Am Schreibtisch angelangt, empfing ihn eine dreidimensionale Darstellung seines Wohntowers, die über der Tischplatte aufleuchtete. Alle Bereiche, Punkte von öffentlichem Interesse sowie Verkehrsverbindungen, hob der Computer in unterschiedlichen Farben hervor.
Lester ließ sich in den Sessel fallen, massierte seine kribbelnden Arme und hatte bereits eine Idee, was er heute treiben würde. Virtuelle Welten waren nicht sein Ding. Zumindest nur selten. Es mochte Leute geben, die ihre komplette Freizeit an Transcend-Terminals verbrachten, entweder in einem der Erholungscenter der Stadt oder zu Hause. Aber vorgegaukelten Realitäten konnte er nur wenig abgewinnen, auch wenn sie noch so echt wirkten.
Zudem hatte sich sein gestriger Fall um die Aufklärung eines Ex-R-Unfalls gedreht, der sogar Tote gefordert hatte. Die Ermittlungen waren arbeitsintensiv und nervenaufreibend gewesen und deckten seinen Bedarf nach Digitalwelten für die nächste Zeit. Deshalb rief er das Freizeitangebot auf, da er Fitnesstraining in einer echten Umgebung suchte.
Er wurde schnell fündig. Die Verwaltung hatte einen neuen Erholungsgarten auf Ebene 2 anlegen lassen. Richtig, der soll fantastisch sein. Jeder, der mir davon erzählt, ist begeistert. Wiesen, Bäume, ein See, Ruderboote, Trainingsgeräte … und alles unter einer Schönwetter-Kuppel.
Lester spielte mit dem Gedanken, einen Hostessen-Droiden als Begleitung zu mieten. Schwimmen, flirten, und wer wusste, wohin es einen danach verschlug. Der ganze Spaß würde nicht billig werden, aber nach den Strapazen der letzten Tage brauchte er das.
Gerade als er die Buchung für das Parkparadies abschließen wollte, empfing sein MindCell einen Datensatz von hoher Priorität. Es handelte sich um Details zu einem Zwischenfall in einer der Förderanlagen der Stadt. Und fast im selben Moment summte nachdrücklich das HoloCom im Zimmer nebenan.
Shit! Das war’s mit der Freizeitplanung! Die Datenübermittlung und der Anruf zu dieser frühen Stunde konnten nur eines bedeuten: dass er sich über Erholungsgärten und nette Begleitung keine Gedanken mehr machen musste.
Lester seufzte, stand auf und nahm seine Cynrets vom Tisch. Er ließ sich Zeit, um das Kommunikationsfeld im Wohnraum zu erreichen. Er wusste, was jetzt kam.
Wäre mit dem freien Tag auch zu schön gewesen. Was wollt ihr mir eigentlich noch alles streichen? Vielleicht das Rauchen?
Aus der Packung glitt eine zehn Zentimeter lange, schlangenförmige Kunstzigarette. Er steckte sie sich in den Mund und betätigte den Mikroauslöser, woraufhin die Cynret zu glühen begann. Genüsslich sog er den Rauch ein.
Unwillkürlich musste Lester an seinen Großvater denken. Riesensache damals, als vor dreißig Jahren das Konsumieren von echtem Tabak verboten wurde. Er erinnerte sich vage an die Zeit, an das Ende dieser Nikotin-Ära. Einer der Gründe für das Verbot waren Heere von geschädigten Rauchern gewesen, die sich keine Ganzkörperreinigungen oder Lungenimplantate leisten konnten. Vor allem aber hatte die Zunahme von Millionenklagen gegen die Tabakindustrie die Weltwirtschaft ins Wanken gebracht, da fast alle Zigarettenhersteller Pleite gegangen und die Steuereinnahmen für die Erdregierung verloren waren.
Also musste etwas Neues her. Die Cynrets repräsentierten nicht nur einen Zigarettenersatz, sondern produzierten verschiedene Gerüche, Rauchfarben und -formen und stellten durch ihr Nikotin-Surrogat keine Bedrohung für die Gesundheit dar. Abhängig machten die »Cyns« nach wie vor, aber die Hersteller hatten aus der Not eine Tugend gemacht und Vitaminpräparate, Impfstoffe sowie Heilmittel integriert, die über die Lunge aufgenommen wurden.
Selbst die herkömmliche Ernährung konnte für mehrere Tage minimiert werden. Rauchen steigerte das Wohlbefinden. Das stand jedenfalls auf den Packungen. Lester vermochte nicht zu beurteilen, ob die Werbeslogans der Wahrheit entsprachen, da es zu viele widersprüchliche Studien zu dem Thema gab und er es über einen längeren Zeitraum nicht ausprobiert hatte. Sein Schutzanzug verabreichte ihm bei Bedarf die fehlenden Nährstoffe, und er musste sich im Prinzip nur um eine ausreichende Flüssigkeitszufuhr Gedanken machen.
Der geneigte Raucher wusste jedoch, dass die Mikroenergiezelle, die für das Entzünden der Cyns sorgte, ein Strahlungsfeld erzeugte, welches die Debatten zwischen der Nichtraucher-Lobby und der Industrie in schöner Regelmäßigkeit hochkochen ließ. Forschungsstudien entlasteten jene Strahlung zwar hinsichtlich ihrer Gefährlichkeit für das menschliche Nervensystem, doch die dafür zuständigen Labore, deren Namen den Aufdruck der Packungen zierten, standen ganz oben auf den Interessenslisten der Cynret-Lobby.
Indessen hatten die Leute, die das harte Zeug von früher brauchten, keine Probleme, auf dem Schwarzmarkt und zu entsprechenden Preisen an Tabakzigaretten ranzukommen. Bei echtem Alkohol griff der Gesetzgeber nicht ganz so scharf durch.
Lester stellte sich im Wohnraum vor das Holo-Kommunikationsfeld am Boden und dachte »Anruf annehmen«.
Keine Reaktion.
Er versuchte es akustisch, dann manuell, aber auch durch Berühren des Kontrollsensors am Tisch erschien kein Bild des Anrufers.
Das Mistding ist noch immer defekt, obwohl ich dem Techniker des Wartungsteams gestern Bescheid gegeben habe!
Fluchend schlug er mit der Faust auf den Sensor.
In diesem Moment bekam er einen elektrischen Schlag.
Er zuckte zusammen, als die Energie ungehindert in ihn eindrang. Blaue Entladungen knisterten seinen Arm hinauf und verursachten einen Krampf, der ihm die Luft raubte. Die Muskeln seiner Hände und des Kiefers kontrahierten, sodass er sich am Tisch festkrallte und die Cynret-Hülse zerbiss. Instinktiv wartete er auf den Schmerz oder einen Herzstillstand.
Aber beides blieb aus. Es fühlte sich vielmehr gut an – als ob sich sein Körper auflud.
Unvermittelt stoppte der Energiefluss, und die Geräusche um ihn herum verstummten.
Lester keuchte wie nach einem Marathon, spuckte die Cynret aus und hustete. Nachdem er seinen Atem unter Kontrolle gebracht hatte, heftete sich sein Blick an das Fenster: Draußen trafen die Regentropfen auf das Kraftfeld und zerbarsten in graziöser Langsamkeit.
Was zum Teufel …?!
Sein Augenmerk wurde zurück auf das HoloCom-Feld gelenkt, das aufleuchtete. Die Gesprächsübertragung begann. Das Abbild von Lesters Vorgesetztem, der hinter seinem Schreibtisch saß, baute sich auf. Der Mann mit der Glatze und dem kantigen Gesicht öffnete in Zeitlupe den Mund und sagte etwas, doch man hörte nichts.
Perplex starrte Lester die 3D-Projektion seines Chefs an, bis er die Kunstfische im Aquarium am anderen Ende des Zimmers registrierte. Sie schienen im Wasser festgefroren zu sein. Die Cynret, die am Boden lag, brannte zwar, hatte aber bei ihrem Fall Rauchwölkchen produziert, die an einer Kette aufgereiht in der Luft klebten.
Und es roch sonderbar. Nach einer Mischung aus Schnee und … Ammoniak?
Dann war der Dreißigsekunden-Spuk vorbei – die Zeit ruckte nach vorne.
Lester spürte ein Ziehen in seinem Körper, das sich anfühlte, als ob ihn jemand packte und abbremste. Er taumelte und fuhr sich über die Augen. Hatte er halluziniert? War das Phänomen einer Überladung im Schutzschild seines LiSi zuzuschreiben? Möglicherweise ein Kurzschluss, der von dem HoloCom-Schalter herrührte. Doch das Protokoll des Anzugs verzeichnete keinen diesbezüglichen Vorfall. Nichts deutete darauf hin. Nur an sich selbst bemerkte er den Effekt: Er war so ausgepowert, dass ihm die Beine zitterten.
Auch die Geräuschkulisse normalisierte sich.
»… passierte ein Zwischenfall dort unten. Chief-Officer Benx? Benx, verdammt, hören Sie mir zu?«
In seiner Verwirrung blickte Lester vom Aquarium zu den Resten der Cynret, dann reagierte er und wandte sich der holografischen Darstellung seines Chefs zu. »Ja … Sir, ich höre. Ich hatte eben eine … eine Störung meines LiSi. Scheint aber wieder in Ordnung zu sein.« Er stützte sich am Tisch ab. »Entschuldigung,