»Überrascht? Ich dachte, du hättest mich erwartet?«, grinste er.
Mara stammelte nur »Ehhm«.
»Du kennst mich nur in Uniform, stimmt‘s?«
Sie nickte. Er sah aus ... wie ein Gentleman. Wie ein Schauspieler.
»Also dann, gehen wir.« Seine Augen strahlten. Auch die dicken Brillengläser konnten das Leuchten nicht mindern. Sie schlenderten zum Tauentzienpalast und stellten sich hinten in die Schlange. Die friedlichen Tage wurden von den Menschen in vollen Zügen genossen – wer wusste schon, wann es die nächsten furchtbaren Luftangriffe geben würde?
»Hier ist ja was los«, staunte Mara.
»Aber sicher«, stimmte Manfred ihr zu. »Hier gibt es alles, was du dir vorstellen kannst. Und auch was man sich nicht vorstellen kann. Bis vor ein paar Jahren war dort die Kakadu-Bar, an der Ecke Joachimstaler, Ku’damm und Augsburger. Da hing über jedem Tisch ein Käfig mit einem Kakadu, der auf Kommando die Rechnung bestellte.«
Sie lachte laut und fröhlich.
Er zeigte auf einige schimpfende Wartende, die an der Kasse abgewiesen wurden. Es schien, dass die Vorstellung ausverkauft war. »Die Feuerzangenbowle ist aus, wie wäre es mit einem Tänzchen im Femina?«
»Femina, ich weiß nicht.« Sie sah neugierig die geschmückte und erleuchtete Fassade hoch, wenigstens bis zur zweiten Etage, denn darüber verdeckten die Tarnnetze des Luftschutzes die Sicht. Es sah aufregend aus, aber klang verrucht. Da gehörte ein anständiges Mädchen eigentlich nicht hin. Doch sie war nun hier, und sie hatte männliche Begleitung.
Manfred ließ ihr nicht die Zeit weiter zu grübeln, sondern ging einfach vor und auf das Portal zu, so dass ihr nichts andere übrig blieb, als zu folgen.
Die riesige, doppelflügelige Tür öffnete sich und augenblicklich veränderte sich die Atmosphäre. Die Dunkelheit des Abends, die einsetzende Kühle verschwanden im Hintergrund hinter ihnen. Ein hell erleuchteter Vorraum tat sich auf, an den sich zu beiden Seiten Freitreppen anschlossen und im Hintergrund befand sich eine weitere Tür. Breiter und höher als die erste, aus dunklem Holz mit goldenen Ornamenten verziert und mit geschliffenem Kristall in der Mitte versehen. Dahinter erkannte sie schemenhafte Bewegungen, hörte Gelächter, Geräusche. Klirrendes Glas, sah taghelles Licht. Der Vorraum war gefüllt mit Menschen. So hatte Mara es in ihren Romanen gelesen, wenn die Helden in mondänen Hotels abstiegen. Das gab es wirklich … hier in Berlin … und sie mittendrin? Musik drang an ihr Ohr, schräg, schnell überspitzt. Sie waren ja kaum in das Gebäude vorgedrungen und wenn sie sie bis hierhin hörte, bei all dem Lärm – da musste riesig was los sein.
»… Alter …?«, sagte jemand undeutlich.
»Sie ist mit mir hier, achtzehn Jahre«, antwortete Manfred bestimmt und flüchtig schenkte sie ihm ein Lächeln, vollkommen überwältigt von dem, was hier um sie herum geschah.
Als sie nach oben sah, bemerkte sie eine verspiegelte Decke und darunter hing ein großer und runder Kristallleuchter.
Jemand zupfte an ihr und zog sie mit. Mara konnte den Blick nicht von dem spiegelnden Himmel über ihr lösen. Sie sah sich selbst, ganz klein, und viele andere, ebenso winzig. Aber alles war so fremd. Eine wahrhaft neue Welt, an der sie sich nicht sattsehen konnte.
»Staune keine Löcher in die Luft, wir müssen die Mäntel abgeben.«
Sie senkte unwillig ihren Blick. Er hatte sie zu einer Garderobe geführt und bereits seinen Mantel ausgezogen. Gerade reichte er einem Pagen in Uniform mit seidenem Einstecktuch den Bowler-Hut.
»Jetzt du«, er traf Anstalten, ihr aus der Jacke zu helfen. Sie musste sich wahrhaftig zwingen, nicht wieder nach oben zu sehen, selbst die Garderobe war aufregend neu und anders. Das Tuch zog sie vom Kopf und legte es sich um den Hals und verrenkte sich etwas, damit ihre schwere rote Mähne sich nicht verhedderte, dann drehte sie sich um.
Manfred langte nach ihrem Schal, doch hielt urplötzlich inne und betrachtete sie.
»Ich behalte ihn um, nur zur Sicherheit«, deutete sie seine Reaktion falsch.
Er schüttelte den Kopf und sah sie von oben bis unten an. Sie trug ein dunkelrotes Kleid. Es war leicht ausgeschnitten. Keinesfalls so aufreizend, wie viele junge Mädchen es wagten, aber gegenüber den hochgeschlossenen Blusen, die sie in der Dienststelle anhatte, war es fast freizügig. Von einem Vergleich mit ihrer Reichsbahnuniform gar nicht zu reden. Deshalb das Tuch um den Hals.
»Och, das Kleid?!«, deutete sie seinen Blick und er nickte. »Mein Vater hat es mir zu Weihnachten geschenkt.«
»Du bist wunderschön«, hauchte er dann. Der weiße Seidenschal um ihren Hals schuf einen zauberhaften Kontrast zu dem vollen Rot ihrer Haare und dem bleichen Teint ihres Gesichtes. Er zwang sich zu einer Reaktion, er musste einfach etwas tun.
»Noch weitere Kleidungsstücke, mein Herr?«, fragte der Page.
»Nein, wir sind soweit«, rief Manfred fast erleichtert aus. »Los, lass uns gehen.«
»Aber wohin …«, begann Mara, als er sie etwas grob durch die Menge schob, auf die große Tür zu, hinter der die Musik immer lauter wurde.
Er kicherte lediglich und schubste sie sanft vor sich her. Nicht uneigennützig, so konnte er es sich erlauben, ihren Rücken zu berühren, und das genoss er offenbar außerordentlich, denn er ließ die Hand dort.
Die Tür öffnete sich wie von selbst und gab den Blick frei auf einen großen Ballsaal, Prinzen und Fürsten würdig, aber das war nur der erste Eindruck. Eine Balustrade lief rund um die wahrhaft riesige Tanzfläche. Oben, wie auch rundherum, saßen oder standen Menschen und unterhielten sich, tranken, lachten und scherzten. Auf einer Empore spielte ein Orchester moderne Tanzmusik auf eine Art, wie sie Mara nie gehört hatte. Schnell, feurig, laut, wild und frech. Spanisch, so wie man in der Heimat von Juan Llossas Musik machte, und dann wieder verboten westlich, amerikanisch, fand sie, obwohl sie sich nicht gut mit sowas auskannte.
»Wollen wir dort sitzen?«, rief Manfred durch ihre Faszination hindurch und wies auf einen Tisch, an dem bereits einige junge Männer in schwarzer Uniform saßen, die heftig mit ihren Freundinnen flirteten.
»Nein, dort ist auch was frei«. Sie zeigte auf einen anderen, der näher an der Tanzfläche war. »Da sehe ich mehr vom Geschiebe und Geschubse«, schwindelte sie. Manfred führte sie dorthin und sie nahmen Platz. Sie fanden zwei Stühle über Eck und konnten sich und die Umgebung gut beobachten.
»Wann hast du eigentlich Geburtstag?« Er sah sie fragend an.
»Am 20. April. Wie der Führer. Und du?«
»3. August«, kam es wie aus der Pistole geschossen und sie beschloss, sich das unbedingt zu merken. »Einen kleinen Moment«, er ging zu den Jungs in Schwarz und wechselte ein paar Worte. Zwei von ihnen sahen hinüber und grüßten nickend. Dann kam er wieder zurück.
»Oh, du kennst die?«, fragte sie.
Er nickte. »Schulfreunde. Anscheinend auf Fronturlaub. Ich habe sie lange nicht gesehen. Sie würden sich gleich gerne mit mir unterhalten. Ist das in Ordnung?«
Mara stimmte leise zu. Sie mochte den Blick nicht von den Tanzenden abwenden. Die hüpften, drehten sich im Kreis, wirbelten einander durch die Gegend. Das … das … war so unerhört.
»Kannst du tanzen? Sollen wir?«
»Sowas kann ich nicht. Nein. Es ist … wild.« Sie errötete und Manfred musste laut lachen.
»Ach was, ist wie Walzer, nur schneller.«
Sie sah ihn an, als hätte er sie beleidigt. »Ich kann Walzer und das ist kein schneller Walzer. Aber …«, sie besah sich das Treiben und überlegte, ob sie es ihm sagen sollte. »Ich kann Foxtrott.«