Unbekannt Verzogen. Thorsten Nesch. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Thorsten Nesch
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783847651802
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sogar aus, als könnte er erst vor kurzer Zeit hergezogen sein. Die Klamotten sind besser als die Gegend, eine Spur von Stil ist auch zu erkennen, alles Braun und Schwarz.

      Ich schaue mich um, aber außer mir steht niemand im Flur.

      Alleine mit ihm im Fahrstuhl? Na ja, besser als Treppen laufen.

      In der Kabine riecht es nach Schnaps, Schweiß und Chemikalien. Ich drücke die 9. Sämtliche Tasten sind angekokelt. Die Türen schließen sich quietschend – wenn man das schließen nennen kann. Fast eine Handbreit Spalt lassen sie. Gut, dass ich mir nicht regelmäßig den Finger in den Hals stecke, so jemand könnte da glatt durchfallen.

      Ruckelnd setzt sich das 1982er Gefährt in Bewegung. Eine einsame Schmeißfliege hat sich in den Fahrstuhl verirrt. Der Wind, der durch den Spalt zieht, spielt mit meinen Haaren, so dicht stehe ich an den Türen, so weit wie möglich weg von dem Mann am Boden.

      Er schnarcht kurz, und ich erschrecke mich, aber er bewegt sich nicht.

      Wie immer schweift mein Blick über die Tags und die Kritzeleien, über die Telefonnummern, die Namen, die Filzstiftpenisse, die Beschimpfungen, die Beleidigungen, die Drohungen, die Fratzen und Kratzer und die Beulen und Rotzflecken an den Metallwänden. Ich suche meinen Namen oder meine Telefonnummer, nur für den Fall, das ist im Haus schlimmer als Internetmobbing.

      Etwas kitzelt an der Wade, die Fliege, denke ich, schaue an mir herunter und sehe den Zeigefinger des Mannes mich begrapschen. Ich springe zurück, knalle an die Wand mit Rücken und Sporttasche.

      „Bah, Arsch, Perverser!“, ohne Plan feuere ich die Worte ab.

      Ein Auge ist offen, die Hand schwebt in der Luft.

      Ich hau auf den Alarmknopf. Nichts. Verschmort klebt er in seiner Fassung und lässt sich nicht bewegen. Dritter Stock.

      Ein Bein habe ich schon gehoben, wenn er nach mir greift, trete ich zu.

      „Lass die Finger bei dir!“, schreie ich, „Scheiße, Fuck!“, und ich hole mein Handy raus, „ich rufe die Bullen“, aber tatsächlich tippe ich die Kurzwahl für den Hausmeister, Herr Mijivosic. Der geht zum Glück sofort dran, und ich lege los, „Hier Anneke Willms, aus 908, im Fahrstuhl liegt ein perverser Penner, der ist gleich auf dem Weg runter zu ihnen ... ja, er ist wach, sehr wach.“

      Er bedankt sich und hängt einfach auf. Super. Ich wäre gerne noch verbunden geblieben.

      Fünfter Stock.

      Es scheint, der Fahrstuhl fährt nur noch halb so schnell. Kann ich irgendetwas als Waffe benutzen? Ich hatte mal einen Selbstverteidigungskurs für junge Frauen mitgemacht.

      Sechster Stock.

      Sein Arm senkt sich, und das Augenlid schließt sich zitternd. Glück gehabt. Wir beide.

      Siebter Stock.

      Mir fällt ein, ich hätte auch einfach auf einem Etagenknopf drücken und den Rest laufen können, jetzt war es egal, gleich da, und er ist eingepennt.

      Es blubbert und gluckert in seinem Hals, dann übergibt er sich. Und weil er auf dem Rücken liegt, ergießt sich alles über sein Gesicht.

      „Uäh, nein!“

      Der erstickt doch so. So ist das doch, oder? Ich hatte auch mal einen Erste Hilfe Kurs mitgemacht.

      Zwei Kräfte ringen in mir miteinander: Ekel und Erste Hilfe. Wieder ein Schwall. Und ich halte die Luft an, packe ihn mit beiden Händen an der Seite und wuchte ihn mithilfe meiner Beine herum, so dass er seitlich an der Wand lehnt.

      Ich schreie ihn an, „Wachen Sie auf!“

      Das Fahrstuhlsignal erklingt, elektrisch, mutwillig zerstört BRRRING. Und der Mann kotzt mir mit Schmackes auf meine weißen Nikes. Lauwarm an den Knöcheln, meine neuen Nikes. Jetzt könnte ich mitkotzen.

      Hinter mir öffnen sich die Türen.

      Ich fluche und stapfe auf Zehenspitzen raus aus der Suppe. Dann drücke ich das E, und die Türen schließen sich wieder.

      In meinen Schuhen schmatzen meine Füße feucht. Der säuerliche Geruch.

      „Fuck.“

      Der Fahrstuhl verschwindet nach unten. Das ist jetzt Herrn Mijivosics Job.

      Ich drehe mich um. Unsere Wohnung ist am anderen Ende des Flurs.

      6 – Überraschung! Heiko, unser Sozialarbeiter

      Mum ist natürlich nicht da. Um die Zeit ist sie dienstags bei ihrem Putzjob drüben in den Büros von Eon. Wir haben die Absprache, dass ich an den beiden Tagen, die sie putzen geht, den Haushalt fertig habe, wenn sie nach Hause kommt. Heute wird es knapp, ich muss mich beeilen.

      Ich knalle die Tür hinter mir zu und trippel barfuß auf Zehenspitzen zu unserer Toilette, Nikes und Strümpfe hatte ich noch vor der Wohnungstür ausgezogen. Am ausgestreckten Arm halte ich sie so weit wie möglich von mir weg. Zum Glück tropft nichts. Ich schmeiße sie in die Dusche und brause alles ab. Sagrotan drauf und noch mal abbrausen. Danach lege ich sie auf die Heizung. Bis die trocken sind, das dauert eine Weile.

      In Mums Schlafzimmer räume ich die Chipstüte und das Schokoladenpapier weg, dann staubsauge ich zur aufgedrehten Gossen Posse im Wohnzimmer, in meinem Zimmer und im Flur. Alles in fünf Minuten. Dann lade ich in der Küche das Geschirr in den Spüler, schalte ihn an, wische kurz mit nem Lappen über die Arbeitsplatte und lasse Wasser in den Eimer, um das Bad zu putzen. Das hasse ich am meisten. Erst die Dusche nochmal und dann Kloschrubben, igitt.

      Mum sagt immer, ich soll mich nicht so anstellen, aber immerhin bringt sie mir regelmäßig neue Gummihandschuhe aus dem 1-Euro-Laden mit. Ich halte mir mit der einen Hand die Nase zu, mit der anderen stecke ich die Klobürste in die Schüssel und scheuere ein wenig drin rum.

      Mum hat drei Jobs. Mittwochs trägt sie früh morgens das Wochenblatt aus und sonntags die Hallo Sonntag. Ihr Hauptjob ist am Hauptbahnhof bei MäcGeiz, und zweimal die Woche, wie gesagt, geht sie abends noch putzen bei Eon. Ich versteh nicht, wie sie das aushält. Heiko sagt ihr immer, sie soll lieber zum Amt gehen, zusätzlich Hartz IV nehmen und sich dafür mehr um mich kümmern. Der hat gut reden. Nennt sich Familienhelfer und macht auf einfühlsam. Will uns helfen, eine Struktur für uns zu finden, sagt er. Als ob wir die nicht hätten. Mum und ich funktionieren als Familie, oder als das was davon übrig ist. Es geht eher um mich. Darum, dass ich in der Schule auffällig geworden bin, weil ich so oft ausraste. Da kommt Mum nicht mit klar. Komm ich ja selbst nicht immer.

      Einerseits bewundere ich Mum für ihren Stolz, aber anderseits nervt ihr ewiges Gestöhne ganz schön. Ich selber kann ja nicht klagen, Mum achtet schon drauf, dass meine Klamotten nicht nach Asi aussehen und keiner merkt, dass wir wenig Kohle haben. Sie will nicht, dass ich auffalle. Leider kann ich ihr damit keinen Gefallen tun, es passieren halt immer wieder so blöde Sachen wie beim Handball.

      Durch die Beats der Gossen Posse höre ich ein leises Klopfen an der Tür, ich gehe nach vorn. Es ist ein lautes, sehr lautes Klopfen.

      „Hey“, schreie ich, „geht's noch? Wer ist denn da?“

      „Ich bin's, Heiko.“

      Ach du Scheiße, der nun wieder. Ich mache die Tür einen Spalt weit auf, lasse aber die Kette vor.

      „Kannst du nicht wie ein normaler Mensch klopfen?“

      „Hab ich zehn Minuten lang versucht, und geklingelt auch. Wie wär's, wenn du deine Kapelle mal leiser drehst?“

      „Jaja, Heiko.“

      Ich mache die Tür auf, lasse ihn rein, gehe in mein Zimmer, um die Mucke leiser zu drehen.

      „Tragen das die jungen Leute heute als neues Accessoire?“, grinst Heiko mich an, als ich wieder komme.

      Ich halte noch die Klobürste in meiner gummigelben Hand habe, „Ha-ha!“

      „Sorry“, beschwichtigt er, „ich