Kleine Frau im Mond. Stefan Boucher. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Stefan Boucher
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783754174128
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das Heft zurück und heimlich hoffte sie, dass sie ein neues geliehen bekäme.

      Rappelnd kamen die Wagen zum Stehen und bewusst trat sie zur Seite. Deutlich neben die Türen, den Blick niederschlagend, damit man sie nicht für im Dienst befindlich hielt und nach dem Weg oder Preisen für Billetts fragte oder, schlimmer, sich über irgendwas beschweren wollte. Aber alles lief gut, die Menschen wanderten an ihr vorbei, einige Soldaten in Ausgehuniform drängten auf das Bahnsteighäuschen zu und jeder schien nur eines zu wollen: Heim.

      Kurz bevor die Bahn anfuhr, schlüpfte Mara durch die sich schließenden Türen und nahm Platz. Der Wagen war nur halb gefüllt. Leise unterhielten sich die Leute über dieses und jenes. Sie hatte erst am Montag Dienst und das freie Wochenende kam ihr vor wie Ferien.

      »Wenn ich Glück habe, geht Hermann mit mir in einen Film.«

      Das weckte augenblicklich ihre Aufmerksamkeit. Kino … das wäre mal wieder etwas. Ihr gegenüber saßen drei Blitzmädels in Uniform. Wehrmachtshelferinnen, so genannt wegen des gelben Abzeichens an ihren Ärmeln und dem gleichfarbigen Streifen an ihrem Schiffchen, der Uniformmütze. Die anderen kicherten. »Kinooo«, jaulte eine Schwarzhaarige. »Wer‘s glaubt«.

      »Aber hör mal«, beschwerte sich die Erste, eine lange dürre Bohnenstange. »Ich muss doch sehr bitten. Was unterstellst du mir da?«

      »Nichts, was du mir nicht auch unterstellen würdest«, betonte die dritte, eine dickliche Brünette spitz.

      »Tss, ihr könnt ja gar nicht mitreden.«

      »Was für ein Kulturfilm soll‘s denn sein?«, fragte die Dicke schmeichlerisch.

      »Kein Kulturfilm«, entgegnete die Erste und überhörte den Unterton. »Eine Parodie. Ein Film über Juwelenraub und einen schlauen Detektiv. Herr Sanders lebt gefährlich – gerade angelaufen.«

      Die beiden lachten. »Und du magst Detektivfilme? Seit wann!«, johlte die Schwarzhaarige.

      »Seit Paul Verhoeven mitspielt«, kicherte die Korpulente.

      »Du bist bescheuert«, nölte die Bohnenstange. »Paul Henkels ist der Räuber.«

      »Aber der sieht nicht aus wie Lutz. Der Verhoeven schon. Weiß Hermann das?«, gluckste wieder die Dicke mit einem Zwinkern zu den anderen.

      »Untersteh dich, der Schuft Lutz kann mir gestohlen bleiben. Treulose Tomate.«

      Verwirrende Namen, Mädchenprobleme. Mara schmunzelte und wandte sich ab, sie sah aus dem Fenster. Wenige Bäume, immer mehr Häuser zogen an ihnen vorbei, als es schnurgerade in die Mitte der Hauptstadt ging. Sie kannte den Film gar nicht. Angestrengt überlegte sie, ob sie denn mal davon gehört hatte. Der Titel kam ihr leicht bekannt vor: Herr Sanders … Vielleicht eine Schlagzeile im Filmkurier, den sie bisweilen am Zeitungsstand vom alten Darburg durchblättern durfte.

      Sie würde gerne wieder einmal Weltraumschiff 1 startet sehen. Der war faszinierend. Es war einige Jahr her, Ende 1940 hatte sie ihn das erste Mal gesehen und sie würde niemals ihr Staunen vergessen. Was für ein Spektakel: Eine Reise mit einem großen silbernen Raumschiff ins Weltall und rund um den Mond. Leise seufzte sie. Ein Kulturfilm, halb Spielfilm und halb dokumentarisch. So etwas gab es nicht oft. Kulturfilme waren ein wenig Glückssache. Sie wurden selten angekündigt. Meistens liefen sie nach der Wochenschau und vor dem Hauptfilm. In großen Kinos und bei Filmen mit Jugendfreigabe konnte man Glück haben. Die hatten zwei, manchmal drei Vorstellungen am Tag und einen entsprechenden Bedarf an Kurzfilmen. Da half nur immer wieder ins Kino gehen. Aber Billetts waren teuer und als Fahrkartenmädchen bei der Reichsbahn konnte sie sich keine großen Sprünge erlauben – und kleine leider ebenso wenig.

      »Nächster Halt Friedrichstraße«, rief der Schaffner an, der sie erst gar nicht kontrolliert hatte. Mittlerweile kannte sie so gut wie jeden bei der BVG.

      Sie stand auf und verließ den Zug, schnell zum benachbarten Gleis wechselnd, wo die Linie 2 einfuhr.

      Mit der S-Bahn zu fahren war ihr Spaß, ihre Leidenschaft, ihre Passion. Stundenlang saß sie manchmal in den Wagen, sah aus den Fenstern, ließ sich über die Streckenabschnitte der Ringbahn tragen. Von hier aus erreichte sie jeden Winkel der Stadt. Konnte alle Straßen sehen. Die prächtigen und die verwahrlosten, die großen Mietskasernen und Fabriken der Siemensstadt. Die einsamen Viertel des Grunewald, den quirligen und lebendigen, leicht chaotischen Alexanderplatz mit der weithin sichtbaren Roten Burg, dem gewaltigen Polizeipräsidium. Bis raus nach Potsdam ließ sich fahren und von dort Sanssouci erreichen, das legendäre Schloss des bedeutenden Preußenkönigs, der doch so bescheiden gewesen war. Das hatte sie jedenfalls in Der große König gesehen, dem Film von Veit Harlan. So entschieden stemmte sich der Alte Fritz der Kapitulation vor den Österreichern entgegen und war auch wirklich Sieger geblieben. Ein Vorbild, dachte sie bei sich. Auf dem Weg zu den Schlössern lag außerdem die S-Bahnstation Babelsberg-Ufastadt … wer hatte hier nicht alles den Boden betreten? Wessen Füße waren die Treppen hinuntergestiegen und auf der Straße gelandet, unter der Eisenbrücke hindurchgeschritten, von der herab es einem lange nach schweren Regengüssen noch in den Kragen tropfte, selbst wenn schon wieder die Sonne strahlte?! Babelsberg! Ufastadt! Klangvoll, berühmt und geheimnisvoll. Ein Begriff wie ein Gemälde, ein Juwel, ein Heiligtum. Babelsberg, die Filmstadt der UFA, unter deren Mantel seit 1942 die verstaatlichten Firmen der deutschen Filmproduktion versammelt waren.

      Mara setzte sich aufrecht hin. Der Bahnhof Zoo kam in Sicht. Gleich war es soweit und sie hielt die Augen offen. Da, endlich!

      Hoch überragten sie die Baumwipfel des Tiergartens: die Zwillingstürme der Luftverteidigung am Zoo. Erhoben sich über das Geschachtel der Dächer wie Burgriesen einer sagenhaften Zeit. Kastelle, an denen Sturm und Angriff anprallten, wie die Wochenschau sie beschrieb. Hinter ihren massiven Mauern fanden die Bewohner der Stadt Schutz. Von Ferne sichtbar war das metallene Rund einer schüsselförmigen Scheibe, nach innen gewölbt, von weitem Durchmesser und mehreren Metern Tiefe. Unwillkürlich streckte sie ihren Hals, als handelte es sich um eine Weltsensation, und das war es für sie auch. Eine mächtige Antenne, ausgerichtet auf die anfliegenden Feinde und in der Lage, sie hunderte, tausende Kilometer weit zu orten, lange bevor irgendein Spähposten sie mit seinen schwachen menschlichen Augen entdecken mochte. Was für eine Macht und Reichweite, schoss ihr immer wieder durch den Kopf, egal wie oft sie das Gerät sah. Man nannte die Schüssel den Würzburg-Riesen. Er thronte auf dem riesigen grauen Klotz aus Stahlbeton, der vor gerade einmal drei Jahren in den Tiergarten gepflanzt worden war. Dieser, mit modernster Technik vollgestopfte sogenannte L-Turm, war die Leitzentrale einer Stellung der Luftverteidigung. Er stand im Verbund mit dem G-Turm, auf dessen oberster Plattform Flugabwehrgeschütze installiert waren. Es handelte sich um die größten, die die Wehrmacht überhaupt besaß. Hatte sie zumindest gelesen. Unterhalb befanden sich rundherum Ausbuchtungen, genannt ›Nester‹, mit weiteren schweren Maschinengewehren. Die Bauwerke bildeten uneinnehmbare Festungen gegen die Wut der beinahe täglichen Luftangriffe.

      Die Türme, wie Mara sie sah, waren nicht bloß Verteidigungsbollwerke. Mit dieser Technik, so träumte sie, würde man einmal die Sterne anfunken. Bald sogar, wenn erst Frieden wäre. Und von einem Ort wie diesem, das stand für sie fest, würden dereinst Weltraumschiffe starten zu den Planetenräumen. Neben dem Zoo gab es Flaktürme noch in Friedrichshain und am Humboldthain. Eigentlich hätte ein vierter am Flughafen Tempelhof gebaut werden sollen, doch auf den war verzichtet worden, um den Flugverkehr nicht zu stören – so hieß es. Mara dachte weiter. Tempelhof … sicher hatte man Größeres vor – da steckte mehr dahinter – ein Turm für die Sterne vielleicht. Wäre das nicht logisch?

      Als die S-Bahn näher an den Bahnhof heranrollte, erkannte sie die wahre Größe der Zwillingstürme. Die Höhe des G-Turms betrug sechsunddreißig, die Seitenlängen über siebzig Meter. Die vier Ecktürme alleine hatten Außenlängen von mehr als zwanzig Metern. Bis zu fünfunddreißigtausend Menschen konnten darin Platz und Schutz finden. Oben, so hatte sie gehört, befanden sich neben den Geschützbettungen sogar siebzig Tonnen schwere Kuppeln aus Panzerstahl und mehrere Aufzüge zum Transport von Munition und leeren Hülsen. Das alles für einen Krieg, der doch bald gewonnen sein würde? Das konnte sie nicht glauben.