Kleine Frau im Mond. Stefan Boucher. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Stefan Boucher
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783754174128
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ein – und der alte Darburg hatte sie ebenso. Das fiel ihr jetzt im direkten Vergleich auf. Menschen beobachten konnte sie. Sie tat ja den ganzen Tag nichts anderes.

      Ihre hellbraunen Augen sahen sofort, dass der Zeitungshändler weiter grübelte, als er sich ihr freundlich zuwandte.

      »Aber nun zu Ihnen, was darf es sein?«

      Hastig nestelte sie das Filmheft aus der Tasche und gab es ihm. Der Mann lachte, doch sagte nichts. Er nahm es nur zurück und legte es sorgfältig auf einen Stapel der Spätausgaben der Tageszeitungen, die er in die Auslage sortieren wollte.

      »Ich möchte fragen, ob Sie noch weitere Romane haben?«, erkundete sie sich höflich. Jetzt endlich hellte sich seine Miene wieder etwas auf.

      »Sie meinen, spannende Romane

      »Ja bitte, so wie neulich Der Tunnel über die unterseeische Atlantikverbindung zwischen Amerika und Europa.« Mara nickte erwartungsfroh. Als sie seinen ernsten Blick sah, sank ihr Mut.

      »Ingenieursfantasien … Sie wissen ja, dass solche Hefte dem Ernst der Zeit nicht mehr angemessen sind und deswegen …«, er hob die leeren Hände und sah sie mit einem bedauernden Gesichtsausdruck an.

      »Hmm«, brummte sie zustimmend und sah sich weiter um. »Der Mann gerade. War er Ingenieur?«

      Darburg grinste. »Neugierig sind Sie aber nicht, oder?«

      Sie schüttelte wild den Kopf und lachte keck.

      »Er ist Diplomat. Ein Graf sogar. Heißt von der Schulenburg. War einmal Botschafter bei den Sowjets. … Die Tom Shark Romane gefielen Ihnen, oder?«

      Selbstverständlich hatten ihr die Abenteuerbücher der Erlebnisse des draufgängerischen und gewitzten Detektivs gefallen. Die Serie war zwar seit 1941 eingestellt, einzelne Hefte konnte man aber leicht und gut finden. Sie hatte zwei geliehen bekommen und augenblicklich verschlungen: Der wandelnde Götze und Das Geschenk des Fakirs. In beiden ging es um metallene Figuren, die zum Leben erweckt wurden. Das fand sie faszinierend.

      »Tom Shark ist toll. Wie er die Verbrecher zur Strecke bringt und dabei in andere Länder reist und sich mit den Umständen dort herumschlagen muss. Aber leider, mein Vater hat die Romane gesehen und mir verboten, sie zu lesen.«

      »Ach«, hob Wilhelm Darburg die buschigen Augenbrauen. »Warum?«

      »Er sagt, das sei jüdische Zauberei wie im Golem

      »Oho«, schnaufte der Mann. »Ihr Vater kennt den Film? Der ist ja uralt!«

      »Nein«, brauste sie auf. »Er ist von 97, so alt ist er nicht!«

      Darburg lachte. »Ich meinte den Film von 1920. Aber gut, jung ist Ihr Herr Papa trotzdem nicht. Nur acht Jahre jünger als ich.«

      Mit großen Augen sah sie ihn an. Bisher hatte sie nie darüber nachgedacht, wie alt der Zeitungshändler sein könnte. Für sie war er immer schon dort gewesen, in dem kleinen Laden im Bahnhof Zoo.

      »Diesen Film hatte er im Sinn. Den fand er bestürzend.«

      »Ja, künstliche Menschen machen Angst. Mir auch. Aber jüdische Zauberei? Maria in Metropolis ist auch nicht jüdisch und sie ist ein Maschinenmensch.«

      Kaum erwähnte er den Filmtitel, leuchteten ihre Augen. Metropolis … sie war ein kleines Mädchen, als sie ihn gesehen hatte, und erinnerte sich mit Mühe. Eine Sonntagsmatinee zum reduzierten Preis. Dort zeigte man früher manchmal noch Stummfilme. Ein langer dunkler Film, die Bilder hatten sie fasziniert und geprägt. Mama war noch dabei. Da konnte sie also erst sieben Jahre alt gewesen sein, höchstens acht.

      »Stimmt. Metropolis ist toll. Ach, mein Vater … .«

      »Was kennen Sie denn von Tom Shark? Wussten Sie, dass er in der ersten Hälfte der Serie immer nur in Berlin ermittelt hat?«

      Sie schaute sich um und hätte sich gerne hingesetzt, aber der Laden war klein und sie traute sich nicht, auf einem Zeitungsballen Platz zu nehmen. Sie blieb stehen.

      Er fuhr fort. »Eine Entscheidung der Reichsschrifttumskammer. Ab 1935 musste der Verlag die Ermittlungsreichweite von Tom Shark ausweiten, dadurch wurde die Serie vielfältiger.«

      »Aber das ist doch gut«, behauptete Mara.

      »Für den Leser schon. Aber eigentlich ging es darum, dass nicht alle Verbrechen immer in der Reichshauptstadt passieren durften. Was sollen nur die Leute denken?!«

      »Ahaaa«, machte sie nachdenklich. Das wäre ihr nicht in den Sinn gekommen. Doch war es nicht einleuchtend? Wenn es jede Woche eines ausgefuchsten Ermittlers bedurfte, um die allerschlimmsten Untaten in der Hauptstadt aufzudecken, wie musste es dann erst in der Provinz aussehen? »Doch, den Tom Shark würde ich gerne mal wieder lesen«, sagte sie so höflich, vorsichtig und gleichzeitig charmant und begierig, dass der alte Darburg besonders zuvorkommend wurde. Irgendwo hatte sie einmal gehört, dass er Kinder hatte, die noch klein waren. Ein Mädchen, fünf oder sechs Jahre alt und einen jüngeren Sohn. Vielleicht behandelte er sie deshalb immer so ernsthaft. Die meisten Menschen nahmen sie ja gar nicht für voll.

      »Wie heißen Sie eigentlich?«, fragte er. »Bitte denken Sie nicht, dass ich unhöflich wäre, aber wir kennen uns ja jetzt schon eine ganze Zeit und wir haben noch nie einander vorgestellt.«

      Das Mädchen in der Reichsbahnuniform strahlte und machte einen Knicks, während sie ihm die Hand reichte zu einem zarten Händedruck.

      »Mara. Mara Prager. Berlin W15. Sehr erfreut«, sagte sie kess. »Sie dürfen Frollein sagen, das sagen alle.«

      Darburg lachte laut und deutete eine Verbeugung an. »Zu Ihren Diensten, junges Frollein, Berlin W15.« Beide kicherten, während draußen der Schnellzug nach Hannover angesagt wurde, auf Gleis 4 einfahrend.

      »Oh, mir fällt ein, ich habe einen Tom Shark zu Hause, den Sie bestimmt noch nicht kennen. Soll ich den mal mitbringen? Er heißt Das Raketenluftschiff. Ist schon zehn Jahre alt, aber gut geschrieben. Ich habe ihn für meine Kinder aufbewahrt, doch die sind noch zu klein, sie würden das nicht lesen. Sie heißen übrigens Linn und Erich.«

      »Das wäre wunderbar. Raketen, ich liebe Raketen. Die Weltenräume, unendliche Weiten …«, es schien, als hüpfe das Mädchen. »Dann darf ich morgen wiederkommen?«

      »Hätten Sie mich um Erlaubnis gebeten? Ich führe ein Geschäft!«

      »Nein, kaum«, sagte sie trocken. »Ich wäre einfach aufgetaucht.«

      »Gut so. Das gefällt mir«. Sein weißer Schnauzbart zog sich mit dem Grinsen in die Breite.

      Als sie sich zum Gehen anschickte, tat er einen langen Schritt zu einem der Zeitschriftenständer.

      »Warten Sie, mir fällt noch etwas ein. Das hier ist was für Sie. Da bin ich sicher.« Er zog eines der Hefte aus dem Drahtgestell und hielt es ihr hin. Auf dem rosafarbenen Titelbild sah sie einen Soldaten mit Stahlhelm, der sorgenvoll in die Ferne schaute. Die neuste Ausgabe der Woche vom vergangenen Mittwoch.

      »Danke«, sagte Mara zögernd und sah auf den Preis. 40 Pfennige. Viel Geld. Für die Titelgeschichte ›Fallschirmjäger als Panzerknacker‹?

      Der Zeitungshändler wusste ihren Blick zu deuten. Er nahm ihr das Heft aus der Hand und schlug es für sie auf. »Da, schauen Sie. Diesen Artikel meine ich. Ab Seite zehn.«

      Maras Augen weiteten sich. ›Sternwarte nicht nur für Gelehrte‹, las sie und überflog schnell den Text.

      »Mondsüchtige Würmer, das Leibgericht der Samoaner, gehören zu den astronomischen Seltenheiten des Museums der Sternwarte Treptow…«, murmelte sie leise. Dann hob sie die Augen und sah in sein altes Gesicht, schluckend. »Das ist … schon ekelig?!«

      »Ja, aber aufregend, nicht wahr? Hier, nehmen Sie es mit.« Er hielt es ihr hin, so dass sie nur die Tasche öffnen und er es hineinschieben musste. »Bringen Sie es morgen wieder, wenn Sie kommen. Oder übermorgen.«

      »Danke