Verlorenend - Fantasy-Epos (Gesamtausgabe). S. G. Felix. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: S. G. Felix
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783738095289
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diesen Ort und euch niemals finden, auch wenn sie in ihrem Inneren weiß, dass es nicht so kommen wird. Sie gaukelte dir vor, dass Zeit an diesem Ort nicht existieren würde. Vielleicht ist sie sogar davon selbst überzeugt, wenn man das zu ihrer Verteidigung anbringen möchte. Doch das Gegenteil ist der Fall. Früher einmal gab es in Verlorenend tatsächlich keine Zeit. Aber jetzt, da die Dinge in Bewegung geraten sind, fängt die Zeit sogar hier wieder an voranzuschreiten. Mal schneller und mal weniger schnell. Aber im Augenblick schnell genug, um deine Zeit, Antilius, sinnlos verstreichen zu lassen. Du bist noch nicht mal einen Tag hier, aber auf Thalantia sind schon fast zwei Dutzend Tage vergangen. Alles gerät in Bewegung. Und damit meine ich nicht nur meine Pläne, das Portal zur Transzendenz zu öffnen. Nein. Du wirst lachen, wenn ich dir sage, seit wann die Zeit in Verlorenend wieder erwacht ist. Es fing an, als du auf dem Felsen der Splitternden aufgetaucht bist. Deine Rückkehr vor sechs Jahren hat das bewirkt. Der Tag, an dem deine Erinnerungen wieder einsetzen. Du bist die Ursache, dass alles wieder in Bewegung gerät. Und deine Ankunft hier in Verlorenend hat die Zeit endgültig in Bewegung versetzt.«

      »Woher weißt du von den Splitternden?«, fragte Antilius schockiert.

      »Das Flüsternde Buch hat es mir gesagt.«

      »Das kann nicht sein. Wie sollte ich die Zeit hier an diesem Ort beeinflussen können?«, flüsterte Antilius gequält.

      Koros empfand etwas wie Mitleid für ihn. Nur so eine Art Mitleid. Kein echtes. »Ich weiß, es ist schwer. Die Last, die du zu tragen hast, ist schon groß genug. Aber glaube mir, es ist besser, dass du es weißt.«

      »Ach ja?«, schrie Antilius zornig. »Für wen ist es besser? Für dich? In deinem kranken Kopf ist mein Schicksal doch längst beschlossen. Du genießt es, dass ich keine Ahnung von den Geschehnissen um mich herum habe. Worauf wartest du also noch? Bring es endlich zu Ende!«

      Koros verweilte einen Moment in Stille. »Also gut. Ich möchte, dass du dabei bist, wenn es geschieht. Wenn ich die Macht des Portals am Fuße der Berge des Avioniums freilasse. Ich will mich an diesem Ort mit dir messen. Dort soll es zu Ende gehen.

      Solange du noch Zeit hast, solltest du etwas Sinnvolles damit anfangen. Setzte deine Suche fort! Finde, wonach du suchst, auch wenn es nur ein Bruchteil von dem sein sollte, dass du zu finden erhofft hast. Und dann kehre in die wirkliche Welt zurück. Ich werde dich dort erwarten, an der Barriere von Valheel. Ich gebe dir eine faire Chance, Antilius.

      Ich gebe zu, dass ich dich zuerst wirklich loswerden wollte. Aber nun, da ich dich besser kennengelernt habe und diese sonderbaren Dinge über dich im Flüsternden Buch gelesen und gehört habe, bin ich davon überzeugt, dass du es verdienst hast, dich mir zu widersetzen.«

      Das Gefühl, Koros ständig unterlegen zu sein, hatte bei Antilius seinen Höchststand erreicht. Weitere Fragen seinerseits waren überflüssig geworden. Mit gutem Zureden würde Antilius nichts mehr bewirken können. Doch allmählich leuchtete ihm ein, dass der Herrscher einen wunden Punkt besaß. Eine, und mit ziemlicher Sicherheit die einzige Möglichkeit, noch etwas ausrichten zu können, lag in ihm selbst.

      Koros war fasziniert von dem Fremden von der Vierten Inselwelt. Sein ständiges Wiederkehren zu Antilius, das Eindringen in seine Träume und der Drang nach der Konfrontation lenkten den Herrscher ab. Sie kosteten Zeit und Energie. Es war wirklich eine Chance. Eine Chance für Antilius, selber über Macht zu verfügen. Nämlich die Energie seines Widersachers im richtigen Moment und am richtigen Ort gegen ihn zu verwenden.

      Schlagartig wandelte sich Antilius’ Gefühl der Unterlegenheit in Zuversicht.

      Der wunde Punkt. Das musste er sein. Koros glaubte, ihn richtig einschätzen zu können und seine Zukunft vorhersagen zu können. Seinen Charakter und seine Vergangenheit durchleuchtet und seine Ängste reflektiert zu haben. Doch gab es noch tausend andere Dinge, die er nicht wusste.

      Koros war wie betrunken ob der Macht, die er für sich reserviert glaubte. Er dachte nicht im Entferntesten daran, dass Antilius irgendetwas gegen ihn ausrichten könnte, auch wenn dieser mehr über sich erfahren würde. Denn Koros wusste, dass es zu spät sein würde. Viel zu spät. Dennoch wollte er, dass Antilius es wenigstens versuchen würde. Er beneidete ihn um seine Vergangenheit. Deshalb konnte er ihn nicht einfach umbringen. Deshalb und weil das Flüsternde Buch ihn davor gewarnt hat. Antilius zu töten, bevor Koros zum Transzendenten geworden war, könnte unvorhersehbare Konsequenzen haben. Das hat das Buch gesagt, denn es kannte Antilius. Koros glaubte dem Buch ohne Zweifel.

      Bei Antilius wuchs die Zuversicht. Wenn er auch nur einen Bruchteil von dem erfahren würde, das helfen könnte, Koros zu besiegen, dann könnte dieser Bruchteil schon ausreichend sein, so glaubte er.

      Er konnte es sich selbst nicht erklären, wie er zu dieser Zuversicht gelangen konnte. Doch er erinnerte sich an die Festung der Largonen. Er erinnerte sich an die Tür, die plötzlich aufsprang, als Antilius daran dachte, dass sie sich öffnen solle. Er erinnerte sich auch daran, wie er den Kopf in das Wasserbecken instinktiv getaucht hatte, um das Rätsel gestellt zu bekommen, dessen Lösung den Weg zum Dunklen Tunnel freigab. Ja, es gab Dinge, von denen weder Koros noch er selbst wussten. Dinge, die Antilius geholfen hatten, bis hierher nach Verlorenend zu kommen. Und das alles, ohne auch nur den Hauch einer Ahnung zu haben, wie und ob seine vergessene Vergangenheit damit in Verbindung stand.

      Ein Bruchteil könnte genügen. Wenn Antilius schon so weit gekommen war, wie weit könnte er noch kommen, wenn er nur einen Bruchteil erfahren könnte?

      Er erschauerte bei diesem Gedanken.

      »Also? Bist du bereit, deine Suche wieder aufzunehmen?«, fragte der Herrscher ruhig.

      Antilius nickte bloß wie in Zeitlupe.

      Das machte den Herrscher anscheinend stutzig. Er sagte jedoch nichts.

      Zweifel, Antilius zu viel verraten zu haben und damit unter Umständen seine eigenen Pläne in Gefahr gebracht zu haben, wischte er trotzig beiseite. Bald würde er ein Gott sein, und dann würde er keine Fragen mehr stellen und keine Zweifel mehr hegen müssen.

      »Ich werde dich mit aller Macht bekämpfen«, sagte Antilius kalt.

      »Nichts anderes erwarte ich von dir, mein Freund«, erwiderte Koros stolz über Antilius’ Entscheidung.

      »Ich werde da sein. Wenn das Ende gekommen ist.«

      Koros strahlte sein Gegenüber an: »Ich bin begierig darauf.«

      Viele Ausdrücke kamen Haif in den Sinn, wie er die Armee, der er folgte, am treffendsten beschreiben könnte.

      Monster, Bestien, Todbringer. Doch alle die Bezeichnungen trafen nicht den Kern. Keine erfasste vollständig die merkwürdig düstere Stimmung und die ausufernde Größe der Gefahr.

      Immerhin, das Nachdenken half dem kleinen Sortaner, seinen immer wieder auftauchenden Wunsch nach Heimkehr zu verdrängen. Der Mut bröckelte zwar, jedoch nicht seine Entschlossenheit. Er war in der Lage, seine Gefühle ganz klar voneinander zu trennen.

      Zudem bekam er während seiner Wanderung einige erquickende Motivationsschübe, da er ab und zu in heroischer Weise diverse Stechmücken erlegt hatte - mit seinen bloßen Händen. Nachteilig war allerdings, dass die toten Insekten nun in seinem Fell klebten und dort festtrockneten. Das machte ihm aber so gut wie nichts mehr aus. Sein Fell war ohnehin schon halb ruiniert, da kam es auf ein paar zermatschte Mücken auch nicht mehr an.

      Es war ziemlich genau drei Tage her, als der dunkle Schwarm Tausender Gorgens über ihn hinwegbraust war und er den Rest der Lakaien aufgespürt hatte, während sie einen Stopp eingelegt hatten. Seither hatte Koros seiner Gefolgschaft nur wenige Pausen gegönnt. Wie es schien, wollte er keine Zeit mehr verlieren.

      Haif fiel niemand ein, der es überhaupt gewagt hätte, der Barriere von Valheel einen Besuch abzustatten. Der Ort war verflucht, hieß es. Davon war er fest überzeugt. Und sein Glaube sollte sich bestätigen, als er im Schutze des dichten Waldes die Barriere zum ersten Mal mit eigenen Augen sah.

      Sie