Kleine Frau im Mond. Stefan Boucher. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Stefan Boucher
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783754174128
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Bommel ließ sich hinter seinen Schreibtisch plumpsen. Sein rechtes Bein war ein wenig steif geblieben nach einer Schrapnellverletzung im Krieg. So fiel ihm das Hinsetzen und Aufstehen immer schwer.

      Das Mädchen setzte sich zögerlich auf einen schlichten Holzstuhl, mit dem Rücken zum Ausgang. Dann faltete sie die Hände im Schoß und sah betreten zu Boden. Er hatte sie bislang nie zu sich gebeten. Das konnte einfach kein gutes Zeichen sein.

      »Wie gefällt es Ihnen bei uns, Mara?«

      Sie zuckte mit den Schultern und nuschelte. »Gut!«

      Ohne abzuwarten fuhr er fort. »Mir fällt auf, dass Sie nicht mit den Gedanken bei der Sache sind. Unsere Arbeit hier ist kriegswichtig. Jeder Volksgenosse muss an seinem Platz sein und seine Arbeit tun. Wenn wir uns aufgeben, gibt sich bald die Heimat auf und wer soll dann die Front stützen?«

      Sie sagte nichts. Verunsichert knetete sie ihre Finger zwischen den Knien.

      »Ihre Arbeit ist nicht schwer, was hindert Sie denn, Leistung zu bringen?«

      Mara atmete ein und aus, als wollte sie etwas sagen. Doch sie blieb stumm.

      »Wollen Sie sich nicht äußern? Das ist ein dienstliches Gespräch, Fräulein Prager.«

      Sie fasste sich ein Herz. »Es ist nicht …«

      »Ja?«

      Sie schnaufte. »Es ist nicht, dass die Arbeit zu schwer ist. Es ist gut hier. Sie sind gut zu mir. Es ist ...«, ihre Blicke huschten hin und her. Sie hatte selbst nicht darüber nachgedacht, und doch lag ihr die Antwort auf einmal geschliffen auf der Zunge. »Die Arbeit ist zu einfach. Ich kann mehr. Ich denke, ich kann schreiben. Ich will schreiben. Hier reiße ich Billetts ab und kassiere Geld. Alles trage ich in Listen ein, die Sie abheften. Wir sind ein kleiner Bahnhof.« Eine Pause trat ein. Sie hatte das Gefühl, als habe sie gesagt, was zu sagen war. »Ich kann einfach mehr«, wiederholte sie leiser. »Sogar Englisch«, flüsterte sie. Dann sah sie wieder zu Boden. Zu ihrer Überraschung sagte Vorsteher Bommel nichts, sondern reichte ihr etwas. Sie hob den Blick und musterte das Papier. Er wedelte ein wenig damit. Sie zog es aus seiner Hand.

      »Was …«, wollte sie fragen, doch er kam ihr zuvor.

      »Eine Abfrage der Wehrmacht an die Reichsbahnverwaltung. Wir sollen Personal melden, das abkömmlich ist und in der Wehrverwaltung dortige Soldaten ersetzen kann, die für den Fronteinsatz vorgesehen sind.«

      Augenblicklich schlich sich Sorge in ihr Gesicht. »Abkömmlich? Ich soll zur Wehrmacht?« Sein Blick löste sich von ihr. »Einen kleinen Moment!«, rief er plötzlich über sie hinweg. »Es kommt gleich jemand.« Dann sprach er wieder leiser. »Die Wehrmacht sucht Personal für die Verwaltung. Keine Soldaten. Ich habe mit Bruno gesprochen. Dein Vater sorgt sich um dich«, kümmerte er sich. »Die Wehrmachtauskunftstelle sucht eine Bürohelferin, eine Schreibkraft. Das hat nichts mit dem Militär zu tun. Es gibt eine Dienststelle in der Hohenstaufenstraße, das ist bei euch in der Nähe. Du könntest dort hinlaufen.«

      »Und was soll ich da machen? Kündigen Sie mir etwa, Herr Bommel?«

      Er schüttelte den Kopf und rief, diesmal etwas genervter, wieder in Richtung eines schnaufenden alten Mannes mit gelbem Gesicht, der ungeduldig auf das Ende ihres Gespräches wartete und in das Büro starrte: »Jetzt halten Sie sich nicht dran. Es kommt gleich jemand. Die Bahnen fahren alle zehn Minuten. Sie werden den Zug nicht verpassen!«

      Mara staunte über diesen Ton. Sonst warf er ihr ja vor, sich nicht ausreichend um die Fahrgäste zu bemühen. Dann wurde er wieder förmlicher.

      »Was Sie dort tun sollen, müssen Sie erfragen. Die Auskunftsstelle erfasst militärische Verluste, erstellt Vermisstenmeldungen, informiert Angehörige und übermittelt Stammdaten über ausländische Kriegsgefangene an das Rote Kreuz. Vielleicht ist das keine fröhliche Arbeit für ein junges Mädchen wie Sie, aber es ist bestimmt interessanter als hier. Ich habe mit denen telefoniert. Ich kenne jemanden bei der Wehrmacht, der wieder jemanden kennt in der Auskunftsstelle. Die haben einen Platz frei und Sie können sich morgen vorstellen. Keine Sorge. Ich kündige Ihnen nicht. Ich gebe Ihnen Sonderurlaub und stelle Sie nur frei. Sagen Sie mir, wie es Ihnen gefällt und falls nicht, kommen Sie zurück. Fräulein Hanisch hat Interesse, mehr zu arbeiten. Sie kann Ihre Schichten mit übernehmen.«

      »Aber das geht nicht, dann ist sie doch den ganzen Tag hier«, stieß Mara hervor. »Soviel darf man nicht arbeiten!«

      »Ja und?«, feixte der Vorsteher. »Das bin ich auch und mir hat es nicht geschadet. Stellen Sie sich morgen dort vor. Fräulein Hanisch weiß Bescheid, sie macht die Doppelschicht gerne. Sie sollen um 9 Uhr in der Hohenstaufenstraße 47/48 vorsprechen. Melden Sie sich bei Kriegsverwaltungsrat Schülke.«

      Mara verstand. Sie murmelte diesen Namen vor sich hin und stand langsam auf, damit die Fahrgäste nicht länger auf die Billetts warten mussten. Hastig durchdachte sie das Angebot. Es schien, als könne sie nur gewinnen. Falls es interessant wäre, lernte sie eine vollkommen neue Tätigkeit kennen. Wenn nicht, würde sie mit dem weitermachen, was sie bis jetzt gemacht hatte.

      »Und mein Dienstverhältnis?«

      »Bleibt bestehen. Das sagte ich ja. Die Reichsbahn leiht Sie aus. Selbst die Personalfahrkarte bleibt gültig.«

      Sie lächelte. Das war ihr wichtig. Erleichtert lief sie durch die Halle zu ihrem Schalter, vor dem außer dem gelblichen Mann jetzt zwei Frauen mittleren Alters warteten. Schnell stellte sie ihnen die Fahrscheine aus, dann hatte sie wieder Zeit und Ruhe, um nachzudenken.

      Jeder könnte Karten abreißen, dachte sie, dafür brauchte man sie nicht. Sie wollte ja nicht undankbar sein. Eine Arbeitsstelle bei der Reichsbahn auf einem langweiligen Bahnhof im Südwesten Berlins – es war 1944! Viele Menschen würden ihr Schicksal in einem Rüstungsbetrieb oder an der Front liebend gerne mit ihr eintauschen. Das war ihr schon klar. Wenn sie bloß nicht das Gefühl hätte, dass sie hier langsam dumpfsinnig würde.

      Aus dem Büro von Vorsteher Bommel drang wieder leise Musik. Eigentlich war es sehr nett von ihm, so mit ihr zu sprechen. Anscheinend müsste sie auch ihrem Vater dankbar sein.

      Plötzlich wurde ihr eiskalt vor Schreck. Sie hatte Herrn Darburg heute früh Die Woche zurückgeben wollen, damit er sie verkaufen könnte, denn am Mittwoch käme ja schon die neue Ausgabe. Das war ihr vollkommen durchgegangen. Wenn sie morgen zur Wehrmachtauskunfstelle ginge, würde sie keine Zeit haben, am Bahnhof Zoo vorbeizuschauen. Das war ein Umweg. Die Hohenstaufenstraße lag südöstlich der Fasanenstraße, zehn bis fünfzehn Minuten Fußweg entfernt. Der Zoobahnhof jedoch nordöstlich, ebenso weit. Sie musste es daher heute tun und durfte es nicht vergessen. Sicher würde Herr Darburg nichts sagen, aber es gehörte sich nicht, es zu spät zurückzugeben.

      Sie nahm das Heft heraus und legte es säuberlich nach oben in ihre Tasche, damit sie es sähe, wann immer sie sie öffnete. Dann trommelte sie ungeduldig mit den Fingern auf der Tischplatte herum. Veränderungen machten sie neugierig und je länger sie darüber nachdachte, desto mehr gefiel ihr die Idee, Neues kennenzulernen, eine andere Arbeit zu tun. Letzten Endes – zurück konnte sie jederzeit, hatte Vorsteher Bommel gesagt. Sie schloss die Augen und stellte sich vor, wo sie bald tätig sein würde.

      Um 12.43 Uhr heulten die Sirenen und hörten bis vor kurz nach 14 Uhr nicht auf. Was genau los war, wusste sie nicht. Erst am späten Nachmittag erfuhr sie, dass einige hundert Flugzeuge nicht nur Flugblätter über Berlin, sondern erstmals auch mitten am Tage Bomben geworfen hatten.

      Dienstag, 7. März 1944

      In der Nacht war es ruhig geblieben, es hatte lediglich einen Alarm am Abend gegeben. Genau um zwanzig nach neun war das Geheule der Luftwarnung losgegangen – Mara hatte zufällig auf die Uhr geschaut, nachdem sie eingenickt und in einen blöden Traum gefallen war. Sie befand sich an einem fremden Ort und sollte eine Höhle untersuchen. Wer das von ihr verlangte, wusste sie nicht. Sie musste es tun, so viel war klar, trotz schrecklicher Angst. Die Gegend war wüstenhaft. Dann erlöste sie der furchtbare Heulton,