Unbekannt Verzogen. Thorsten Nesch. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Thorsten Nesch
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783847651802
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eine Wüste, wo ich die Besserwettbergers nicht mehr sehen muss.

      Ach, ich hätte mich doch noch einmal umschauen sollen. Dumme Hackfressen ernten. Geschnattert haben sie hinter mir, aber das wurde immer leiser. Dann bin ich durch den Gang in die Umkleide, hab mir meine Tasche geschnappt, und erst danach bin ich zum Fahrrad gelaufen. Bin losgedüst, mit einem höheren Gang als nötig, damit ich mich anstrenge, Energie verbrauche, negative. Dazu der Wind im Gesicht.

      Ich frage mich, was ich in so einem Moment mache, wenn ich älter bin und ein Auto habe? Vollgas, Seitenfenster runter und Kopf raushalten?

      Ah, vielleicht wird es auch ein Motorrad, und dann den Helm weglassen.

      An der Hamelner Chaussee muss ich anhalten. Feierabendverkehr stadtauswärts, raus aus Hannover. Ohne die Fußgängerampel zu drücken, habe ich keine Chance, lebendig rüber zu kommen. Ich inhaliere mit offenem Mund die Autoabgase. Mein Puls pocht im Hals, als wäre er zu eng für mein Blut.

      Jamaika und W-Lan holen mich ein. Mit gesenkten Köpfen geben ihre Lungen ein Pfeifkonzert.

      Wir stehen an der Ampel und schweigen. Kommt nicht oft vor bei uns, dass wir schweigen, aber die beiden wissen genau, wann sie bei mir die Klappe halten müssen. Die kennen das. Lassen mich erstmal runterkochen.

      Sie schnappen nach Luft. Die sind auch ziemlich überstürzt los. Gleich nach mir. Meine Freundinnen.

      W-Lan hat noch nicht mal ihre heiß geliebten Chucks zugebunden, heute lila links und rechts schwarz. Die Schnürsenkel baumeln bis auf die versiffte Gehsteigplatte. Jamaika hat ihr Possen-Shirt falsch rum an. Sie schaut als Erstes hoch. Also stecke ich es ihr.

      „Glaubst du, Waschzettel am Kinn wird der nächste Fashionhit?“

      Sie schielt an ihrer Nase runter, und blitzschnell verschwinden ihre Arme in den kurzen Ärmeln, und sie dreht ihr Shirt herum.

      „Sagt die Richtige“, keucht sie.

      „Wieso?“

      „Guck dich mal an!“

      Fuck, ich habe mich nicht mal umgezogen. Ich trage noch das Trikot, rot-weiß, super, in der Hose habe ich einen Arsch wie eine Abrissbombe.

      „Warum habt ihr nichts gesagt?“

      „Wollten wir ja!“

      „Du bist einfach weitergefahren, immer weitergefahren“, auch W-Lan kann wieder halbwegs normal atmen.

      „Ihr lasst mich rumfahren, in den Klamotten, bei solchen Freundinnen brauche ich keinen, der mich mobbt.“

      „Wie ich eingangs erwähnte ...“, W-Lan äffte gerne Lehrersprüche nach, “wir haben gerufen, wie die Irren.“

      „Ja, aber was!“

      „Deinen Namen! Was sonst?“

      „Trikot, Trikot! Das hättet ihr rufen sollen, dann wäre mir das aufgefallen!“

      „Ich fahr doch nicht hinter jemandem her, der ein Trikot trägt, und rufe Trikot-Trikot! Dann könnte ich auch Fahrrad-Fahrrad rufen. Da glaubt doch jeder, ich hätte einen völligen Dachschaden!“, sagt Jamaika und tippt sich dabei an die Stirn.

      „Stimmt ja auch.“

      Klatsch, hab ich Jamaikas Faust auf dem Arm. Ich versuche, ihr eine zurückzugeben, aber damit hat sie natürlich gerechnet, und wir lachen, weil ich den Knutschfleck verdient habe. So nennen wir die blauen Flecken auf unserem Oberarmen, die wir uns so geben, aus allen möglichen Gründen. Manchmal auch ohne Grund.

      Grün.

      Wir radeln los, nebeneinander, und saugen die notgeilen Feierabendblicke der Männer aus den Autos auf, und auf halbem Weg nimmt ein verschwitzter Anzug in einem Mercedes mit Kindersitz sogar seine Sonnenbrille ab, und ich stelle mich auf meine Pedalen und schwenke meine Abrissbombe.

      Hupen.

      Lachen und drei Stinkefinger.

      2 – „Drei Monate SKY-TV umsonst und Übernahme der Umzugskosten“

      Das Schild prangt auf jedem Dach. Wer möchte da nicht gleich in meine Nachbarschaft ziehen?

      Gut, keiner, der nicht unbedingt muss.

      Die Übernahme der Umzugskosten ist auch eher ein Witz. Wer hierhin kommt, der hat nicht mehr viel. Was wollen die da übernehmen? Die Busfahrkarte?

      Ich wohne in Mühlenberg, am Westrand von Hannover, einer Art Trabantenstadt. Und – ob du es glaubst oder nicht – trotz dieses Wahnsinnsangebots sind bei uns in der Straße noch eine Menge Wohnungen frei. Tendenz allerdings sinkend.

      Wir sitzen auf unserer Bank am Marktplatz, gegenüber der Bücherei. Unsere Räder mit den Sporttaschen lehnen an der Hauswand.

      Auf dem Marktplatz kriegt man alles mit, was im Viertel passiert, und man kann gut über die Nerds von unserer IGS lästern. Und wenn wir nicht lästern, dann chillen wir einfach. Auf die Bank fläzen, Augen in den Himmel, und Musik an, Musik! Musik! Laut natürlich, so laut, dass du nicht mehr merkst, ob der Beat, der dir durch den Kopf knallt, von den Drums oder deinem Herz kommt. Energie, die durch deinen Bauch in die Beine fährt, bis du anfängst zu zucken und zu tanzen und alles andere um dich herum vergisst. Manchmal sehen wir ganz schön albern aus, wie wir da mit unseren Steckern im Ohr rumzappeln, meint Jamila, wenn sie mal wieder einen Anfall von Vernunft hat.

      Mir ist das egal. Wenn ich Musik höre, vergess ich, was die anderen von mir denken, vor allem bei der Gossen Posse. Und bei manchen Songs werde ich einfach weich, und dann kullert mir auch schon mal eine Träne runter, na und? Die sind der Knaller und Saheed ist ein Gott von einem anderen Planeten.

      Mittlerweile bin ich wieder abgekühlt. Überhaupt hat die Bank etwas Beruhigendes, zumindest nachmittags, wenn die Biersäufer, die erst gegen Abend kommen, noch nicht da sind. Neben unseren Füßen kleben die Kaugummibatzen der letzten zwei Jahre, und im Holz haben wir mehr als eine flüchtige Liebe verewigt und verflucht.

      W-Lan sitzt links von mir im Schneidersitz und checkt auf ihrem iPhone die Messages bei Chitchatflat. Jamaika entknotet sich die Haarsträhnen, die sich bei der Fahrradfahrt verheddert haben. Ihre Haare glänzen schwarz in der Sonne, arabisch-schwarz. Was würde ich für ihre Haare geben.

      „Das war auf jeden Fall voll korrekt von euch, dass ihr auch raus seid“, sage ich.

      „Soli, ist doch klar“, meint Jamaika, die eigentlich Jamila heißt, und, während sie redet, konzentriert sie sich weiter auf ihre Haarspitzen, „Wie wäre das denn gewesen? Du gehst, und wir so: Tschö? Lasst uns ne Runde Siebenmeter werfen! Geht doch gar nicht.“

      „Wie auch? Ist langweilig ohne Torfrau.“

      Wir lachen dreckig.

      „Du hast nur getan, was wir gedacht haben“, sagt W-Lan.

      „Yeah“, sage ich, aber ich weiß, das stimmt so nicht, und sie weiß das auch, und sie weiß, dass ich weiß, dass sie weiß, dass ich es weiß. Verstanden? So ist das zwischen echten Freundinnen.

      Sie heißt natürlich auch nicht W-Lan, sondern Lan. Ihre Eltern sind aus Vietnam, und ihr Name bedeutet etwas Hübsches, das hatte sie mir mal gesagt, aber ich habe es vergessen. W-Lan liegt bei ihr sehr nahe, denn sie hat immer die neuesten Smartphones mit Internetflat. Ihre Eltern legen auf ihre Zukunft großen Wert. Und sie hat Zukunft. Wenn eine von uns, dann sie. In der Schule fliegt ihr alles zu. Vielleicht übt sie zu Hause, anstatt zu schlafen. Denn wir hängen ja dauernd zusammen rum. Wann sollte sie sonst büffeln?

      Der Asia-Shop ihrer Eltern in der Innenstadt geht wohl ganz gut. Sie arbeiten jeden Tag so lange, wie es gesetzlich erlaubt ist. Und sie sind stolz darauf, dass sie vor einem halben Jahr den Absprung aus dem Mühlenberg geschafft haben. Jetzt wohnen sie unten in Bornum, gleich um die Ecke, aber ganz anders, da steht ein Einfamilienhäuschen neben dem Anderen. Gutbürgerlich, darauf sind sie stolz, die Eltern. Gutbürgerlich über Nacht. Aber W-Lan muss jetzt immer ne Strecke