»Haben Sie meinen Vater gesehen, Frau Winkler?«
Die Alte musterte sie von oben bis unten. »Meinen Sie, er würde sich bei mir verstecken? Herr Winkler hätte sicher etwas dagegen.«
»Was? Nein!«, fast wollte es sie schütteln, doch sie riss sich zusammen. »Lichterfelde ist bombardiert worden und ich mache mir Sorgen.«
»Oh. Aha«, sagte die Alte nur. »Nein, er ist nicht hier.« Damit schloss sie die Tür wieder. Mara war entsetzt. Die hatte gar nicht zugehört. Sie musste weiter fragen.
Die Wohnung in der Dritten lag wie immer im Dunkeln, sie hatte dort noch niemals jemanden gesehen. In der zweiten Etage bei Professor Hübner brannte Licht und er öffnete höchstpersönlich die Tür und hörte sie an. Ehrliche Sorge trat auf sein Gesicht, doch er hatte keine Ahnung.
Den Ingenieur ließ sie aus, einen letzten Versuch wollte sie bei den Butzkes starten. Mildred Butzke öffnete, eine Frau kaum bestimmbaren Alters, wenig verwöhnt vom Leben und sich selbst, mit grauer Haut aber wohlgenährt. Sie sah das Mädchen, drehte sich nur um und rief augenblicklich nach ihrem Paul.
Hausmeister Butzke schlurfte heran und hörte ihr zu. »Ist er denn schon lange überfällig?«, fragte er.
»Ich weiß nicht genau, ich denke ja. Er hatte Frühdienst.«
Der Hausmeister grübelte und kratzte sich an der Stirn und zog die Nase hoch. »Dann sehe ich ihn meistens gegen 15 Uhr. Oder 16 Uhr, wenn er etwas besorgen musste.«
Im Hintergrund erkannte sie Heinz, der sich aus einem Türrahmen schob und sie mit blassen Augen anstarrte. Er regte sich nicht und sagte nichts, sondern starrte nur, den Mund leicht geöffnet. Der Hausmeister nickte ihm zu. »Es ist nicht der Werner, keine Sorge. Heinz, gesucht wird der Herr Prager. Möchtest du Mara bei der Suche helfen?«
Der Junge änderte seine Haltung nicht, aber sie bemerkte eine Regung in seinem Gesicht. Daher beeilte sie sich, abzulehnen.
»Danke, Herr Butzke. Das ist sehr nett. Ich werde oben warten.«
»Heinz könnte doch mit dir …«
Sie bemühte sich um ein fröhliches Lachen, aber hob trotzdem abwehrend die Hände. Sie wünschte einen guten Abend und ging wieder zurück. Im Gegenlicht der Beleuchtung in der Winkler‘schen Wohnung sah sie immer noch den Schatten einer Person hinter dem Glas. Oben angekommen stieß sie die Tür zu und setzte sich auf das Sofa im Wohnzimmer. In Zeitlupe schienen die Zeiger der Uhr vorzurücken.
Alles war still. Der Flur, das Treppenhaus, die Wohnung – ihre ganze Welt, beinahe lautlos. Das eigene tiefe Atmen war das Einzige, das sie hörte und dieses begann nun zu stocken. Ihre Augen füllten sich. Sie würde jeden Moment anfangen zu weinen.
Zufällig berührten ihre Finger die Tasche, die sie immer mit sich führte. Das Heft fiel ihr ein, das Manfred extra für sie besorgt hatte. Sie entnahm den Umschlag und zog es heraus. Eine Ausgabe Jan Mayen. Sie erinnerte sich an die Serie. Besonders gerne hatte sie sie bisher nicht gelesen, doch jetzt machte sie das Heft glücklich und schenkte ihr Ruhe. Sie blätterte es auf und las. Menschen in ganz Europa erkrankten an einer Seuche, die durch den Verzehr von Schweine- und Rindfleisch ausgelöst wurde. Was für ein hanebüchener Mumpitz, lächelte sie zaghaft. Aber so beruhigend unrealistisch.
Als sie das Geräusch hörte, ließ sie das Heft sinken. Zunächst war es nur eine Ahnung, dann warf sie es beiseite und rannte los.
»Auf Erden hier unten, im Himmel dort oben, den gütigen Vater, den wollen wir loben«, hallte es laut und falsch durch das Treppenhaus. Mara riss die Tür auf. Das war er! Wenn er betrunken war, grölte er oft Kirchenlieder, die er aus Schlesien kannte, aus seiner Kindheit.
»Ihr Sonnen und Monde, ihr funkelnden Sterne, ihr Räume des Alls in unendlicher Ferne …« – das Lied kannte sie. Sie hatte es immer geliebt. Sonne, All, unendliche Räume …
»Paps«, stieß sie heraus, aber ihr Vater torkelte nur vorbei, ohne sie eines Blickes zu würdigen.
Sie schloss die Tür, trotz allem von Herzen erleichtert, dass er wieder da war. Alkohol und Kirchenlieder, meistens gab es dann schnell Streit. Heute war ihr das gleichgültig.
Er wankte in sein Schlafzimmer und zog sich aus. Nur mit Unterhemd und Unterhose bekleidet fiel er ins Bett, zog sich die Decke über und rollte auf die Seite.
Das Mädchen verharrte einige Minuten im Türrahmen. Als sie dachte, er schliefe, löschte sie die Lichter in der Wohnung und wollte in ihr Zimmer gehen. Es war erst kurz vor acht, aber sie war jetzt beruhigt und hatte etwas zu lesen.
»Mara«, hörte sie seine Stimme, als sie wieder an seinem Schlafzimmer vorbeiging. Sprach er im Schlaf? Anscheinend nicht, denn er redete weiter.
»Mara, Lichterfelde wurde heute angegriffen. Ich konnte vom Stellwerk aus alles sehen.« Das klang zwar schwer benebelt und er lallte, aber die Struktur der Sätze war klar und deutlich. »Wie eine Wand aus Regen prügelte es auf den Süden Berlins ein. Ich war abgeschnitten und konnte erst mit einem Bautrupp der Reichsbahn wieder zurück in die Stadt. Ich habe Dinge gesehen …«. Seine Worte brachen ab. »Soviel Zerstörung. Im Krieg gegen die Franzosen …«, nochmals folgte eine längere Pause. Seine Stimme schien so klar, als wäre er stocknüchtern. »Das war Soldat gegen Soldat. Der andere war etwas schneller als Herbert, deswegen hat der jetzt ein Hinkebein. Aber hier, Mara … ganz normale Leute wohnen da. Ich habe sie nachher auf dem Rückweg gesehen, wie sie verrückt vor Angst aus den Trümmern krochen. Die Fenster in den Häusern eingedrückt, die Türen aus den Angeln gerissen … blockierten die Treppenaufgänge. Kein Strom, geplatzte Wasserleitungen. Wie sie Tote herauszerrten. Manche noch kleine Kinder …«, ein wimmerndes Schnaufen erklang. »Der Fernzug nach Leipzig stand mitten auf der Strecke durch Lichterfelde. Volltreffer.« Dann brabbelte er etwas, das klang wie »Henni«. Danach schnarchte er nur.
Beklommen ging sie in ihr Zimmer und schloss die Tür. Sie hielt das Jan Mayen-Heft auf dem Schoß, aber die Lust zum Lesen war ihr vergangen. Mehr Tod? Diesmal bloß in Grün? Danach stand nicht ihr Sinn.
Olga Tschechowa inkognito
Freitag, 10. März 1944
Am Tag nach dem verheerenden Luftangriff auf den Süden Berlins brummte die Wehrmachtauskunftstelle wie ein Bienenstock. Selbst die Tagesmeldungen des Oberkommandos der Wehrmacht, die täglich um 12 Uhr vom Rundfunk ausgestrahlt wurden, erwähnten ihn mit wenigen Worten. Mara und die anderen hatten kaum eine ruhige Minute. Ständig kamen neue Meldungen herein. Fernmündlich übermittelte Listen sollten getippt und versandt werden. Mehrmals musste sie selber in Thüringen anrufen, um Namen und Truppenteile zu überprüfen, weil die durchgegebenen Informationen offenkundig unvollständig oder Familiennamen falsch geschrieben waren. Pausen gab es heute keine. Die Schnatterer war kaum aus ihrem Büro herausgekommen. Stabsfeldwebel Sauerland hatte bei der Anfertigung von Listen für Saalfeld geholfen, die am Nachmittag per Boten abgeholt worden waren.
Mit Manfred hatte sie nur einige Blicke gewechselt. Nicht einmal einen guten Morgen hatten sie sich wünschen können. Er schien früher in die Dienststelle gegangen zu sein, vielleicht wollte er die Fehlzeit vom Vortag wettmachen, obwohl er ja durch den Angriff entschuldigt gewesen war.
Vater hatte sie gar nicht zu Gesicht bekommen. Das Stellwerk konnte gegenwärtig auf direktem Wege nicht erreicht werden, daher war er in den frühen Morgenstunden los, um rechtzeitig von einem Arbeitstrupp der Reichsbahn mitgenommen zu werden. Es war unklar, wann die Schicht enden und wie er dann heimkommen würde.
Es war abermals kurz nach 18 Uhr, als sie die Dienststelle verließ. Die Straßen waren leer, als seien die Menschen vorsorglich gar nicht erst aus der Wohnung gegangen. Den ganzen Tag war es ruhig geblieben. Keine Luftwarnung, kein Fliegeralarm.
Körperlich ermattet,