Kleine Frau im Mond. Stefan Boucher. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Stefan Boucher
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783754174128
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Mara und erst jetzt realisierte sie, dass er es ernst meinte. »Glaub nicht, dass ich so blöd bin nicht zu wissen, dass der Kleine da vorne gleich angerannt kommt und sich die Taschen vollstopft, während ich mich um dich kümmere. Also pack dich!«

      Verwirrt und überrascht sah sie zunächst ihn an und dann in die Richtung, in die er wies. Dort stand der Butzke-Junge! Mitten vor dem Bahnhofseingang und glotzte.

      »Heinz!«, entfuhr es ihr. »Was tust du hier?«

      »Sag ich‘s doch, verschwindet bloß und lasst euch hier nicht mehr blicken.« Mit einem Satz sprang der dicke Mann hinter seinem Stand hervor und auf den Jungen zu. Der machte wie ein Wirbelwind auf dem Absatz kehrt und rannte, einem Autobus ausweichend, quer über die Straße und verschwand in der Tiefe der Joachimstaler.

      »Sind Sie ganz bei Trost?«, ermahnte sie den dicken Obstmann. »Der Junge hat Ihnen nichts getan. Warum erschrecken Sie ihn, er wäre beinahe vor den Bus gelaufen.« Ihr erschien das Verhalten des Nachbarsjungen ebenfalls merkwürdig.

      »Ist mir egal, ich lasse mich hier nicht mehr beklauen. Und du hau jetzt auch ab.«

      Sie schenkte ihm einen vernichtenden Blick und sah wieder zum Zeitungsladen. Die Tschechowa war fort. »Verdammt«, entfuhr es ihr leise und sie lief auf die Bahnsteige zu, die sie ohne Fahrschein betreten durfte, aber dort entdeckte sie sie nicht mehr. Das ärgerte sie. Ihr war nicht nach einem Gespräch mit Herrn Darburg, daher verließ sie den Bahnhof durch den nördlichen Eingang und wanderte außen die Hardenbergstraße entlang wieder zurück.

      Heinz, dieses kleine Aas, dachte sie wütend. Er hatte es ihr vermasselt. Was stand der wie eine Dampflok in der Gegend und starrte geradeaus? War er ihr gefolgt? Der Junge konnte äußerst seltsam sein.

      Für Mara war die Begegnung mit der Tschechowa nicht abgehakt. Schnurstracks eilte sie zurück zur Fasanenstraße und blieb vor der Hausnummer 60 stehen. Ein Haus in der gleichen Größe wie das ihre, die Fassade und die Haustür waren etwas anders. Was mochte eine bekannte Schauspielerin hierhin führen? Ihre Blicke wanderten die Außenwand entlang nach oben, passierten die Fenster der Etagen und dann bemerkte sie, unter dem Dach, einen Lichtschein durch einen Vorhang fallen, der sich im Wind bewegte. Man hörte Menschen sprechen. Nicht laut, anscheinend diskutierten sie angeregt. Manchmal sanken einzelne Klangfolgen einer Klaviermelodie zu ihr auf den Gehweg. In der dunklen Stille der Fasanenstraße erschien ihr das wie eine Insel des Lebens und sie näherte sich den Namensschildern neben der Tür. Es war zu dunkel, um etwas zu erkennen. Nur die obersten Namen waren im Licht der einige Meter entfernt stehenden Laterne zu entziffern: Balz und Jarczyk. Beide sagten ihr nichts. Sie würde morgen noch einmal schauen, vielleicht wäre ihr einer der anderen Namen vertrauter.

      Als sie wenige Minuten später wieder ihr Haus betrat, war es bei den Butzkes dunkel, aber man hörte jemanden lachen. Oben wartete ihr Vater und erleichtert umarmten sie sich.

      »Paps, du wirst es nicht glauben, aber ich habe die Tschechowa gesehen«, platzte es aus ihr heraus.

      »Die Schauspielerin? Oha, wo denn?«

      »Hier, gleich nebenan. In der Fasanenstraße. Ist das nicht unglaublich? Sie kam aus Nummer 60. Aber ich glaube nicht, dass sie dort wohnt. Ich habe auf den Namensschildern nachgesehen. Da stehen nur Namen wie Balz oder Jarczyk.«

      Er dachte einen Moment nach. »Ich habe mal gehört, dass dort ein Komponist wohnen soll. Vielleicht hat sie den besucht. Frage bei Gelegenheit mal den Ingenieur, vielleicht kennt der ihn.«

      Sie fand das ungeheuer aufregend und wusste, dass sie der Sache nachgehen würde.

      Dienstag, 14. März 1944

      Die ganze Nacht hatte es geregnet wie aus Kübeln. Zwei- oder dreimal war sie durch das Schlagen des Wassers auf die Dachschindeln über ihr geweckt worden und genüsslich zog sie sich dann die Decke umso enger an den Körper. Dem Himmel sei Dank, dass sie ihre Wohnung hatten und nicht ausgebombt waren. Seit Tagen hatte es schon keinen Alarm mehr gegeben. Es fühlte sich fast wie im Frieden an, wenn nur nicht die Zahl der Meldungen in der Dienststelle stiege und der Umfang der Listen anwüchse, die sie täglich bearbeiten mussten. Und das war lediglich ein Teil davon. Sie bekamen ja nur die Fehlläufer. Längst ging der Löwenanteil direkt an die Außenstellen in Thüringen.

      Die Luft im Hof der Wehrmachtauskunftstelle roch schwer und erdig. Die Feuchtigkeit war tief in den Boden gedrungen und schwemmte Gerüche frei, die über den Winter eingeschlossen gewesen waren. Nebelschwaden stiegen aus den Grasflächen hervor, die sich an den Straßenrändern entlang, um Denkmäler oder in Vorgärten erstreckten.

      Seit gestern schrieb sie erste Kondolenzbriefe an Angehörige. Frau Schneiderer hatte ihr eingeschärft, dass der Tod jedes Volksgenossen ehrbar sei und die Briefe dies verdeutlichen müssten.

      Gemäß eines Musterschreibens tippte Mara wieder einmal eines:

      Herrn Wilhelm Dölling, Wuppertal.

      Die hiesige Dienststelle sieht sich mit dem Ausdruck aufrichtiger Anteilnahme veranlaßt, Sie von dem Tod Ihres Sohnes, des Gefr. Herbert Dölling in Kenntnis setzen zu müssen.

      Nach einer hier vorliegenden Meldung 1/561 ist Ihr Sohn am 7. Februar im Kriegslazarett Witebsk verstorben. Über die Todesursache und Grablage enthält die Meldung keine Angaben.

      Möge die Gewißheit, daß Ihr Sohn sein Leben für die Größe und den Bestand von Volk, Führer und Reich hingegeben hat, ein kleiner Trost sein in dem schweren Leid, das Sie getroffen hat.

      Ich grüße Sie in tiefem Mitgefühl, Ihr sehr ergebener

      Gez. Unterschrift

      Stabsfeldwebel Sauerland, Wehrmachtauskunftstelle Berlin

      Sie zog den Brief und den Durchschlag aus der Maschine und legte ihn zu den sieben anderen, die sie in den letzten zwei Stunden nach Dienstbeginn geschrieben hatte. Sonderlich anspruchsvoll war diese Tätigkeit nicht. Die persönlichen Informationen fanden sich in den Gefallenenlisten, sie formulierte sie nur um, da die Stände und Kommandanturen es zeitlich immer seltener schafften, Angehörige ordentlich in Kenntnis zu setzen, wie es üblich war. Sie hatte in den Musterakten ältere Schreiben sogar von Divisionskommandeuren gefunden, die auf zwei oder manchmal drei Seiten genau die Umstände schilderten. Wenn das auch schwer sein musste für eine Mutter zu lesen, so sprach aus solchen Mitteilungen doch Anteilnahme. Ihre eigenen Briefe fand sie dagegen schal und mit jedem einzelnen kam sie sich mehr wie eine Taschenspielerin vor. Sie setzte Anschreiben auf, die ehrlich klingen sollten. Aber das waren sie gar nicht. Sie nahm Namen und Zahlen und formulierte sie in einem Text – die gleichen Zeilen für ganz unterschiedliche Leben, die oft jung und tragisch geendet waren.

      Immer muss ich zu viel nachdenken, schalt sie sich in Gedanken. Doch wenn sie sich diese Mühe nicht machte, erhielten die Angehörigen noch weniger als ein freundlich verfasstes Schreiben.

      Sie legte alle Briefe jeweils auf einen Stapel, der gesammelt an Frau Schneiderer ging. Von ihr hatte sie nichts gehört und bis es so weit wäre, fuhr sie damit fort.

      Nebenan sprach Manfred, jemand stand auf und verließ den Raum. War er es? Sie hatte ihn kaum gesehen in den letzten Tagen, sie alle arbeiteten die ganze Zeit über. Hastig erhob sie sich, murmelte, dass sie mal raus müsse, und trat auf den Gang.

      »Manfred!«

      Der junge Mann blieb stehen und drehte sich um. Sie lief auf ihn zu. Er nahm die Brille ab und setzte sie wieder auf.

      »Mara, ich…«, druckste er herum. »Du bist ja da.«

      Sie zog die Augenbrauen zusammen. »Natürlich bin ich das. Es ist aber so viel zu tun. Ich dachte wir sehen uns morgens. Ich schreibe jetzt Briefe an Angehörige.«

      »Ja, ich meine. Ich komme jetzt immer etwas früher. Ich will mehr arbeiten und schaffen …«

      Sie nickte nur, obwohl sie nicht verstand. Die Arbeitszeiten waren doch erst verlängert worden. Warum mochte er dann Zusätzliches leisten?