Schnitt. Carl Wolf. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Carl Wolf
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783754132708
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      Zellmann zuckte die Schultern und lief zur Wohnungstür, an der es Sturm klingelte. Er öffnete sie und betätigte zeitgleich den automatischen Türöffner. Er hörte wie die Haustür aufgestoßen wurde und Kriminalhauptkommissar Witten die Treppen nach oben gerannt kam.

      „Das Opfer lebt“, schrie Zellmann nach unten.

      Der Hall von Wittens Schritte im Treppenhaus wurde gemäßigter.

      34

      Nachdem die Sanitäter Konrad Norden und Rolf Witten verarztet hatten und wieder verschwunden waren, saßen sich beide am Esstisch gegenüber. Witten musterte sein Gegenüber kritisch. Sichtlich nervös, mit flackernden Augen zappelte dieser auf seinem Stuhl herum. Seine Finger trommelten einen unrhythmischen Takt auf der Tischplatte. Schwarze Ringe unter den Augen zeugten von unzureichendem Schlaf und fehlender Erholung. Der kahl geschorene Schädel verbesserte das Gesamtbild nicht.

      „Jetzt sitzen wir hier. Sie ohne Haare und ich mit blutiger Nase. Und ich weiß nicht, wie ich zu dieser Ehre komme.“

      Witten schlug mit der flachen Hand auf den Tisch. Seine Nase schmerzte, sein Hemd war vom Blut verschmutzt und er war wütend.

      Zellmann stand an der Tür zur Terrasse und beobachtete die Szene.

      „Wissen sie es? Raus mit der Sprache, Norden. Was passiert hier mit Ihnen? Wer will ihnen an die Wäsche? Wer überfällt sie, nimmt sich Ihre Haare und ihr Blut? Brennt ihr Auto ab? Wer stellt sie in einem geklauten Taxi auf der Straße ab? Und wer, gottverdammt, hat mir meine Nase blutig geschlagen?“

      35

      Ich weiß es nicht. Ich kann die Fragen nicht beantworten. Das mit meinem abgebrannten Auto wusste ich selbst noch nicht. Der Kommissar geht mir auf den Zeiger mit seiner cholerischen Art. Ich zucke mit den Schultern, lehne mich im Stuhl zurück und schließe meine Augen. Ich möchte einfach nur meine Ruhe haben. Jetzt! Ich höre, wie der Kommissar mit einer heftigen Bewegung aufsteht. Der Stuhl kippt polternd um.

      „Ok, wenn sie mir nicht helfen wollen, dann will ich Ihnen auch nicht helfen. Lassen Sie sich doch so viel Blut abzapfen, wie sie wollen. Sie haben noch genug davon. Morgen pünktlich zehn Uhr sind sie in meinem Büro, Herr Norden. Sie müssen das Einsatzprotokoll unterschreiben.“

      „Morgen ist Sonntag, Herr Kriminalhauptkommissar“, warf der Assistent ein.

      „Das ist mir egal, Zellmann! Sie können schon sechs Uhr da sein, weil sie das Protokoll schreiben werden.“

      Ich höre, wie beide die Wohnung verlassen. Die Tür fällt ins Schloss.

      Morgen ist Sonntag.

      Mir doch egal.

      36

      Sonntag

      Mexiko

      Maria Yumi Morales geht sonntags, unmittelbar nach dem Gottesdienst von der Kirche Xantoxatis bis ans Ende des Dorfes. Zusammen mit allen Dorfbewohnern, die ebenfalls beim Gottesdienst waren. Sie verabschieden sich vor ihren Häusern von Maria, gehen dann ihres Weges, sodass die Schar der Begleiter immer weniger wird. Am Ende des Dorfes steht Maria dann allein vor ihrem Ziel.

      Diesen Weg geht sie jetzt schon seit einem halben Jahr, an jedem Sonntag nach dem Gottesdienst. Die Dorfbewohner hatten gemeinsam mit dem Pfarrer beraten und die Wahl getroffen. Sie fiel einstimmig auf Maria.

      Maria ist beliebt in ihrem Dorf. Jeder kennt sie und jeder mag sie. Mit ihren fünfzehn Jahren verfügt sie über den speziellen Charme, den nur die Mädchen auf der Schwelle zur Frau ihr Eigen nennen. Maria ist dazu noch eine ausgesprochene landestypische Schönheit.

      ¡Què nina màs bonita!

      Das sind aber nicht die Gründe, warum Maria von nahezu jedem verehrt wird. Es gibt noch andere junge Mädchen im Ort und Schönheit ist bei den Dorfbewohnern kein Kriterium, dass maßgeblich zur Beliebtheit beiträgt. Schönheit hat in Xantoxatis Alltag keinen Wert. Geschickte Hände, ein kluger Kopf und der unerschütterliche Glaube an die Familie, das Dorf und zu Gott, das sind die Werte, die in dieser über Jahrhunderte verschworenen Gemeinde den Menschen wertvoll machen.

      Diese Eigenschaften besaß Maria Yumi Morales alle, aber das unterschied sie nicht besonders von den anderen. Das Besondere und was sie bei allen bekannt und beliebt machte war, dass sie der angebeteten Marien-Statue der Kirche wie aus dem Gesicht geschnitten war. Ja man könnte sogar denken, dass die Statue nach Antlitz und Figur von Maria Yumi Morales geschnitzt wurde. Das kann aber nicht sein, weil diese schon über hundertfünfzig Jahre alt ist und Maria erst fünfzehn. Diese verblüffende Übereinstimmung wurde von Pfarrer Rodriguez als Wunder verkündet und als Zeichen dafür, dass man im Glauben zu Gott sich auf dem rechten Weg befindet. Maria war damals zehn Jahre alt. Solche Wunder werden aber von den bodenständigen Dorfbewohnern nicht überbewertet. Ihr Glaube ist seit Jahrhunderten unerschütterlich. Niemand zweifelt an Gott und seinen Entscheidungen. Die Entscheidung, die geschnitzte Maria als sinnvolles menschliches Abbild in Xantoxati auf die Welt kommen, aufwachsen, atmen, reden, lachen und manchmal weinen zu lassen, ist für alle eine Bestätigung dafür, dass Gott einer von ihnen ist. Er gehört wie das Brot zum Täglichen. Gott ist einer, der sich ebenso nützlich in die Gemeinschaft einbringt.

      Maria ist am Ende der Straße angekommen. Sie klinkt das verwitterte Gartentürchen auf und geht den von der Sonne hartgebrannten Lehmweg zu dem kleinen Haus. Lange Zeit wohnte niemand in diesem Haus. Es gehörte Jorge. Er war über hundert Jahre alt, als er starb. Wie alt genau, das wusste keiner, aber niemand war damals älter als er. Jorge hatte keine Verwandten mehr, diese waren alle vor ihm gestorben. Deshalb stand das Haus seit langem leer. Bis der Fremde kam.

      Maria klopft an die Haustür.

      Eine krächzende Stimme ruft von innen: „Buenos Dias! Komm herein.“

      37

      Deutschland

      Rolf Witten erschien schlecht gelaunt, unrasiert, mit getapter Nase im Büro. Zellmann saß lächelnd in Wittens Ledersessel. Der Computermonitor flimmerte, man hörte die präzise funktionierende Mechanik des Druckers arbeiten. Auf dem Schreibtisch stand ein Teller mit zwei Stücken Käsekuchen, daneben die Kaffeetassen bereit.

      „Haben sie heute etwa Geburtstag?“

      Witten schaute vom Kuchenteller fragend zu Zellmann.

      „Keine Panik, Chef. Ich nicht, meine Tochter. Der Zwölfte. Den Kuchen hat meine Frau selbst gebacken. Bedienen sie sich, der ist echt klasse.“

      „Zwölf Jahre? So alt ist ihr Kind schon? Verdammt, wie lange hocken wir beide denn schon zusammen in diesem engen Loch?“

      „Vierzehn Jahre, Chef.“

      „Das weiß ich selbst, Zellmann. Die Frage war rhetorisch. Haben sie das Protokoll fertig?“

      „Der Drucker spuckt es gerade aus. Wie machen wir in der Angelegenheit weiter?“

      „Norden sollte schon hier sein. Rufen Sie bitte an und fragen, wo er bleibt.“

      Zellmann versuchte, ohne Erfolg Konrad Norden zu erreichen.

      „Der wird wohl nicht erscheinen, Herr Kriminalhauptkommissar.“

      Er zuckte mit den Schultern.

      „Dann lassen wir die Sache eben auf sich beruhen. Wenn er keine Anzeige erstattet, gibt es keinen Handlungsbedarf. Das Protokoll wandert zu den Akten und ich zur Geburtstagsfeier meiner Tochter.“

      „Kein Handlungsbedarf?“

      Witten schnaufte. Dann beugte er sich zu Zellmann und fauchte: „Jetzt schauen sie mich genau an. Fällt ihnen vielleicht etwas auf?“

      Er deutete auf seine bepflasterte Nase. Das Gesicht war mittig