Verlorenend - Fantasy-Epos (Gesamtausgabe). S. G. Felix. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: S. G. Felix
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783738095289
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musste. Es gab also keinen Grund für ihn, beunruhigt zu sein. Das Einzige, das ihn nervös machte, war das Portal, das er auf der anderen Seite errichten wollte. Würde es nach so langer Zeit funktionieren?

      Besaßen die Avioniumvorkommen in den Bergen noch genügend Energie, um das Portal zu öffnen?

      Koros verharrte am Rand der Schlucht und blickte zur anderen Seite, während Wrax die Aufstellung der Armee koordinierte. Mit versteinerter Miene gab der Berater Anweisungen und drohte mit Bestrafungen, wenn sich die Gedankenwandler mit sich selbst beschäftigten, anstatt sich auf den bevorstehenden Kampf zu konzentrieren.

      Er ließ die Katapulte in zweiter und dritter Reihe ausrichten und auf die richtige Entfernung eichen. Dreizehn waren es insgesamt »Für jedes der Dreizehn Häuser eines«, hatte Koros gesagt.

      Die Gorgens sollten in letzter Reihe stehen.

      Über den weiteren Verlauf und das Vorgehen während der Schlacht war Wrax bisher nicht informiert worden. Und das setzte ihm gehörig zu. Nicht genug damit, dass er in diesen Stunden gegen seinen eigenen inneren Widerstand ankämpfen musste, so war er jetzt auch noch gezwungen, blind Befehle seines Ersten entgegenzunehmen, ohne zu wissen, was dieser als Nächstes vorhatte.

      Es war noch Zeit, erneut die Konfrontation zu suchen. Grimmig näherte sich Wrax seinem Ersten, der immer noch reglos an der Klippe stand und das Treiben auf der gegenüberliegenden Seite beobachtete.

      »Wie gedenkt Ihr weiter vorzugehen, Erster?«

      »Holt mir den Alten!«

      »Was?«

      »Holt mir den alten Mann. Er soll herkommen. Ich möchte ihm etwas zeigen.«

      Wütend leistete Wrax dem Befehl folge.

      Dann frage ich eben nicht mehr! Soll er doch machen, was er will! Was kümmert es mich? Wenn er meint, alles zu wissen und mich dabei zu übergehen, dann soll er auch die Konsequenzen tragen, wenn es schiefläuft, schimpfte er lautlos.

      Aber die Konsequenzen, die er würde tragen müssen, müsstest du auch tragen.

      Pais Ismendahl, immer noch unter der geistigen Kontrolle von Koros stehend, erschien bei ihm.

      »Sieh! Da drüben, alter Mann. Was siehst du?«

      Pais’ Augen waren bei Weitem nicht so gut wie die von Koros. Viele Menschentrauben sah er auf der anderen Seite. Gesichter blieben auf diese Entfernung verborgen. Doch Eines konnte er sehen. Nicht mit seinen Augen, sondern mit den Augen des anderen Ichs, das von ihm Besitz ergriffen hatte.

      Für viele Jahre hatte er dieses Gesicht nicht mehr gesehen. Und der echte Pais, der von dem fremden Ich kontrolliert wurde, hatte sich stets danach gesehnt, dieses Gesicht eines Tages wiederzusehen. In Frieden wiederzusehen. Die abgerissenen Brücken neu aufzubauen. Das war es, wonach sich der echte Pais sehnte.

      Mit normalen menschlichen Augen war es unmöglich, das Gesicht aus der großen Entfernung zu erkennen, das Pais nun fixierte. Das fremde Ich in ihm ermöglichte es ihm dennoch, seinen Blick auf nur dieses eine Gesicht zu konzentrieren. Es ganz detailliert wahrzunehmen. Nichts anderes fokussierte das fremde Ich mehr. Nur noch dieses eine Gesicht. Es gehörte zu Pais’ älterem Bruder. Er war der Sprecher des Vierten Hauses Kellron. Lois war sein Name.

      Anstatt sich an die schönen Augenblicke, die er mit Lois in seiner Jugend erleben durfte, zu entsinnen, listete der unsichtbare Besatzer in seinem Kopf all jene Begebenheiten auf, die den Hass auf seinen Bruder noch weiter anheizten.

      Seine negativen Erinnerungen wurden zum Brennmaterial für seine lodernde Abscheu.

      Pais nahm seine Armbrust, die an einem Lederband locker um seine Schulter geschlungen war, in Anschlag. Er zielte jedoch nicht auf Koros, so wie es sich der unterdrückte Teil in Pais wünschte. Pais zielte auf die andere Seite der Schlucht. Er zielte auf Lois. Und drückte ab. Der Herrscher schaute seiner Marionette gelassen und amüsiert zu.

      Natürlich schaffte es der Bolzen nicht, die knapp hundert Meter über die Schlucht zu meistern. Dazu war die Armbrust zu klein. Der Bolzen versank auf halber Strecke in der Tiefe. Doch allein der Versuch machte die Absichten des anderen Pais deutlich. Rache und Tod.

      Tief, ganz tief in einer winzigen dunklen Ecke in Pais war sein unterdrücktes Ich dazu verdammt, tatenlos alles mitanzusehen. Es war hilflos und allein.

      Koros schaute dem Bolzen hinterher. »Fühlst du dich jetzt besser, alter Mann?«

      »Nein«, sagte das fremde Ich scharf.

      »Du wirst noch deine Gelegenheit bekommen. Übe dich in Geduld. Dann wird die Rache dein sein.«

      Wrax kam schon wieder angeschlichen. Er wurde dem Herrscher immer lästiger. Seine bloße Anwesenheit machte ihn rasend.

      »Was willst du?« Wieder das ‚du’.

      Wrax schluckte seine Verbitterung runter. »Es ist alles bereit, Erster. Die Katapulte sind ausgerichtet, die Gorgens sind bereit, und die Borus sind an die Brückenkonstruktionen angespannt worden.«

      »Gut.« Koros erklärte seinem Berater die nächsten Schritte, die er plante. Es war eigentlich ganz einfach. Nur fiel Wrax auf, dass sein Erster anscheinend überhaupt keine Vorkehrungen getroffen hatte für den Fall, dass etwas nicht nach seinem Plan laufen würde. Wrax runzelte die Stirn, entschloss sich aber dann, dieses Problem nicht anzusprechen. »Ich empfehle, dass wir sofort mit dem Angriff beginnen, Erster, bevor unser Gegner noch mehr Zeit hat, weitere Verstärkung zu sammeln. Nennenswerter Widerstand ist zwar nicht zu erwarten, dennoch sollten wir jetzt beginnen«, sagte er stattdessen.

      Du wirst noch bereuen, dass du das gesagt hast, dachte Wrax erschrocken. Kannst es wohl gar nicht mehr abwarten, in die Schlacht zu ziehen? Kannst gar nicht schnell genug in dein eigenes Verderben rennen, wie?

      Koros schaute seinem Berater in die Augen, doch in Wirklichkeit sah er ihn nicht an, sondern er blickte durch ihn hindurch wie durch Glas. »Du empfiehlst mir?«

      »Ja, Erster, dafür bin ich doch da.«

      Der Herrscher hielt es trotz seiner Spannung für besser, seinem Berater jetzt nicht eine Lektion zu erteilen. Wrax hatte ja recht. Und er brauchte ihn - noch.

      »Danke«, würgte Koros hervor. »Begebt Euch zu den Gorgens und gebt das Signal, wenn ich es befehle.«

      Besorgt schaute Wrax seinen Ersten an. Der Herrscher zitterte. Schweiß floss ihm in Strömen vom Kopf. Seine Haut hatte jegliche Farbpigmente verloren. Er sah aus wie ein Untoter. Das Flüsternde Buch hatte ihn regelrecht ausgesaugt und nur noch das von ihm übrig gelassen, das es benötigte, um seine Mission zu vollenden.

      Wrax bekam Angst und entfernte sich zügig, um Koros nicht merken zu lassen, dass er immer mehr zweifelte.

      Koros schloss seine glasigen Augen und konzentrierte sich. Es war schwierig, aber schließlich fand er denjenigen, in dessen Kopf er eindringen wollte. Wie ein Parasit nistete er sich dort ein und konnte nun mit seinem Feind sprechen.

      Lois auf der anderen Seite der Schlucht fühlte lediglich, dass seine Gedanken nicht mehr ihm alleine gehörten, als Koros sich bei ihm einschlich.

      »Ist das alles, was ihr Leute zu bieten habt?«, fragte Koros im Gedanken den Bruder von Pais.

      Lois ahnte, wer zu ihm sprach. Er wagte einen vorsichtigen Blick zu dem Mann im dunklen Gewand, der so regungslos am Rand der Schlucht auf der anderen Seite stand, dass man meinen könnte, er wäre zu einer der Steinfiguren geworden, die mit dem Hintergrund verschmolzen.

      Angriffslustig erwiderte er ohne Worte: »Wir werden dich besiegen. Wir werden nicht zulassen, dass du das zerstörst, wofür unsere Vorfahren sterben mussten. Es wäre besser, du gibst gleich auf und ziehst dich mit deinen niederen Kreaturen in die schwarzen Höhlen zurück, aus denen ihr gekommen seid!«

      Koros unbeeindruckt: »Merkwürdig! Wie viel ihr doch gemeinsam habt. Ihr beide seid miserable Spötter.

      Was? Verunsichert? Wen ich meine, willst du wissen? Lass mich darauf beschränken, dass ich