Sie verließ den Bahnhof, hielt sich westlich und lief an der Drogerie Dr. Kuhlmann vorbei, überquerte den Bahnhofsvorplatz und machte einer Gruppe von Karbolmäuschen Platz, wie Vorsteher Bommel die Rotkreuzschwestern gerne nannte. Sie kamen ihr mit schweren Taschen entgegen. Mara fand es respektlos, sie so zu nennen. Dann eilte sie über die Joachimstaler und blieb an der nächsten Ecke stehen, am Leinenhaus, dem Kurfürstendamm Nummer 227.
Vor ihr gähnten die dunklen Fensterhöhlen einer Ruine. Früher gab es da im Erdgeschoss mal einen Kurzwarenladen. Erst vor einem Monat hatte das moderne Gebäude Treffer abbekommen und war ausgebrannt. Doch etwas anderes faszinierte sie stärker. Hinter dem Haus lag ein Hof, eine Art kleiner Stadtgarten, zu dem eine Durchfahrt mit einem Tor gehörte, so dass man ihn normalerweise nicht einsehen konnte. Jetzt war ein Teil der Mauer eingestürzt und mitten auf der Freifläche klaffte kreisrund ein Krater, gut und gerne sieben Meter im Durchmesser und etwa einen tief. Mara fand ihn wunderschön. Er war perfekt. Sie sah nach oben in den kalten, aber strahlend blauen Himmel und versuchte, sich die Flugbahn der Bombe vorzustellen. Geschürft aus Erz, geschmiedet aus Stahl fern in Amerika, zerplatzt und jetzt zu Rost und Staub zerfallend in Berlin. Welche Hände dieses Stück Menschenwerk berührt haben mochten, bevor es einen solchen Krater zu schaffen vermochte. Geradezu ein Kunstwerk war daraus geworden. Erde, Stein und Metallsplitter – er sah exakt so aus wie die Einschlagsorte auf der Mondoberfläche, die sie in ihren astronomischen Büchern immer wieder bewunderte.
Sie reckte sich ein wenig. Mit etwas Phantasie ließ sich vorstellen, dass kleine Wesen darin lebten oder auf einem fernen Planeten aus einem solchen Krater heraus irgendwann in weiter Zukunft einmal ein Raumschiff von einem unterirdischen Bahnhof starten würde. Sie dachte an eine Geschichte, die sie in einem Planet Stories-Heft gelesen hatte: ›War-Lords of the Moon‹. Sie erinnerte sich genau. Die war auf Englisch gewesen, aber die Sprache konnte sie gut. Zwar las Mara langsamer, doch eigentlich war es nur eine Sache der Übung. Plötzlich lachte sie. Ihr Englischlehrer, Herr Dallmann, hatte böse geschimpft, als sie ausgerechnet ein solches Heft in den Unterricht mitgebracht hatte. Undeutsche Schundliteratur hatte er gewütet – und sie trotzdem gefragt, ob er es sich bis zur nächsten Stunde ausleihen könnte.
Etwas widerwillig löste sie sich von dem Anblick und nahm sich fest vor, jetzt täglich einmal nach dem Krater zu sehen. Ob er sich mit Wasser füllte? Ihre Stirn legte sich in Falten, als sie sich vorzustellen versuchte, ob auf fremden Welten die Krater voll Wasser liefen?! Auf dem Mond würde es wohl keines geben. Aber sicher war sie sich nicht. Sie wandte sich nach rechts und ging ein Stückchen den Kurfürstendamm entlang, bis sie wenig später links in die Fasanenstraße einbog. Nahezu schlagartig verstummte der Verkehr hinter ihr und es wurde deutlich stiller.
Die Fasanenstraße lag zentral in der Stadt und doch war sie ruhig. Die hohen Bäume spendeten Schatten und im Sommer spielte das Licht durch die Blätter und zeichnete eine nicht enden wollende Abfolge von szenischen Bewegungen auf den Boden. Und im Winter reckten sich ihre kahlen Gerippe bis über die Dachfirsten hinaus. Wenn sie abends im Bett lag, konnte sie aus dem Fenster ihres Zimmers die Baumwipfel sehen, die von unten durch die Laternen gelblich beschienen wurden. Manchmal sahen sie wie Außerirdische aus, die zu ihr hineinblickten und winkten. Freundlich, bisweilen lockend, als wollten sie sie dazu verleiten ins Freie zu klettern und mit ihnen auf eine ferne Reise zu gehen.
Sie gluckste. Ja, bei Tageslicht waren solche Gedanken weit weg und erschienen ihr fast kindisch. Aber so manches Mal war ihr des Nachts doch bange. Insbesondere, wenn ihr Vater Nachtschicht hatte auf seinem Stellwerk im Süden der Stadt, außerhalb von Lichterfelde.
Die letzten Meter zur großen hölzernen Jugendstilhaustür der Hausnummer 59 lief sie schneller. Ob Paps schon da war? Er sollte heute bis 15 Uhr Dienst tun, aber sein Weg war lang. Hatte sie vielleicht noch Zeit zum Kochen? Er mochte es nicht gerne, wenn er nach Hause kam, und nichts war fertig.
»Tach Frollein Prager, die Klingel ist kaputt. Hamm wa aber gleich.« Mit diesen Worten kam Bewegung in Hausmeister Butzke, der bis dahin reglos vor seiner kleinen Werkstatt am linken Eck des Hauses Nummer 58 gestanden hatte. Er trat neben sie, schloss für sie die Tür auf und ließ sie ein. Mara wunderte sich, denn sie hatte ja selber einen Schlüssel. Der Mann war nicht groß und überragte sie kaum, hatte strähnige schwarze Locken und seine Nase triefte oft, die er gerne hochzog. Wann immer sie ihn sah, trug er Arbeitskleidung und eine lange blaue Schürze. Vielleicht sogar im Bett. Aber noch seltsamer mutete sein halbwüchsiger Sohn Heinz an, erst vierzehn Jahre alt, der ihr gegenüber nie den Mund aufbekam. Der hockte mit einem Pinsel in der Hand auf den Treppenstufen und überstrich eine Lücke im Putz. Er sah verkrampft auf seine Arbeit und schielte doch zu ihr hin. Sie beschloss, ihn zu ignorieren. Stattdessen nickte sie nur dem Hausmeister zu, dem die dicke Nase wieder lief und dessen strähnige schwarze Locken ihm über die Stirn fielen.
»Danke Herr Butzke, sehr nett.« Aus dem Augenwinkel beobachtete sie seinen Sohn. Heinz sah aus wie seine Mutter Mildred und er verhielt sich so ähnlich. Sie war eher schweigsam, aber noch anders als er.
Mara schwebte an ihm vorbei und bemerkte, wie er seinen Kopf drehte, als auf dem nächsten Absatz die stets leicht blauhaarig gefärbte Frau Winkler an der Wand lehnte. Sie war im Gespräch mit Werner Kämmerlin, dem Blockwart, als solcher zuständig für mehrere Dutzend Wohngemeinschaften nebst Untermietern in der Fasanenstraße. Dünn und lang war er, seine Kleidung schien oft eine Nummer zu groß. Die Haare lagen eng an seinem Schädel, der durch die Hakennase aussah wie eine römische Büste. Er trug seine Parteiuniform, wie immer bei dienstlichen Anlässen. Dass er sich im Haus aufhielt, war nicht ungewöhnlich. Er und Butzke waren befreundet, obwohl der nicht in der Partei war, wie er bei jeder Gelegenheit betonte. Er hielt nichts von dem Verein. Dafür umso mehr von Kämmerlin selbst.
Sonderbar war eher, dass sich die zänkische Frau Winkler mit ihm unterhielt, sogar angeregt. Beide verstummten, als sie Mara sahen. Hinter vorgehaltener Hand nannten manche ihn ›Kümmerling‹. Dabei war er gar nicht so übel, fand sie. Ein echter Blockwart wie er im Parteibuche stand und ebensolcher Parteigenosse. Neugierig, etwas vorlaut vielleicht. Aber sie hatte nichts zu klagen.
Bevor sie grüßen konnte, bekam sie von der Winkler ihr Fett weg.
»Ihr Vater ist seit einer Stunde zu Hause und ich kann mir denken, dass er hungrig ist.«
Mara hielt den Atem an, ging dann aber einfach an ihr vorbei. Höflich nickte sie. »Guten Tag Frau Winkler und ein schönes Wochenende. Grüße an den verehrten Herrn Gemahl. Tag Herr Kämmerlin.«
Der Blockwart lächelte freundlich zurück. Nicht ohne Genugtuung sah sie, wie der Mund der zänkischen Nachbarin aufklappte. Warum mischte sich die Alte ständig in alles ein? Reichte es nicht, dass sie ihren Mann Uwe tyrannisierte?
»Und dieses Jahr an Führers Geburtstag flaggen wir richtig, nicht so ein Taschentuch wie im letzten Jahr. Kümmern Sie sich um eine richtige Fahne«, meckerte die Alte den Blockwart an, während Mara sich entfernte.
Auf der ersten Etage wohnten die Martens. Diplom-Ingenieur Ewald, ein Erfinder, hatte seine Werkstatt in dem zweiten kleinen Laden im Erdgeschoss des Nachbarhauses und nutzte den Schuppen auf dem Hof hinter ihrem Haus. Dort bastelte er an elektronischen Geräten, um die er stets eine ungeheure Geheimnistuerei veranstaltete. So geheim waren sie, dass er trotzdem bei Fliegeralarm im Keller der ganzen Hausgemeinschaft erzählte, wie ausgeklügelt sein Frequenz-Peilgerät sei, viel besser als die Technik von Telefunken, die auf den Flaktürmen eingesetzt würde. Das Rüstungsministerium förderte seine Forschungen sogar. Aber alles höchste Verschlusssache. Gundel, seine Frau, sprach lieber von ihren beiden Kindern, die auf Kinderlandverschickung waren. Die Aufnahmegaue für Berlin waren die Mark Brandenburg, Ostpreußen und der Warthegau, dorthin hatte es die Martens-Kinder verschlagen. Die Familie hatte Geld, sogar ein Hausmädchen lebte bei ihnen. Und nicht selten hörte man jemanden auf ihrem Blüthner-Flügel spielen.
Hinter ihr führten Frau Winkler und Herr Kämmerlin die Unterhaltung flüsternd fort. Die kannten sich hier alle seit Ewigkeiten, während ihr Vater und sie erst vor einem Jahr in die Fasanenstraße gezogen waren.
Sie passierte im zweiten Stock die Wohnung des alten Professors