Fräulein Mara ist nicht bei der Sache
Montag, 6. März 1944
»Ist es sicher, dass ich dann auch wirklich vom Zoo aus nach Hamburg weiterkomme? Meine letzte Bahnfahrt war alles andere als erholsam.«
Verständnislos und stumm sah Mara den eleganten Herrn an, der die S-Bahn-Fahrkarte in der Hand hielt, aber noch immer vor ihrem Fensterchen stand. Sie hatte ihm nun schon zweimal gesagt, dass der Fahrplan kriegsbedingten Einschränkungen ausgesetzt sei. Was sollte sie sonst tun?
»Erst Ende November habe ich einen kleinen Weltuntergang überlebt, Frollein. Ich komme von Stettin und kurz nach 20 Uhr verlöschen die Lichter, der Zug hält und jemand ruft Luftgefahr. Dann bleibt er einfach auf offener Strecke stehen. Wir hören Geschützfeuer und in Richtung Berlin wird es hell.«
Mara nickte nur. Das widerfuhr vielen, es war kein Einzelfall.
»Erst nach einer Stunde geht es weiter. Um 22 Uhr sind wir in Angermünde, um 23 Uhr in Eberswalde. Angeblich ist die Strecke beschädigt. Erst um ein Uhr in der Früh sind wir in Bernau, dann müssen wir mit der S-Bahn weiter, weil der Stettiner Bahnhof angeblich unbenutzbar ist. Die S-Bahn ist aber viel zu klein für die Reisenden und ihr Gepäck, verdammt nochmal. Um 2.15 Uhr, oh, ich weiß es noch ganz genau, wirft man uns dann auch noch in Pankow-Schönhausen raus. Den Rest des Wegs müssen wir uns selbst durchschlagen. Mit Dackel und Weihnachtspute durch Qualm und Zerstörungen. Nennen Sie das etwa Bahnverkehr?«
Ihr Gesicht blieb ausdruckslos. Sie wusste nichts zu erwidern. Den Gedanken, ihn auf die Kriegslage hinzuweisen, verwarf sie. Stattdessen zeigte sie nur stumm auf die Bahnhofsuhr hinter ihm und er verstand. Endlich ging er von dannen, nicht ohne ihr einen letzten wütenden Blick zuzuwerfen.
Das Wochenende war ereignislos verflogen. Vater hatte Dienst in seinem Stellwerk außerhalb von Lichterfelde geschoben und war immer erst spät heimgekommen.
Sie hingegen schmökerte weiter in dem Wochenmagazin und in ihren Weltraumbüchern und war am Sonntag voller Neugierde nach Treptow gefahren, um sich die Sternwarte anzusehen. Die hatte sie auch schon in einem Kulturfilm erlebt, Die Himmelsleiter. Und sie war nicht enttäuscht worden. Die Bilder der Sterne, die man zu sehen bekam, waren fantastisch. Der Mond in allen Größen, so nah und dicht … sie wollte bald wieder hinfahren. Nur die Würmer von Samoa hatte sie nicht zu Gesicht bekommen. Wie eigentlich immer war sie alleine dort gewesen. Ihre gleichaltrigen Klassenkameradinnen von der Schule waren wer-weiß-wo gelandet. Evakuiert, oder sie verdingten sich als Blitzmädels bei irgendwelchen Truppenteilen.
Isolde hatte sie einmal getroffen, das lag Monate zurück. Die war groß, blauäugig und trug ihre Haare in einem dicken blonden Zopf. Ein Mädchen wie aus dem rassehygienischen Lehrbuch. Auf Drängen einer Lehrerin war sie im Bund Deutscher Mädel Führerin einer BDM-Mädchengruppe geworden, weil keiner sonst das machen wollte. Dabei hielt sie absolut nichts vom Führer und lachte über die Parteideppen, die ihr wegen Isoldes Aussehens nach der Pfeife tanzten. Gemeinsam hatten sie 1943 ihre Schule beendet. Mara brauchte ein Jahr länger als üblich. Der Tod ihrer Mutter schon 1937 hatte vieles durcheinandergebracht und sie musste eine Klasse wiederholen.
Sie vermisste die Freundin. Die hatte ihr ein ums andere Mal Bescheinigungen ausgestellt, wenn sie nicht zu den BDM-Treffen kommen wollte. Irgendwann waren keine Einladungen und Aufforderungen mehr gekommen und von selbst würde Mara sich da sicher nicht melden.
Aber auch alleine hatte sie in Treptow ihren Spaß gehabt. Für die Sterne interessierten sich andere sowieso nicht. Wie es der Artikel angekündigt hatte, war das Fernrohr besonders eindrucksvoll. Einem großen Geschütz gleich ragte es schräg aus dem Gebäude heraus, als wolle es höchstselbst eine Himmelsleiter bis in die Sternenwelt hinein ausfahren.
Mit diesen Gedanken war sie heute früh aufgestanden und zur Arbeit gefahren und sie hatten sie nicht losgelassen, bis jetzt.
Die Zeiger der Uhr in der Vorhalle standen exakt auf zehn Uhr. Um diese Zeit fuhren weniger Menschen als sonst, so dass sie meistens ungestört ihr Frühstück genießen durfte.
Im Halbdunkel der Küche hatte sie sich zuhause eine Stulle geschmiert, aber nur eine kleine. Sie wollte Vater etwas übriglassen. Mit ihren Brotmarken würde sie auf dem Rückweg frisches Brot holen. Die Lebensmittel wurden immer schlechter. Manchmal gab es keine Butter, oft nicht einmal Eier oder Mehl. Jedes Mal, wenn sie nach etwas fragte, was es nicht gab, schnauzte der Kaufmann am Hohenzollerndamm sie an: »Jetzt lassen Sie es gut sein, Fräulein. Wollen Sie etwas kaufen oder sind Sie auf eine politische Diskussion aus?«
Und dann bot er immer die gleiche Sorte Dr. Oetker Pudding an. Wie ein Werbemännchen. Der sei ja wirklich sehr gut. Mara lehnte stets ab. Sie hatte das Gefühl, dass er das absichtlich machte. Wollte er ihr irgendwas zu verstehen geben? Dass die Politik verantwortlich sei?
Vater hatte mal wieder Mittagsschicht. Die Wochenarbeitszeit war wegen des Krieges erst neulich abermals heraufgesetzt worden. Zweiundsiebzig Stunden für jeden Erwachsenen, zur selben Zeit hatte man die Lebensmittelzuteilungen gekürzt. So gut es ging, verdrängte sie den Gedanken und kaute mit kleinen Bissen, damit sie nicht sofort fertig wäre und bald erneut Hunger verspürte.
Dann schaute sie unschlüssig vor sich hin. Das bunte gläserne Rund der Hallenkuppel schwebte stumm da oben. Sie blinzelte, in der Ferne hupte ein Autobus, ansonsten war es ruhig.
Ihre Finger strichen über die Kante der hölzernen Tischoberfläche, blätterten in den Fahrbilletts. Die Stille war ungewohnt. Sie hatte Vorsteher Bommel bisher gar nicht gesehen und sie vernahm auch keine Musik. Oder doch! Stimmengemurmel drang von gegenüber aus seinem Büro. Jemand sprach. Sie war alleine und außer dem Chef dürfte und sollte niemand … etwa Fräulein Hanisch?
Neugierig schlich sie aus ihrem Kabuff und in die Halle hinein. Heute war es milder als am vergangenen Freitag, aber immer noch nicht warm. Die kühle Luft zog langsam vom Vorplatz durch zu den Gleisen. Sie sah sich um. Sie hatte ja nichts Verbotenes vor, trotzdem war ihr seltsam zumute.
Vorsichtig ging sie mit kleinen Schritten auf die Tür des Büros des Bahnhofsvorstehers zu. Daneben hing groß und weithin sichtbar der Fahrplan.
Das Gemurmel wurde vernehmbarer, aber sie verstand nichts, daher trat sie näher heran. Herr Bommel telefonierte offenbar und der Klang seiner Worte verriet, dass das Gespräch sich dem Ende näherte. Hastig tippelte sie leise zurück zu ihrem Fahrkartenschalter, doch bevor sie den Verschlag erreichte, hörte sie seine sonore Stimme nach ihr rufen.
»Fräulein Prager, was machen Sie denn abseits des Arbeitsplatzes?«
Sie drehte sich um und schenkte ihm ein herzliches Lächeln.
»Ich habe mir die Beine vertreten. Es sind ja keine Fahrgäste da.« Sie wollte den Türgriff greifen, aber Vorsteher Bommel war noch nicht fertig.
»Bleiben Sie mal stehen, hier. Dann muss ich Ihnen nicht hinterherlaufen. Dass keine Fahrgäste da sind, heißt ja nicht, dass Sie Ihren Arbeitsplatz verlassen sollen oder können.«
Sie sah bezaubernd aus in ihrer eng geschnittenen Uniform. Ihre dichten roten Haare quollen unter der Dienstmütze hervor und fielen schwer über die Schultern auf die Brust und den Rücken. Ihr bleiches Herzchengesicht lächelte, aber die hellbraunen Augen zeigten ein wenig Sorge. Worauf wollte er hinaus?
Er drehte sich um und schaute hoch zu der Bahnhofsuhr. Er nickte.
»Kommen Sie mal, wir unterhalten uns.«
Schuldbewusst trottete Mara hinüber zu ihm und folgte in sein Büro. Der große Volksempfänger, der sonst permanent Musik dudelte, wenn nicht das Grammophon spielte, war stumm. Sie bekam Angst. Hatte er bemerkt, dass sie ihm nachspioniert hatte und lauschen wollte? Er konnte das unmöglich spitz gekriegt haben.
»Lassen Sie die Tür mal offen, dann sehen wir, ob jemand kommt. Sie haben den Fahrkartenschalter ja nicht abgeschlossen, oder?«