Unbekannt Verzogen. Thorsten Nesch. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Thorsten Nesch
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783847651802
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die Nase herunter und schauen ihn darüber hinweg an.

      Schweigen.

      Er überlegt, ob er weitergehen soll.

      „Und sonst?“, er schaut dabei W-Lan an.

      „Wie, und sonst?“, fragt sie zurück.

      „Sonst hast du nichts zu deiner Entschuldigung zu sagen?“

      „Ich? Wofür entschuldigen?“

      „Die Kippe da!“, er zeigt auf den Boden hinter der Bank, wo es qualmt.

      „Wir haben nicht geraucht“, sage ich,

      „Wer denn sonst?“

      „Das war echt verrückt, sie werden es kaum glauben, da war diese Taube ...“

      „Na, letzte Warnung!“

      „Ich rauche gar nicht“, sagt W-Lan.

      „Stimmt“, gebe ich ihr Rückendeckung.

      „Hab ich ja auch nicht behauptet. Aber ich habe gesehen, wir ihr die Kippe auf den Boden geworfen habt. So geht das nicht.“

      „Dann haben Sie auch sicherlich gesehen, wer es war“, fordere ich ihn heraus.

      „Ich habe sie fliegen sehen, das ist alles, aber das reicht.“

      „Sie wollen uns verarschen, Herr Krüger.“

      „Ein wenig mehr Respekt, die Damen.“

      Er lupft mit einer Hand die Hose am Knie hoch und setzt seinen Stiefel zwischen W-Lan und mir auf die Parkbank.

      Und nun komme ich zu seinem zweiten Spitznamen. Das schafft wirklich nicht jeder, die meisten schaffen nicht mal einen Spitznamen. Der Krüger schafft zwei. Denn da ist sie wieder, unterhalb des Saumes seiner Uniformhose, zwischen uns: seine schwarze Socke mit der Deutschlandfahne drauf, innen und außen. Irre.

      „Sonst bleibt es diesmal nicht bei einer Verwarnung.“

      „Och, Ro... Herr Krüger“, bettel ich. Das gehört zu unserem Spiel. Der Häuptling ist eigentlich ganz nett. Kommt sich zwar ziemlich wichtig vor, wie alle Bullen, aber die Leute hier kommen mit ihm klar, und wenn er in der Nähe ist, kann man ziemlich sicher sein, dass von den Jungs niemand Scheiße baut. Und wir sind in seiner Nähe immer ganz die braven Mädchen. Wenn er uns nicht bei irgendwas erwischt.

      Als der Robocop vor ein paar Jahren als Kontaktbeamter in den Mühlenberg versetzt wurde, war er ziemlich sauer und wollte seinen Frust an uns ablassen. Fast jeder von den Jugendlichen hier wurde schon mal von ihm nach Hause begleitet. Aber weil er in fast jeder Wohnung von den Müttern oder Vätern oder auch älteren Brüdern nur abgefertigt wurde, ließ er das bald sein.

      Bei uns lässt keiner einen Bullen in die Wohnung, wenn er keinen Durchsuchungsbefehl mitbringt, und was die Jugendlichen hier verbocken, reicht nicht an das ran, was die Eltern auf dem Kasten haben. Na, von W-Lans Eltern mal abgesehen.

      „Meinst du nicht auch, Anecken?“, reißt mich der Robocop aus meinen Gedanken.

      „Häh?“

      „Ob du nicht auch findest, dass ...“

      „Für SIE heiß ich immer noch Anneke, oder haben wir schon mal ...“, mir fällt jetzt gar nichts so schnell ein, was ich mit ihm mal gemeinsam gemacht haben könnte.

      „Uns hier zusammen gelangweilt? Mit großer Wahrscheinlichkeit nicht!“, grinst Krüger.

      Der war nicht übel. Das muss ich sportlich zugeben.

      „... Blutsbrüderschaft getrunken?“, bringe ich meinen Satz zu Ende, und er wird sogar ein bisschen rot.

      Wir kichern, extra neckisch, albern, absichtlich kleinmädchenhaft hell.

      Er fängt sich wieder, „Von euch trinkt doch wohl noch keine, oder?“

      Wir schütteln unsere Köpfe.

      „Wir trinken nicht“, sage ich.

      „Gar nichts, nur Wasser!“, sagt Jamaika.

      „Ohne Kohlensäure“, setzt W-Lan obendrauf.

      „Tut mir einen Gefallen, fangt den Scheiß gar nicht erst an, ihr seht ja selbst, wo das hinführt“, und er schaut sich um, als stünde er auf einem Hügel.

      Wir drei mustern ihn, ohne zu blinzeln und nicken betroffen.

      Als er es bemerkt, erschreckt er, „Was schaut ihr mich dabei an? Ihr wisst genau, wen ich meine.“

      Und wir alle zusammen, wie auf Kommando, „Jawohl, Herr Moralkommissar.“

      Den Spruch bringen wir jedes Mal, wenn er uns eins erzählen will.

      „Schluss jetzt“, sagt Robocop.

      Er muss aufpassen, dass die anderen auf dem Platz nichts von unserem Schnack mitbekommen, sonst ist er keine Respektsperson mehr. Beziehungsweise, wenn er sich selbst nicht mehr dafürhält, fällt ihm vielleicht auf, dass es hier sonst auch keiner tut.

      „Aufheben!“, befiehlt er.

      Jamaika bückt sich und fischt den glimmenden Zigarettenstummel vom Asphalt, „Zufrieden?“

      „Gut jetzt. Reißt euch zusammen.“

      „Alles klar, Herr Kommissar!“, zitiert W-Lan den alten Bornemann, Chemielehrer.

      Er nimmt den Fuß von der Bank, kratzt sich am Hosenbein und stampft davon. Sobald er sich umgedreht hat, zieht Jamaika an der Kippe. Ein langes Stück Asche fällt ab.

      Ich protestiere, und sie reicht sie mir.

      Als ich die Zigarette in der Hand habe, sehe ich, dass sie abgebrannt ist, und trete sie aus. Egal.

      Nicht dass ich regelmäßig rauche, aber hier auf dem Marktplatz gehört das irgendwie dazu, zumindest für Jamaika und mich. Sie hat meist zwei oder drei Kippen dabei, von ihrer Mutter oder ihrem Stief.

      Jamaika wohnt gleich hier um die Ecke am Markt. Das hat den Nachteil, dass ihre Eltern öfter mal hier vorbeikommen, wenn wir chillen. Die sind ziemlich tolerant. Jamaika darf ganz offiziell rauchen, sogar draußen. Ich glaube, ihr Stiefvater hat gut auf ihrer Mutter eingeredet, um sich bei ihr einzuschleimen. Als Jamilas Mum den anschleppte, konnte sie ihn nicht ausstehen. Wir haben damals viel darüber gequatscht, schließlich ist mein Alter ja auch abgehauen, nur dass Mum noch keinen neuen in Sicht hat. Männer sind Schweine, sagt sie. Ich weiß nicht, ob das für alle gilt, aber für meinen Daddy ganz sicher. Wir sind froh, dass er weg ist, und den Unterhalt kann er sich auch sparen. Je weniger wir von ihm hören, desto besser.

      Jedenfalls hat Jamilas Mama wieder geheiratet, und jetzt spielt der Stief eben gern den liebenden Papa. Jamaika tut meistens auch so, als fiele sie auf seine Show rein, das kommt besser an, dadurch kriegt sie eben ihre Freiheiten.

      W-Lans Welt ist in Ordnung, sie muss sich nur das Haus mit ihren beiden kleinen lärmenden Schwestern teilen. Das nervt natürlich, und deswegen ist sie so viel wie möglich unterwegs, draußen, mit uns.

      Dagegen habe ich es echt gut. Ich hab ein eigenes Zimmer.

      Fuck! Ich hab die Zeit vergessen, muss nach Hause.

      „Ich muss los“, sage ich und drücke W-Lan und Jamaika, „Danke nochmal, dass ihr mitgekommen seid!“

      „Klar doch“, meint W-Lan und Jamaika fügt hinzu: „Handball ist eh scheiße!“

      5 – Ein Mann liegt im Fahrstuhl und schläft

      Ich habe ja schon vieles im Fahrstuhl liegen sehen: Schuhe, Unterhosen, Kondome, jede Menge Flaschen, Plastik und Papiermüll, aber noch keinen Typen. Und ich weiß nicht, ob ich ausgerechnet da schlafen würde. Dort glänzten auch schon Pippipfützen. Immerhin atmet er.

      Heute Morgen lag er da noch nicht. Vielleicht war er im Haus auf einer