»Ich wollte dir helfen!«, stieß Tahera mit zitternder Stimme hervor. Gilbert befürchtete, dass sie jeden Moment in Tränen ausbrechen würde.
»Du hast mich hingehalten! Das ist alles, was du gemacht hast! Du hast mich vom Orakel ferngehalten, obwohl du genau wusstest, dass uns die Zeit davonläuft.«
»Nun lass sie doch ausreden«, fuhr Gilbert dazwischen.
»Ja, sicher. Noch mehr Zeit für ihre Lügen verschwenden.«
Tahera bemühte sich, die Tränen hinunterzuschlucken.
»Was hast du uns verschwiegen?«, fragte Gilbert ruhig.
»Ich habe gespürt, dass die Zeit in Verlorenend wieder vorwärtsschreitet. Jeder hier hat es gespürt. Nur wollte ich es aber nicht wahrhaben. Ich habe euch beide in meinen Visionen gesehen. Ich habe eure Zukunft gesehen. Viele Versionen eurer Zukunft. Aber eine Vision hatte ich so schrecklich oft, dass ich angefangen habe, mich vor dem Tag, an dem ihr hier eintreffen würdet, zu fürchten.« Tahera machte eine Pause und schluckte trocken. »Diese eine Vision hat mir deinen Tod gezeigt, Antilius. Und seitdem war mir klar, dass ich euch beide beschützen muss. Ich glaubte, es wäre das Richtige.
Als du, Antilius, hier ankamst, war ich davon überzeugt, dass die Zeit stillstehen würde und wir uns nicht beeilen müssten, Koros aufzuhalten. Mein Verstand wusste es zwar besser, aber ich täuschte mir selbst vor, dass wir hier in Verlorenend sicher sein würden und Koros uns hier nie finden würde.«
Tahera prüfte zuerst Gilberts und danach etwas länger Antilius’ Gesichtsausdruck. Dann sagte sie: »Ja, ich weiß. Das war naiv und selbstsüchtig. Das braucht ihr mir nicht zu sagen, ich kann es an euren Gesichtern ablesen.«
Tahera tat Gilbert leid. Er glaubte an ihre Aufrichtigkeit. Antilius aber spürte, dass Tahera ihm noch etwas verschwieg.
»Meine Zukunft ist noch nicht festgeschrieben. Deine Visionen haben dir nur eine Möglichkeit gezeigt. Eine Version der zukünftigen Ereignisse.
Ich dachte, du würdest an mich glauben? Ich vertraute dir«, sagte Antilius enttäuscht, aber trotzdem verträglich.
»Es tut mir so leid.« Mehr konnte sie nicht sagen. Und Antilius konnte es nachvollziehen.
»Nein, es muss dir nicht leidtun. Es würde mich nicht überraschen, wenn Koros dir bei deinen Visionen über meinen Tod ein wenig nachgeholfen hat, um mich zu behindern. Das traue ich ihm zu. Koros will zwar, dass ich etwas über mich selbst erfahre, aber er möchte nicht, dass ich genügend Zeit habe, soviel zu erfahren, dass es ausreichen könnte, ihn sogar zu besiegen. Er will sich mir im Kampf stellen, was immer er sich darunter auch vorstellen mag. Er will aber nicht, dass ich für ihn zu stark werde. Er möchte einen leichten Sieg davontragen.
Noch ist also nichts verloren. Führe mich zum Orakel, Tahera! Jetzt!«
»Du weißt ja nicht, worauf du dich einlässt. Du bist noch nicht bereit. Du fängst gerade erst an zu verstehen«, sprach Tahera verzweifelt.
»Das ist meine Entscheidung. Ich mag vielleicht nicht verstehen, was mit mir und um mich herum geschieht, aber ich habe einen eigenen Willen. Ich treffe meine eigenen Entscheidungen, auch wenn sie falsch sind.«
»Und wenn sie tödlich sind?«
»Dann auch.«
Tahera schwieg und senkte resigniert den Blick.
»Das Orakel!«, bohrte Antilius.
»Ich werde dich hinführen«, sagte Tahera enttäuscht, obwohl sie wusste, dass es keine andere Möglichkeit gab.
»Komm, Gilbert«, sagte Antilius.
»Nein. Es ist besser, wenn dein Freund hierbleibt. Das Orakel soll sich nur auf deinen Verstand konzentrieren können.«
»Gilbert wird mich begleiten. Das Orakel wird sich damit zufriedengeben müssen.«
»Wie du meinst«, sagte Tahera. »Folgt mir!«
Die Brücke und die Schlucht
Als Wrax den Befehl zum Angriff gab, zitterten ihm die Knie dermaßen heftig, dass er befürchtete, jeden Moment zusammenzubrechen. Wäre es doch nur geschehen. Dann hätte sein Erster den Befehl geben müssen. Aber nein. Wrax musste ihn geben. Und dadurch fühlte er sich noch schuldiger als zuvor.
Lass es schnell vorübergehen.
Oh, bitte! Wehrt euch nicht! Wehrt euch nicht! Macht es nicht noch schlimmer, als es schon ist.
Seine Bitte wurde aber nicht erhört.
Wrax war nicht in den ganzen Plan eingeweiht, mit dem Koros diese Schlacht gewinnen wollte. So konnte er auch nicht nachvollziehen, warum die Gorgens ohne Bewaffnung auf ihre Gegner losstürmten.
Das Vertrauen in seinen Ersten hatte Wrax schon lange verloren. Erst jetzt wurde es ihm richtig bewusst.
»Haltet euch bereit!«, rief Koros zu seinen verbleibenden Kämpfern.
Unaufhaltsam rollte die erste Angriffswelle auf die Verteidiger auf der anderen Seite der Schlucht zu.
Die Sonne verbarg sich weiterhin hinter dem Mantel des Hochnebels. Sie schien nicht zuschauen zu wollen.
Wrax wünschte sich, dass er auch nicht hinsehen musste. Doch er sah hin. Er musste hinsehen. Sehen, woran er Mitschuld trug. Er war schuldig von dem Moment an, an dem er in die Dienste des Herrschers getreten war.
Obwohl er sich selbst dazu verdammte, hinzusehen, war es ihm nicht möglich zu erkennen, ob die Gegner Abwehrmaßnahmen einleiteten.
Die Welle von Gorgens war kurz davor, die Insel zu erreichen. Hunderte Gorgens würden allein schon ausreichen, um die Verteidiger zu überrollen. Aber das sollten sie nicht. Ihre Aufgabe war eine ganz andere.
Wenige Meter vor der gegenüberliegenden Schlucht wurde die Welle langsamer und kam dann vollends zum Stillstand. Als ob die Zeit angehalten wurde, verharrte die schwarze Gorgen-Masse über dem gähnenden Abgrund. Die über sechstausend Gorgens bildeten eine riesige, fliegende Mauer.
Wrax hielt die Luft an. Er konnte die andere Seite nicht mehr sehen. Die gesamte Gegenmacht wurde durch die Gorgens verdeckt. Sie bildeten einen undurchsichtigen, schwarzen Vorhang.
Das war er also, der Plan. Jetzt durchschaute Wrax ihn. Die Brücke sollte über die Schlucht abgesenkt werden, ohne dass die Ahnen-Verteidiger gegenüber etwas davon mitbekommen würden. Zumindest für eine Weile. Die Gorgens sollten nicht kämpfen, denn dafür waren sie in Koros’ Augen zu feige. Sie sollten den Gegner ablenken.
»Baut die Brücke auf!«, befahl Koros.
Die Brücke: Eine Konstruktion, die mithilfe der Pläne des Herrschers eilig gebaut worden war. Eigentlich waren es nur grobe Skizzen, die erst durch Wrax detailliert ausgearbeitet werden mussten, um in die Realität übertragen werden zu können.
Jetzt würde sich zeigen, ob die Konstruktion auch halten würde. Zuerst wurde ein ungefähr fünfzig Meter hoher Turm in die Vertikale von über fünfundvierzig mit Seilen verbundenen Borus in Stellung gebracht. Für jedes Lasttier gab es einen Bändiger, der mit einer Peitsche ausgerüstet war. Die Peitsche war eine der wenigen Möglichkeiten, diese Kolosse zum Bewegen zu animieren. Der untere Teil des noch senkrecht stehenden Turms wurde dann mit schweren Pflöcken aus Immerfestholz in der Erde befestigt. Das alles ging zu Wrax’ Überraschung sehr schnell. Jeder Handgriff war mehrmals geprobt worden, was sich jetzt auszahlte.
Die Borus wurden daraufhin links und rechts des senkrecht stehenden Turms an weiteren schweren Seilen neu positioniert. Jedes der feisten Tiere war nun mit einem Seil an der Konstruktion verbunden.
Wrax wedelte mit den Händen, um die Bändiger zur Eile anzutreiben.
Erste Peitschenhiebe