Ein skurriler Auftritt unter Künstlern
Donnerstag, 16. März 1944
Seit einigen Wochen hatte sich Simeon Wehrstein bei der Kameradschaft der deutschen Künstler rar gemacht. 1936 von Reichsbühnenbildner Benno von Arent ins Leben gerufen, war die KDDK ein Verein, der am Berliner Tiergarten über einen repräsentativen Club verfügte. Dort ließ sich vortrefflich verweilen und speisen. Selbst wer nicht zu den Reichen und Berühmten gehörte, fand hier jederzeit Aufnahme und verlebte wenigstens zeitweise geruhsame und versorgte Stunden. Als Tontechniker war Simeon schon lange im Geschäft und hatte sogar die Stummfilmzeit miterlebt, üppig lebte man davon nicht. Erst recht nicht in den 20ern, auch wenn eine Zeitlang die ›Tonbilder‹ populär waren, abgefilmte Musikdarbietungen mit synchron dazu erklingendem Ton vom Phonographen oder Grammophon. Mit dem Tonfilm waren neue Berufsfelder entstanden. Heute war vieles besser, aber reich wurde man nicht. Und da der Alltag aus dem Einkaufen von Mangelwaren auf Bezugsscheinen beruhte, ließ man sich wenigstens ab und an nur zu gerne mal aushalten. Hier bei der KDDK war das möglich.
Heute stand der Vortrag eines Beamten des Ernährungsministeriums auf dem Plan. Das interessierte Simeon nicht im Geringsten, aber hin und wieder musste man sich sehen lassen, am besten bei langweiligen Gelegenheiten, dann hatte man es hinter sich und niemand würde einem etwas nachsagen. Bis vor einer halben Stunde hatte es geregnet und er strich sich die Sohlen auf der Matte ab, bevor er die stilvoll dekorierten Räume betrat.
»Guten Abend Herr Wehrstein, schön, dass sie da sind.« Ein formell gekleideter Saaldiener nahm ihm Schal und Mantel ab. Simeon atmete tief ein und ging geradeaus. Dann hielt er inne und verschwand in den Waschräumen. Dort stützte er sich auf ein elegantes Lavoir und betrachtete sich im Spiegel. Er sah gut aus heute. Trug die beste Kleidung, die er besaß, einen hellgrauen Zweireiher. Ein wenig Creme auf sein spitzes Gesicht aufgetragen, sogar die lange und leicht knollige Nase verlieh ihm Charakter. Wuschelige dunkelblonde Haare verdeckten die Stirn. Das machte ihn verwegen. Seine eigenen, eng stehenden braunen Augen sahen ihm entgegen. Er gefiel sich heute. Noch einmal atmete er tief. Er würde jetzt einfach hinein gehen, essen, trinken bis er satt war, sich den langweiligen Vortrag anhören und sehen, was sich ergab. Jedem freundlich zunicken und höflich parlieren, wenn sich die Gelegenheit bot. Für eine Sekunde schloss er die Augen. Er würde kaum hier sein. Sicher nicht Leon. Aber in diesen Zeiten … nichts war auszuschließen.
Als die Tür sich öffnete, zuckte er zusammen.
»Donnerlittchen, Wehrstein, sind Sie schreckhaft«, nuschelte Heinz Rühmann, als er durch die Tür trat und Simeon beinahe in Deckung springen sah. »Haben Sie das Programm gesehen?« Er verschwand im Abort, sprach aber etwas lauter weiter mit seiner markanten Filmstimme. »Ich hatte gedacht, dass ich den Liebeneiner treffe. Der ist natürlich viel zu schlau. Der plant was Dickes, und keine Fliege hat mich gefragt. Der tut sich hier den Blödsinn heute bestimmt nicht an.« Wenn er jovial wirken wollte, hörte man die Ruhrpottherkunft durch. Ein gedehntes leises Stöhnen folgte seinen Worten, dann redete er weiter und kehrte wenig später zu den Waschbecken zurück. »Schon gehört, was das Thema des Vortrages sein soll? Es geht um den Arbeitseinsatz in der Landwirtschaft in der drehfreien Zeit.« Der Rühmann wusch sich die Hände, sah Simeon über den Spiegel hinweg an und schüttelte den Kopf. »Das denken die sich so. Vor der Kamera den Pfeiffer mit drei f geben und, sobald die Klappe gefallen ist, ran an die Sense … am besten Seit‘ an Seit‘ mit einer Horde Ostarbeitern.« Den Rest ließ er ungesagt. Er grinste in den Spiegel, zog den Mund auseinander, ganz der neckische Spitzbube, als den ihn die Zuschauer liebten. Dann erstarrte er aus einer leichten Bewegung, als fröre er ein, und prüfte seinen Ausdruck, bis wieder Leben in ihn fuhr. Ein zufriedenes Schnaufen folgte. Als er die Waschräume verließ, haute er Simeon sanft auf die Schulter.
Irgendwo begannen Menschen zu klatschen, eher höflich, nicht stürmisch. Für Simeon war das der richtige Moment. Alle würden schon sitzen und selbst wenn er da war, müssten sie ja erst einmal zuhören und waren an ihre Plätze gebunden. Er würde essen was es gab und danach sofort wieder abhauen, falls notwendig schleunigst.
Er ging zurück in den Flur und betrat den großen Versammlungsraum mit den bequemen Fauteuils und Canapés. Elegante Damen und Herren saßen locker platziert. Am Ende des Raumes vor einem riesigen Spiegel hatte ein Beamter in Uniform Aufstellung genommen. Schnell blickte Simeon sich um. Nein, niemand war hier, der ihn ärgern konnte. Auch Leon nicht. Erleichtert seufzte er. Eine rothaarige Hübsche sah sich daraufhin um und grinste frech. Dann nickte sie zustimmend. Sie hatte seinen Seufzer auf den Vortrag bezogen. Er erkannte die Frau. Brigitte Mira. Sie war recht neu beim Film, aber sie durfte im Vorjahr in einer Kurzfilmserie mitspielen, ›Liese und Miese‹. Es ging um zwei Frauen, von denen eine, Liese, alles richtig machte und Miese, die Brigitte, alles falsch. Miese hörte Feindsender, verkehrte mit gefährlichen Personen, schimpfte über die Lebensmittelzuteilung. Brigitte machte das so brillant, dass alle ihre Miese liebten und Gisela Schlüter als überkorrekte Liese gar keinen Anklang fand. Nach zehn Folgen setzte das Propagandaministerium die Serie wieder ab.
Rühmann sah er nicht mehr, der hatte sich tatsächlich abgesetzt. Und vorher den Bauch vollgeschlagen. Der hatte Mut. Einige andere kannte er nicht. Die waren wohl das erste Mal hier. Ein eleganter Mann ganz außen fiel ihm auf, der ihn unentwegt anzuschauen schien. Er trug eine kleine runde Brille, die es schwierig machte, die Augen dahinter zu sehen: Dessen Kopf war häufig in seine Richtung geneigt. Als Simeon das bemerkte, drehte der Mann sich schnell weg.
Es gab Champagner. Hastig trank er sein Glas leer und winkte dem Ober um ein Neues. Dann hob der Beamte zu seinem Vortrag an. Zunächst führte er die Erfolge der Landwirtschaft im Kriege aus. Alle Planziele seien stets übererfüllt worden und das wäre allein das Ergebnis der ungebrochenen Siegesgewissheit des deutschen Volkes.
Die Mira kicherte laut los und erntete irritierte Blicke, schnell stieß sie ihr Glas um. Vielleicht wollte sie sich absichern und stellte sich beschwippst.
»Kameraden und Freunde«, kam der Funktionär bald zum Höhepunkt seiner kurzen Rede. »In dieser Schicksalsstunde unseres Vaterlandes …«
»Schon wieder eine Schicksalsstunde«, zischte die Mira und auch Simeon musste jetzt grinsen.
»… wende ich mich an Sie, die dem Führer außerhalb der Partei dienen und an euch, liebe Parteigenossen. Ich bin hier als Vertreter des Reichsernährungsministeriums und als solcher …«
Jemand vorne klatschte, nicht nur einmal. Sondern mehrmals.
Sichtlich überrascht und irritiert, ob er sich bereits den Beifall verdient hatte, wo er doch längst nicht mit der zentralen Botschaft rausgerückt war, fuhr der Beamte fort. »… meine Damen und Herren, der Ernteeinsatz ruft. Die körperliche Arbeit auf deutschen Feldern unter deutschem Himmel, das Entreißen kostbarer Erzeugnisse der fruchtbaren deutschen Erde …«
»Fruchtbar sind wir alle manchmal«, nölte die Mira und ihre Tischbegleiterinnen kicherten.
Der Klatscher vorne begann erneut und andere stimmten ein, immer weiter, entschieden, bald stürmisch wie in einem Fußballstadion. Eher untypisch für Künstler, dachte Simeon, dennoch klatschte er mit. Sein Blick traf auf den Fremden, der ihn eben wieder angesehen hatte. Der grinste breit und nickte ihm zu, seine Serviette faltend, die er in die Innentasche seines Revers schob. Dann fiel Simeon ein Füller auf, den er vom Tisch nahm und zu dem Tuch steckte. Hatte er sich etwas notiert?
»Gemäß einer Verordnung des …«, startete der Beamte wieder einen Versuch, doch der Erstklatscher sprang auf und schrie »Bravooo« und »Sieg Heil«. Andere taten es ihm gleich, bis der Raum vom deutschen Gruß dröhnte. Immer schneller schlug die Künstlerschaft die Hände zusammen, doch ihre Gesichter …. alle waren todernst. Niemand lachte mehr, keiner grinste. Alle riefen »Sieg Heil« oder »Heil dem Führer«. Aber kein einziges Gesicht entsprach dieser Atmosphäre. Nur der Unbekannte mit der Serviette lächelte in einer Tour.
Brigitte Mira stand auf, drehte sich zu Simeon um und führte ihren Finger in den Rachen, er verstand. »Mir wird heiß. Verdammte Wechseljahre«, sagte sie laut, biologisch mehr als