathy. Rote, wuschelige Haare, ein unglaubliches Lächeln und grüne, tiefe Augen. Es wäre wohl kitschig zu sagen, dass ihre Augen so waren, wie das Meer in dem ihre Heimat liegt, die Isle of Mull, Teil der Inneren Hebriden vor der Westküste Schottlands. Kitschig, aber wahr. Kathy wurde dort in Tobermory geboren, hatte in Glasgow studiert und ist dann doch wieder dorthin zurückgekehrt. Ihre Eltern hatten Hilfe auf ihrem Bauernhof gebraucht, der auch eine kleine Bed and Breakfast Pension war. Aber das war nur die halbe Wahrheit. Die ganze Wahrheit ist, dass Kathy die Schafe und Ziegen auf dem Hof liebt, die Seeadler und Seelöwen an der Küste und die Wale und Delphine davor. Sie liebt das Grün der Insel im Frühjahr und ihre Wildheit im Winter. Kathy und Mull sind untrennbar. Im Mai vor fünf Jahren machte ich eine Motorrad-Tour durch Schottlands Westen. Ich hatte nicht damit gerechnet, wie kalt es zu der Zeit dort noch werden konnte. Kalt und Nass. Mit der Autofähre von Oban an der schottischen Küste war ich aus einer Laune heraus nach Craignure auf Mull übergesetzt. Ich wollte eine kleine Rundtour über die Insel machen und dann vielleicht einen Bootsausflug nach Staffa. Einmal Fingals Cave und die Basaltsäulen sehen. Als Schreiber braucht man Inspiration und was kann einem Autor von historischen Romanen mehr inspirieren, als diese Landschaft, die schottischen Burgen und die Vorstellung, dass hier schon die Römer und später die Angelsachsen auf die Pikten trafen und dann die Engländer auf die Schotten? Von den Wikingern gar nicht zu reden. Aber ich schweife ab. Jedenfalls hatte ich eine romantische Vorstellung von der ganzen Umgebung, die durch Kälte und Nässe jäh in die Gegenwart zurückgeholt wurde. Wissen Sie, wie kalt und nass es sein kann, auf einer schottischen Insel? Wenn Sie mit dem Motorrad unterwegs sind? Ich muss erbärmlich ausgesehen haben, als ich irgendwo hinter Aros durch das hoffnungslos beschlagene Visier meines Helmes zufällig ein B&B-Schild an der Straße sah. Colin und Fiona haben mich rührend mit einem Kaminfeuer, Decken und heißem Tee aufgepäppelt und mir am Abend noch einen zehnjährigen Ledaig eingeflößt - »zum Warmhalten von innen«. Das Zittern hatte dann