Doch zum Glück sollte er sich irren. Antilius konnte eine Menge wegstecken und Aufgeben kam ihm nicht in den Sinn.
Es dauerte eine Weile, bis der Schmerz wieder auf ein erträgliches Niveau abflaute.
Nachdem sich beide wieder gegenseitig auf die Beine geholfen hatten, erzählte Antilius kurz, was er im Stein der Zeit erlebt hatte.
»Brelius ist in Verlorenend? Das ist ja unglaublich, ich hätte nie gedacht, dass es diesen Ort wirklich gibt.«
»Also ich glaube erst an die Existenz von Verlorenend, wenn ich es selber gesehen habe. Die Späher haben diesen Namen nicht benutzt. Sie meinten nur, er wäre nicht mehr in der Zeit«, sagte Antilius nüchtern.
Gilbert schaute suchend in seinen Spiegel, der ihm einen kleinen Ausschnitt des Waldes bot, in dem sich seine Freunde befanden.
»Wo ist Haif?«, fragte er.
»Ich habe ihn nicht gesehen, obwohl ich ja von da oben eine überwältigende Aussicht genießen durfte«, sagte Pais und deutete auf die Baumfalle.
»Wir müssen ihn finden«, sagte Antilius.
Mehrere Mondstunden suchten sie den Wald nach Haif ab, riefen immer wieder seinen Namen bis in die Nacht hinein. Aber sie konnten ihn nicht finden.
Ermattet setzte sich Pais auf einen umgestürzten Baumstamm.
»Ich sage es ja nicht gern, aber wir müssen wohl davon ausgehen, dass er möglicherweise von diesen Biestern erwischt wurde.«
Antilius wollte dem etwas entgegnen, aber er wusste, dass Pais vermutlich recht hatte, und so schwieg er. Sein Knöchel war mittlerweile noch mehr angeschwollen und hatte die Farbe einer verfaulten Orange angenommen. Der Schmerz zog jetzt kontinuierlich das ganze rechte Bein hoch.
Er ließ sich auf den schmutzigen Erdboden fallen. Jede noch so kleine Bewegung tat weh.
»Das ist alles eine Nummer zu groß für mich. Das ist einfach zu viel!«, wimmerte er. »Ich schaffe das nicht.«
»Du darfst jetzt nicht aufgeben!«, versuchte Pais ihn wieder aufzurichten. »Morgen suchen wir noch mal nach Haif. Und Brelius werden wir auch finden. Und dann wirst du auch herausfinden, was du mit dieser verrückten Sache zu tun hast.«
»Wie sollen wir ihn denn finden, wenn wir nicht an das Tor herankommen? Nur Haif kannte den Geheimweg«, jammerte Antilius trotzig.
»Wir werden es auch ohne ihn schaffen, wenn wir ihn nicht mehr finden sollten. Hauptsache ist, wir kommen bis zu den Pforten der Largonen-Festung.«
Antilius schwieg und rieb sich vorsichtig den Knöchel, um den Schmerz zu vertreiben. Aber das half nicht. Im Gegenteil.
»Wir halten doch zusammen. Und wir werden dich jetzt nicht im Stich lassen. Hörst du? Wir lassen dich nicht allein. Richtig, Gilbert?«
»Natürlich nicht. Wo sollte ich auch hingehen?«, sagte Gilbert.
Stille
Pais half Antilius zurück zu ihrem Rastplatz, wo sie letzte Nacht angegriffen worden waren. Jetzt verschwendeten sie jedoch keinen Gedanken an eine erneut mögliche Bedrohung. Und es ließ sich auch kein Piktin mehr blicken. Der Turm der Zeit hatte den Tieren offenbar Angst eingejagt, und sie waren weit weg geflohen.
Antilius tat die ganze Nacht kein Auge zu. Einerseits, weil ihn sein Fußknöchel quälte, andererseits, weil er sich um Haif sorgte. Ob er noch am Leben sein würde?
Seine Freunde hatten zwar versucht, ihm Mut zu machen, doch der versteckte sich feige in seinem Innersten.
Er war zu erschöpft, als dass er ihn noch einmal hervorlocken könnte.
Diese Nacht war still. Zu still. Wo waren die Zikaden? Wo war all jenes Getier, das sich sonst zu dieser Zeit herumtrieb? Seit die Piktins hier aufgetaucht waren, war alles verschwunden.
Es machte ihn verrückt. Aber er war sich nur nicht sicher, was ihn verrückter machte: die schreiende Stille der Nacht oder der stumme Schmerz in seinem Fuß.
Es war kalt. Er fror.
Er wollte nach Hause.
Das alte Wesen aus Sand
Es sollten noch sieben Tage vergehen, ehe Antilius dem Sandling begegnen würde.
Den Tag nach der Begegnung im Stein der Zeit und einen ganzen weiteren Tag war Pais damit beschäftigt, weiter nach Haif zu suchen. Er konnte ihn jedoch nicht finden und nahm schließlich widerwillig das Schlimmste an.
Antilius nutzte die Zeit, sich auszuruhen und seinen Knöchel zu schonen.
Am nächsten Morgen packten sie ihre Habseligkeiten zusammen und machten sich schließlich auf, die Festung der Largonen zu finden.
Die folgenden Tage waren leidvolle Tage für Antilius. Der gestauchte Fuß wollte sich nicht bessern. Pais schnitzte ihm aus einem Ast eine Gehhilfe, auf die er sich stützen konnte. Außerdem hatte er es geschafft, einige Pflanzen zu sammeln, die er zerrieb und auf die verletzte Stelle auftrug. Und tatsächlich linderte es ein wenig den Schmerz, und die Schwellung ließ langsam etwas nach.
Immer wieder mussten sie pausieren. Antilius wurde immer schwächer. Gefühlte tausendmal dachte er darüber nach umzukehren, doch das wäre sinnlos gewesen. Der Rückweg wäre noch viel länger ausgefallen, weil sie auf die Amedium-Gondel würden verzichten müssen.
Sein Fuß war nur noch ein unnützer Klumpen an seinem Bein.
Seine Gesichtsfarbe hatte sich in ein lebloses Blassgrau verwandelt. Er war erschöpft. Und ausgelaugt.
Hätten sie immer noch den Wald durchqueren müssen, hätten sie es wohl nicht mehr geschafft, ihr Ziel zu erreichen.
Aber glücklicherweise mussten sie nur weite Ebenen durchqueren. Natürliche Felder aus Wildgras und karges Land.
Es war eine monotone Landschaft, die sich mit den immer selben Farbtönen Lindgrün und Aschgrau zeigte.
Geregnet hatte es seit der Attacke der Piktins auch nicht mehr. So gingen ihre Wasservorräte schnell zur Neige, sodass sie fast verdurstet wären, wäre da nicht ein kleiner Bach gewesen, der ihnen sauberes Süßwasser schenkte. Sie alle hatten unterschätzt, wie abgelegen die Festung der Largonen war.
Koros hielt sich während der gesamten Zeit von Antilius’ Träumen fern. Eigentlich erwartete er, wieder heimgesucht zu werden, ja, er wünschte es sich regelrecht. Wahrscheinlich um seine Rolle in diesem verteufelten Spiel besser begreifen zu können. Um zu erfahren, wer sein Gegner war. Und um noch einmal einen Blick in das Buch werfen zu können, in der armseligen Hoffnung, es doch lesen zu können.
Dann, kurz vor der Festung der Largonen in der Abenddämmerung:
Pais sah ihn zuerst. Er konnte es zunächst nicht glauben. Er dachte (oder hoffte insgeheim), dass er sich geirrt und nur einen kleinen Erdhügel oder etwas ähnlich Natürliches gesehen hatte. Doch als sie immer näher kamen, war er sich absolut sicher, obwohl er noch nie in seinem Leben einen lebenden Sandling vor die Augen bekommen hatte.
Diese Geschöpfe, so hieß es, waren älter als die Welt selbst. Sie tauchten in diesen und jenen Legenden oder Mythen auf. Es gab verschiedene Abbildungen von ihnen in der Bibliothek der Ahnenländer, in der Pais früher viel Zeit verbracht hatte. Man ging mehrheitlich davon aus, sie seien vor Jahrhunderten ausgestorben. Niemand glaubte heute noch ernsthaft an ihre Existenz. Auch Pais hätte es niemals in Erwägung gezogen, dass es Sandlinge wirklich geben könnte. Aus der Vergessenen Wüste im Südosten von Truchten sollten sie stammen. Was tat der Sandling hier so weit weg von seiner Heimat? Warum war er allein? Pais glaubte nicht, dass sein Auftauchen reiner Zufall war.
Der Sandling saß verloren in einer Senke vor einem