Kleine Frau im Mond. Stefan Boucher. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Stefan Boucher
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783754174128
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doch bitte bald wieder.«

      »Meine Damen und Herren«, schrie der Beamte gegen den Aufbruchslärm und aufgesetzten Jubel, krebsrot angelaufen und mit hervorstehenden Adern auf seiner Stirn. Seine Stimme drohte gefährlich zu kippen. »Ich danke Ihnen für diesen Ausdruck Ihrer Zustimmung. Ich weiß, unter Ihnen ist kein Einziger, der sich in den kommenden Sommermonaten nicht freiwillig für den Ernteeinsatz melden wird.«

      Kein klares Wort konnte den Beifallssturm mehr durchdringen. Alle waren im Aufbruch. »Das Wartheland«, schrie der Mann wie von Sinnen. »Das Wartheland ... wir brauchen …«

      Jetzt erhob sich auch Simeon, nachdem die Prominenten bereits verschwunden waren. Er musste immer genau darauf achten, wie er wirkte und vorsichtig sein. Es gab Bekanntere, die auf dem Schafott gelandet waren. Also ging er nie als Erster und auch nicht als Letzter.

      Der Saaldiener lächelte ihn an und gab ihm seine Oberbekleidung. Natürlich wusste jeder, was da drinnen gerade passiert war. Simeon grinste zurück. Sie hatten den Funktionär abgemeiert nach allen Regeln der Kunst, der deutschen Kunst, sozusagen. Die Stars gemeinsam mit den Namenlosen.

      Er trat in den kühlen Abend hinaus und blieb einen Moment stehen, weil er unschlüssig war, ob er noch irgendwo etwas trinken sollte. Zuhause wartete sowieso nur die kleine Wohnung auf ihn.

      Ein Mann in langem Mantel stand einige Schritte entfernt und sah in die Nacht. Nein, er rauchte, blieb zunächst halb abgewandt, das Gesicht schimmerte hell auf, als er genussvoll saugte. Nach einem stillen Moment quoll Rauch aus dem halbgeöffneten Mund und er legte den Kopf in den Nacken, als wolle er ihn gleich zu den Sternen pusten. Das graue Band zerfaserte bald in der kalten Luft.

      Während sich die meisten beeilten, in der Nacht zu verschwinden, schaute Simeon versonnen den sich in der Dunkelheit zerstreuenden Künstlerkollegen nach. Er hätte sich totlachen können über die Mira. Wie ernst sie bleiben konnte, und gleichzeitig haute sie die absoluten Brüller raus. So wie in Liese und Miese. Es war beinahe schade, dass er … sonst würde er sie … nein, war es nicht. Es war eben so.

      »Das war eine Schau, nicht wahr?«

      Als Simeon sich der Stimme zuwandte, blickte er in eine geöffnete Zigarettenschachtel in rot-orangenem Design. Ernte 23, ging es ihm durch den Kopf. Qualität!

      Der Raucher sprach ihn an. Sein Gegenüber trug die Haare kurz, jedoch nicht militärisch. Gute Markenzigaretten, das ist jemand von Stand!, war sein Eindruck. Es handelte sich um den Herrn mit der kleinen runden Brille, der ihm vorhin zum ersten Mal aufgefallen war. Bekleidet mit einem Straßenanzug von der Stange. Elegant zwar, aber kein Luxus. Simeon trat zu ihm, nahm sich eine Zigarette und der Mann schüttelte die Packung. Er verstand und griff noch zwei, dann weitere drei, die er vorsichtig in seine Innentasche schob. Man konnte nie wissen. Glimmstängel waren ein beliebtes Tauschmittel. Und dann die Ernte

      Als Künstler war Simeon, wie alle, immer offen für Gespräche mit einflussreichen Menschen, daher sah er den Herrn freundlich an.

      »Ich denke, wir sollten uns einander vorstellen. Mein Name ist Leopold Latz. Ich möchte Ihnen ein Angebot machen, Herr Wehrstein.«

      Überrascht hob Simeon die Augenbrauen und folgte dem Fremden, der einige Schritte in die Dunkelheit vorausging.

      Freitag, 17. März 1944

      »Guten Morgen«, flötete Mara beim Betreten des Büros. Voller Schwung hängte sie ihren Reichsbahnmantel an den Haken und ging zu ihrem Platz. Die anderen sagten nichts, sondern tippten vor sich hin. Nach dem Gespräch mit Frau Schneiderer hatte es keine weiteren Beanstandungen gegeben und sie konnte in Ruhe arbeiten. Sie war bestens gelaunt. Seit dem schweren Angriff vor einer Woche hatten sich nicht einmal mehr öffentliche Luftwarnungen ereignet. Ob sich bald alles zum Guten wenden würde?

      Auf ihrem Schreibtisch lag der Kondolenzbrief, den sie gestern geschrieben hatte. Er war abgezeichnet, aber auf der Abschrift für die Akten fand sich ein Vermerk. Sie runzelte die Stirn und setzte sich. Wieder eine Ermahnung?

      Sie las: Ein sehr aufrichtiges und anteilnehmendes Schreiben. Gut gemacht, Frl. Prager! Heil Hitler. Unterschrieben von Stabsfeldwebel Sauerland.

      Lächelnd lehnte sie sich zurück. Sie hatte bemerkt, dass der Gefallene nur kurz zuvor mit dem Eisernen Kreuz erster Klasse ausgezeichnet worden war. Vermutlich wussten die Angehörigen das noch nicht oder freuten sich über die Auszeichnung, während schon die schreckliche Nachricht zu ihnen auf dem Weg war. Sie hatte sich also den Rest hinzugedacht:

      Frau Ilse Reimann, Regensburg.

      Sehr geehrte Frau Reimann.

      Ich habe heute die schwere Aufgabe, Sie davon zu verständigen, daß Ihr Gatte, Unteroffizier Max Reimann, am 25. Februar bei einem Spähtruppunternehmen getreu seinem Fahneneide für Führer, Volk und Vaterland gefallen ist. Er fiel an der Spitze des von ihm geführten Spähtrupps 15 km nördlich von Kriwoi Rog.

      Zu dem schweren Opfer, daß Sie für das Vaterland brachten, spreche ich Ihnen zugleich im Namen seiner Kameraden meine wärmste Anteilnahme aus.

      Die Kompanie verliert in Ihrem Gatten, dem erst vor einigen Tagen des E.K. 1. Klasse verliehen wurde, einen äußerst tapferen Soldaten und guten Kameraden. Möge Ihnen die Gewißheit, daß Ihr Gatte sein Leben für die Größe und den Bestand von Führer, Volk und Vaterland hingegeben hat, ein kleiner Trost sein in dem schweren Leid, das Sie betroffen hat.

      Ich grüße Sie in tiefem Mitgefühl! Heil Hitler

      Ihr sehr ergebener

      Gez.: Sauerland, Stabsfeldwebel

      Sauerland hatte gestern höchstpersönlich einen Stapel Listen gebracht. Ausfälle des XXXX. Panzerkorps der Heeresgruppe A, die Ende Februar bei Apostolowo unter hohen Verlusten zurückgedrängt worden war. Die Kommandeure dort konnten unmöglich selbst längere Briefe verfassen. »In dieser Situation sind wir gefragt, die Moral an der Heimatfront so gut wie möglich zu unterstützen«, hatte er gesagt.

      Und jetzt dieses Lob. Sie atmete tief durch. Mit frischem Elan zog sie den neuen Papierstoß zu sich heran. Verlustlisten der 2. SS-Panzerdivision, Vermerk: Eilt, verlegt nach Frankreich. Das beunruhigte sie nicht mehr. Sie kannte ja ihre Remington.

      Etwas rutschte hinten aus dem Stapel. Sie streckte sich und fand ein Taschentuch. Darin war was eingeschlagen. Erstaunt erkannte sie zwei Achtelstücke Schokolade. Sie ließ ihre Blicke durch den Raum schweifen, ohne sich zu bewegen, und setzte sich langsam hin. Woher kam das? Die Frauen hatten nichts bemerkt. Ob vielleicht … Manfred? Sie lächelte. Niemand anderes fiel ihr ein. Er musste die Stücke von seiner Lebensmittelration abgezweigt haben.

      Die Tür flog auf und mit einem launigen »Heil Hitler« erschien die Schnatterer. Sie brachte eine neue Anweisung für die Weitergabe von Listen an das IKRK und überreichte sie den drei Schreiberinnen. Mara war mit solchen Direkteingaben an das Internationale Rote Kreuz nicht befasst. Daher wurde sie gar nicht beachtet. Zaghaft meldete sie sich zu Wort.

      »Entschuldigen Sie, Frau Schneiderer. Ist Obergefreiter Halber heute da? Ich habe ihn länger nicht gesehen.«

      Die Schnatterer sah sie ernst an. »Dienstliche Angelegenheiten können Sie mit den Kolleginnen oder mir erörtern, Fräulein Prager.« Dann setzte sie milder hinzu: »Der Obergefreite Halber holt Listen aus dem Stammlager IIID. Er wird für den frühen Nachmittag vom Stalag zurückerwartet.«

      Mara bedankte sich höflich und tat so, als spanne sie Vordrucke ein, um neue Kondolenzschreiben zu verfassen. Insgeheim dankte sie ihm aber für die Schokolade. Das hätte sie niemals erwartet. Sie mochte die Sorte gar nicht besonders, diese würde sie sich trotzdem für einen speziellen Moment aufheben.

      Manfred machte sich rar. Seit Anfang der Woche begann er morgens früher und arbeitete länger. Gestern hatte er ihr erzählt, dass immer öfter Angehörige der Kernwehrverwaltung an die Front versetzt würden und ihre Aufgaben an angelernte oder weibliche Freiwillige gingen.