Schließlich erreichten die beiden Männer zusammen mit Gilbert das Eingangstor.
Die riesige Zugbrücke war hochgezogen, sodass ein etwa sieben Meter breiter Graben sie von dem Festungseingang trennte.
»Na toll, nun sind wir so weit gekommen, und jetzt das!«, beschwerte sich Antilius. »Wahrscheinlich hat Brelius sie hochgezogen, als er noch einmal hierhergekommen ist, auch wenn ich mich frage, wie er das alleine fertig gebracht hat.«
Er trat einen Schritt nach vorne und begutachtete den Wassergraben. Das Wasser war dunkel und trüb. Es stank vermodert.
»Das sieht nicht sonderlich tief aus. Und selbst wenn, könnten wir hindurchschwimmen und versuchen, an der Mauer hochzuklettern«, sagte Antilius.
»Nein«, widersprach Pais. »Dieser Graben hat einen sehr morastigen Untergrund. Du würdest darin stecken bleiben und versinken. Und wer weiß, welche Kreaturen in diesem trüben Gebräu lauern. Nein, wir müssen etwas anderes probieren«, sagte er und schaute dabei an das obere Ende der Zugbrücke. »Seht ihr das da oben?«
Antilius und Gilberts Augen folgten Pais’ Fingerzeig. Gilbert steckte wieder im Gürtel seines Meisters.
»Die Zugbrücke ist nur mit einem kleinen Holzriegel gesichert. Wenn wir an ihn heran kommen und ihn entfernen würden, könnten wir die Zugbrücke ganz einfach öffnen.«
Die Lösung dieses Problems war schnell gefunden.
Pais hatte - schon vor dem Beginn ihrer Reise - einen Bolzen für seine Armbrust so präpariert, dass er in seinem Inneren eine kleine Menge an Schießpulver mit sich führte, das sich beim Aufschlag entzünden würde. Antilius staunte nicht schlecht: Schießpulver war auf Thalantia eine absolute Rarität und sündhaft teuer. Pais legte den Bolzen in das Katapult seiner Armbrust und zielte auf den Riegel, der die Brücke in der Senkrechten hielt. Mit ruhiger Hand drückte er ab.
Der Bolzen schoss auf den Riegel zu, bohrte sich hinein und fast zeitgleich explodierte das in ihm enthaltene Schießpulver und zersplitterte den Holzriegel. Ganz langsam setzte sich die Zugbrücke in Bewegung, immer schneller wurde sie und sauste anschließend donnernd nach unten. Mit einem lauten Schlag, der die Erde erzittern ließ, kam sie mit der Oberkante auf der anderen Seite des Grabens zum Liegen und machte den Weg frei in die Festung.
Der einsame Mann und die Sterne
»Ich verstehe das nicht. Wie kann man alle Bewohner einer Stadt einfach verschwinden lassen? Und dazu noch solche Riesen. Ich meine, seht euch doch nur mal die Breite dieser Straße hier an. Die ist doch fast viermal so groß wie die in Fara-Tindu«, staunte Gilbert aufgeregt, als er durch den Spiegel in seinem kleinen Zimmer beobachtete, wie die gewaltigen Gebäude der Largonen zur Linken und zur Rechten von vorn nach hinten durchs Bild in seinem Wandspiegel fuhren.
»Ja, du hast recht. Das ist schon unglaublich, aber diese Späher, mit denen ich sprach, waren auch nicht gerade das, was ich als normal bezeichnen würde. Ich kann mir schon vorstellen, dass sie diese Fähigkeit besitzen«, sagte Antilius.
Gilbert legte die Stirn in Falten. »Was ist denn mit dir los, Antilius? Seit wann glaubst du denn an übermächtige Wesen, die andere einfach mit einem Fingerschnippen verschwinden lassen können? Du hast doch nicht einmal an die Existenz des Zeittores geglaubt.«
Antilius zog den Spiegel aus seinem Gürtel und schaute den darin stehenden Gilbert ernst an. »So richtig bin ich noch immer nicht von diesen Zeitreisen überzeugt, aber nach dem, was ich bisher erlebt habe, bin ich mir nicht mehr sicher, was ich glauben soll und woran ich überhaupt glauben kann.«
Noch während Antilius diese Worte aussprach, merkte er, dass irgendetwas mit dem Spiegel nicht stimmte, genauer gesagt mit seinem Inneren. »Gilbert, hast du irgendetwas in deinem Zimmer verändert?«
Gilbert schaute sich verdutzt um und zuckte mit den Achseln. »Nicht, dass ich wüsste. Was stimmt denn deiner Meinung nach nicht?«
»Dein Fenster. Sieh doch! War da nicht eine Graslandschaft mit wild wachsenden Blumen? Da ist ja auf einmal ein Meer!«
Gilbert drehte sich um und schaute gelangweilt zum Fenster. »Und?«, fragte er mit hängenden Schultern.
Antilius war verwirrt. »Ja, aber wie geht das? Was ist passiert?«
»Das habe ich dir doch erzählt. Da draußen hinter diesem Fenster, ist nichts. Es ist das Nichts. Hinter meinem Fenster ist gerade ein Meer, weil ich es mir vorstelle, und wenn ich mir eine Wiese mit Wildblumen vorstelle, dann ist dort draußen eine Wiese mit Wildblumen. Und wenn ich mir einen Baum vorstelle, dann ist dort ein Baum.«
Antilius kratzte sich am Kinn. Dieses Spiegelgefängnis war wohl das bisher Verrückteste, das er je gesehen hatte. »Ja, stimmt. Das hast du mir erzählt. Es ist also nur eine Illusion. Sehr merkwürdig.«
»Ich zeige es dir.« Gilbert stellte sich zur Seite, um Antilius ungehindert Blick auf sein Fenster geben zu können. Er schnippte einmal mit dem Finger und das Meer hinter dem Fenster löste sich langsam in einem dichten Nebel auf. Antilius verfolgte das Geschehen gebannt, und auch Pais war von dieser Verwandlung überrascht, als er Antilius über die Schulter in den Spiegel schaute. Der Nebel löste sich dann wieder auf, und die bekannte Wiese erschien wieder.
»Damit könntest du auftreten, Gilbert. Ich habe es dir immer gesagt«, meinte Pais.
»Wie funktioniert das?«
Erneut zuckte Gilbert mit den Achseln: »Wenn ich das wüsste. Es funktioniert eben. Es ist mir aber auch gar nicht wichtig, nach dem ‚Wie’ zu fragen. Die anfängliche Faszination schlägt nämlich schnell in Gleichgültigkeit um, wenn einem bewusst wird, dass es hier kein Entkommen gibt. Im Übrigen soll es schon viele Spiegelgefangene gegeben haben, die versuchten, durch das Fenster zu fliehen, doch sie landeten im Nichts und hatten keine Gelegenheit mehr, ihren Fehler zu bereuen.«
»Was bedeutet das?«
»Im Nichts kann auch nichts existieren.«
»Soll das etwa bedeuten, dass …«
Gilbert nickte ernst. »Genau das bedeutet es.«
»Ich hoffe für dich, Gilbert, dass du irgendwann da wieder heraus kommst«, sagte Antilius ehrlich.
Er steckte den Spiegel wieder ein, und Pais und er setzten ihren Marsch in der Stadt der Riesen fort. Sie suchten das zentrale Gebäude, in dem sie, wenn der Sandling recht hatte, das Zeittor vermuteten. Antilius versuchte, es sich nicht anmerken zu lassen, aber die unglaubliche Größe der Häuser, Straßen und Gehwege machten ihn sehr beklommen. Er kam sich wie eine Ameise vor. Eine Ameise in einer Geisterstadt der Riesen.
Pais schien es aber ebenso zu ergehen. »Seht doch nur! Alles ist noch so, als ob hier noch vor wenigen Augenblicken Largonen gelebt haben.«
Riesige Karren standen mitten auf den Straßen, die Türen von Geschäften waren geöffnet, das riesige Gemüse auf einem Verkaufsstand faulte langsam vor sich hin.
Antilius schaute an jeder Kreuzung, in jedem Winkel nach, ob sich nicht doch noch ein Largone hier aufhielt. Die Späher hatten die Largonen mitten aus ihrem Alltag gerissen, und nur noch bedrückende Stille zurückgelassen. Obwohl keiner der Riesen mehr hier war, meinte Antilius noch ihre Anwesenheit zu spüren.
Welche Macht müssen die Späher besitzen, dies fertig zu bringen?, dachte Antilius mit Grauen.
»Da vorn! Das Monstrum da muss es sein«, rief Pais.
Er zeigte auf ein würfelförmiges Gebäude, das so wie alle anderen Häuser auch aus massiven Steinen gebaut war, nur mit dem Unterschied, dass es kubisch war und nur in der obersten Etage Fenster besaß. Auf dem flachen Dach des Steinklotzes prangte eine merkwürdige, zehn Meter hohe Skulptur, die zwei ineinander verschlungene Knochen darstellte. Antilius vermutete,