Carl Wolf
SCHNITT
Roman
Vorwort
1
Mexiko
Xantoxati, ein kleines Dorf im mexikanischen Bundesstaat Sonora, ächzt unter der gnadenlosen Kraft der Mittagssonne. Weit über 40 Grad lassen die Luft flirren. Jegliche Lebensform bewegt sich im Zeitlupentempo oder verharrt apathisch. Der staubige und rissige Boden sehnt sich nach Wasser. Steine scheinen in der unbarmherzigen Glut bersten zu wollen. Ein normaler Sommertag in dem kleinen Ort am Rande der Wüste. Im Hintergrund hört man das Rauschen der Bundesstraße 15D. Der Fernverkehr dort schert sich einen Dreck um Xantoxati. 99,99 Prozent der Richtung Süden preschenden Fahrzeuge fahren an der kleinen abzweigenden Straße vorbei, folgen den Lockrufen der Metropolen und Pueblos Magicos, die beschildert die Richtung zu sich weisen. Vermutlich 98 Prozent der Vorbeifahrenden wissen nicht einmal, dass am Ende der kleinen abzweigenden Straße Xantoxati liegt, überhaupt, dass es Xantoxati gibt. Die kleine Straße geht bis zum Dorf, durchquert es und hört dann einfach auf. Ohne irgendeine Ankündigung ist einfach Schluss und es beginnt die mexikanische Wüste. Die Häuser links und rechts der Straße tragen die Spuren der Sonne, der Jahre, der Region und der Menschen als Patina stolz nach außen. Prunk sucht man vergebens in diesem kleinen Ort. Hier ist nichts beschönigt, alles ist so, wie für seinen Zweck geschaffen. Selbst die Kirche, etwas erhöht hinter den Häusern stehend, mit ihrem verblichenen weißroten Anstrich, verzichtet auf jegliche Form der überzogenen Selbstdarstellung. Ein schlichtes Kreuz über dem Eingang zeigt, worum es geht. Im Inneren vom Sitzen und Knien gebogene Holzbänke. Als Altar dient eine geschnitzte Marien-Statue, angefertigt vor hundertfünfzig Jahren von Hugo Diego Morales, ein damals im Dorf lebender künstlerisch ambitionierter Ziegenhirt. Die Mauern der Kirche sind dick, gebaut für die Ewigkeit. Sie sind so dick, dass die sehr gläubigen Dorfbewohner die Befürchtung haben, ihre Gebete bleiben in ihnen hängen und erreichen den Adressaten nicht, oder zumindest nur mit Verspätung. Es wird viel gebetet in Xantoxatis Kirche, damit die neuen Gebete die alten aus den Mauern drängen. Die Gottesdienste selbst werden bei sperrangelweit geöffneter Kirchentür durchgeführt. Vermischt mit dem Rauschen der D15 finden die himmlischen Fürbitten so hoffentlich ihren Weg.
Die Menschen im Dorf wohnen schon immer da, so wie ihre Vorfahren und deren Vorfahren. Sie tun das Gleiche wie ihre Vorfahren und deren Vorfahren und leben davon. Die Zeit schrammt, genau wie die Bundesstraße, an dem Dorf und seinen Bewohnern vorbei. Rasend schnell, man merkt es kaum. Die Berührung ist unterschwellig. Nur manchmal bleibt etwas hängen. Statistisch gesehen 0,01 Prozent.
Wort
2
Freitag
Deutschland
Das Treffen mit den Koreanern ist perfekt gelaufen. Erst das Geschäft, dann der Alkohol. Im Trinken habe ich Übung. Die verdammten Schlitzaugen waren zäh beim Verhandeln, dafür umso gelöster beim anschließenden Gelage. Die Hotelbar, in der wir den Absacker zu uns nehmen, ist fast leer. Meine neuen Geschäftspartner sind permanent am Kichern, unterhalten sich auf Koreanisch miteinander, während sie zu zwei reiferen Damen schielen, die noch auf Bekanntschaften aus sind. Offensichtlich verkaufen sie die Ehre ihrer Bekanntschaft. Ich verkaufe Software für die Fahrzeugindustrie. Ein Computerprogramm, auf das ich alle Rechte besitze. Mit dem ich mein Geld und damit meinen Erfolg verdiene. Die Asiaten haben angebissen. Der Vorvertrag ist unterschrieben. Ein gelungener Abend. Und ich habe gewonnen. Die Koreanern haben winkend Kontakt zu den späten Mädchen aufgenommen, deshalb verabschiede ich mich und überlasse sie ihren neuen Geschäftspartnerinnen. Jetzt fahre ich, wie jeden Freitag, in mein Wochenendhaus außerhalb der Stadt. Zum Entspannen, oder wenn notwendig, in Ruhe zu arbeiten. Das Grundstück liegt in einem dünn besiedelten Vorort. Waldgebiet wechselt mit von hohen Hecken abgeschirmten Anwesen. Dort wohnt man in seinem eigenen Kosmos. Kontakte zu anderen Menschen gibt es nur gewollt. Die paar Drinks halten mich nicht vom Autofahren ab. Ich kenne meine Grenzen, habe mich immer im Griff.
3
Das helle Mondlicht dringt nur spärlich bis zum Waldboden vor. Zwischen den beiden uralten Kastanien direkt am Waldweg ist das Laubdach sogar so dicht, dass man den Lieferwagen, der zwischen ihnen parkt, erst sieht, wenn man direkt davor steht. Die Person, die im Wagen sitzt, ist komplett in Schwarz gekleidet. Die Sturmhaube lässt vom Gesicht nur die Augenpartie unbedeckt. Auf dem Armaturenbrett des Wagens liegen verschiedene Geräte, die der Wartende wiederholt auf ihre Funktion prüft. Der Blick des Vermummten schweift über den Waldweg zum Tor der Einfahrt schräg gegenüber und wieder zurück. Er schaut auf seine Uhr am Handgelenk, das Aufleuchten des Zifferblattes wirft für Sekunden ein diffuses Licht in das Wageninnere. Sein Plan ist bis ins kleinste Detail durchdacht. Heute Nacht schlägt er zu.
4
Mein Name ist Konrad Norden. Mein Leben läuft und läuft und läuft, könnte man sagen. Mir geht es echt super. Ich verdiene viel Geld, fahre einen Sportwagen der Oberklasse, wohne in einem exklusiven Penthouse mit Blick über die Großstadtmetropole. Luxus pur, geliefert von Maßschneidern, Nobelrestaurants und Escort-Services. Reihenfolge beliebig. Und das alles habe ich ausschließlich mir zu verdanken. Das kann ich so sagen, obwohl es arrogant klingt. Es ist mir egal. Ich habe mich schon immer der Meinung des gewöhnlichem entgegenstellen müssen. Wenn man besonders ist, versucht der Mob einem ständig ans Bein zu pinkeln, außer man ordnet sich in das Gelabere des niederen Geistes ein. Aber das kann und will ich nicht. Das dauernde Gezeter um Bagatellen langweilt und verschwendet meine kostbare Zeit. Lange Zeit versuchte ich mich einzuordnen, zu verstehen, aber irgendwann gab ich auf, fand es lächerlich. Niemand kann es leiden, wenn er ausgelacht wird. Deshalb habe ich auch keine Freunde. Freundschaft wird überbewertet. Letztendlich denkt jeder an sich selbst. Das liegt in der Natur, genetisch verankerter Überlebenswille. Die Prediger der Selbstlosigkeit tun alles nur, um Anerkennung für ihr kleines Ego einzuheimsen. Ich brauche keine Anerkennung. Mein Erfolg spricht für mich.
5
Nur der Mond und die Scheinwerfer beleuchteten den Waldweg, der zu meiner Villa führt. Spielerisch lasse ich die Reifen des Autos im lockeren Kies durchdrehen. Kleine spitze Steine fliegen wie Geschosse in das Universum der übrigen Welt. 340 PS, 6 Zylinder und der Heckantrieb vibrieren unter mir. Ich liebe es, diese Kraft zu beherrschen. Es ist berauschend. Hinter mir eine Staubwolke, vor mir der spitz zulaufende Weg. Wie im Sturzflug mit einem Kampfjet, fliegt der Wagen auf die Einfahrt meines Grundstückes zu. Vollbremsung, jetzt! Zwanzig Meter Bremsweg, Markierung ist ein Gebüsch am Wegrand, das habe ich schon oft genug getestet. Wenige Zentimeter vor dem verschlossenen Edelstahltor komme ich zum Stehen. Ich betätige die Fernbedienung und warte bis das Tor selbstständig nach innen aufschwingt. Auch beim zweiten Versuch bleibt geschlossen.
Mein Anwesen ist eine Festung. Das Sicherheitskonzept habe ich selbst erarbeitet. Mehrere übergreifende Gefährdungszonen mit verschiedenen Sicherheitselementen schützen Wege, Fenster, Türen und Grundstücksgrenzen vor ungebetenen Gästen. Ein Funksystem überträgt jedes Alarmsignal sofort auf mein Smartphone. Das Tor zur Einfahrt erkennt mein Auto als save. Damit es sich öffnet, muss ich zur Bestätigung die Fernbedienung benutzen. Wahrscheinlich ist der Akku schwach.
Um näher an den Signalempfänger zu kommen, steige ich aus und gehe Richtung Tor. Mehrmals betätige ich die Bedienung. Das Tor bewegt sich keinen Millimeter. Plötzlich spüre ich einen Schmerz in meinem Brustbereich. Ein Stich wie von einer Injektionsnadel. Ich greife an die schmerzende Stelle, bemerke einen Pfeil, der in mir steckt. An diesem Pfeil befindet sich ein dünner Draht, der nach links führt. Am anderem Ende des Drahtes steht eine dunkle Gestalt.
Reflexartig versuche ich den Pfeil aus mir zu ziehen, im selben Moment ergreifen pulsierende Stromstöße explodierend die Macht über meinen Körper und meine Sinne. Die Muskulatur fängt an ein Eigenleben zu führen, kontraktiert im Rhythmus der Strom-und Schmerzintervalle. Ich liege am Boden. Winde mich in lähmenden Qualen. Schreie lässt der Hochspannungsdämon in mir nicht zu. Nur Stöhnen und Zucken. Speichel fließt unkontrolliert aus meinen Mundwinkeln, die Augen drohen aus ihren Höhlen zu springen. Ich sehe, wie sich jemand über mich beugt. In einer Hand