„Dann schicken Sie bitte das gesamte Manuskript nicht an irgendein Lektorat meiner Verlage, sondern mit kurzer Bezugnahme auf unser heutiges Gespräch und dem Vermerk „persönlich/vertraulich“ direkt zu meinen Händen!“
Hartmann wusste, dass mit dieser Adressierung das Manuskript ungeöffnet bei ihm auf dem Schreibtisch landen würde. Für den Vertraulichkeitsvermerk hatte der erfahrene Verlagschef zwei Gründe. Die Wahrheit Lammroths Geschichte vorausgesetzt, wäre zum einen die Dokumentation von solch hoher Brisanz, dass sowohl der Verfasser als auch das Schriftstück selbst geschützt werden müssten. Zweitens dürfte in diesem Fall die überall lauernde Konkurrenz nicht den Hauch einer Chance erhalten, auf welchen Wegen auch immer, Wind von diesem Manuskript zu bekommen.
Kapitel 1
Auch diese Nacht verlief für Hartmann nicht geruhsam. Zu sehr beschäftigte ihn das Gespräch mit diesem, ja, was war das für ein Mensch? Ein Weltverbesserer, ein Idealist, ein politischer Aktivist oder einfach nur ein schnöder Gauner, der nach dem Scheitern seines Erstlingswerkes auf billige Art und Weise versuchte, mit einer erfundenen Geschichte doch noch zu Geld, Ruhm und Anerkennung zu gelangen. Gute 200 Runden Fußmarsch auf seinem Teppich hatte Hartmann gebraucht, um schließlich doch noch in den Schlaf zu finden.
Gleich am nächsten Morgen bat er Dr. Schneider in sein Büro, um sich dem treuen Weggefährten anzuvertrauen und unter dem Siegel der unbedingten Verschwiegenheit eine Einschätzung zur Sachstandslage zu erhalten. Natürlich war Hartmann allemal selbst in der Lage, Gespräche wie das mit Lammroth einzuordnen und die richtigen Schlüsse daraus zu ziehen, doch hatte ihn die Erfahrung gelehrt, bei ganz besonders wichtigen Fragestellungen vorsorglich eine Zweitmeinung einzuholen. Jedenfalls sobald die inneren Alarmglocken bimmelten. Und sie bimmelten gewaltig.
„Ich verstehe“, bezog Dr. Schneider vorerst Stellung zu dem Plagiatsmanuskript, „dieser Lammroth wollte Ihnen das MS als Kompilation verkaufen. Als so etwas wie eine exemplarische Sammlung ausgewählter Sätze, die das gesamte Spektrum der Weltliteratur abbilden. Naja, das geht ja rein lizenzrechtlich schon mal nicht. Wenngleich ich sagen muss, dass diese Kollokation, mit anderen Worten diese sinnmachende, zu einer schlüssigen Erzählung führende Aneinanderreihung einzelner Sätze aus nicht weniger als 5.000 verschiedenen Büchern, sofern ich Sie richtig verstanden habe, eine Heidenarbeit gewesen sein muss.“
Hartmann reagierte etwas ungehalten: „Lieber Freund, ich brauche keine Einschätzung zu dem eingereichten Text. Ich erwartete Ihre Meinung zu dem zweiten Manuskript, von dem dieser Mensch sprach.“
Dr. Schneider zuckte mit den Achseln: „Lassen Sie sich doch dieses zweite Manuskript vorlegen. Vielleicht beherbergt es wenigstens eine gute Geschichte. Und was den Wahrheitsgehalt dieser angeblichen Enthüllungen anbelangt, verfügen unsere IT-Spezialisten, gegebenenfalls auch unsere Rechtsabteilung mit Sicherheit über angemessene Möglichkeiten und Instrumente, zu prüfen, ob es sich vor allem bei den Mitschnitten der angeblichen Interviews und vertraulichen Unterhaltungen um Originale oder um Fälschungen handelt.“
Diese recht kühle Empfehlung zeigte dem Konzernchef, warum gerade er und nicht ein anderer aus einem Unternehmen mittlerer Größe einen Weltkonzern gemacht hatte. Warum verspürte der langjährige Weggefährte nicht auch das Kribbeln, das ihn, Hartmann, seit der Begegnung mit diesem kleinen Mann aus Berlin nicht mehr losließ? Warum funkelten Dr. Schneiders Augen nicht auch angesichts dieser potenziellen Sensation? Warum stattdessen diese mit langatmigen, durch Fachbegriffe untersetzen Erklärungen? Wo war die Begeisterung für eine Geschichte, die möglicherweise - ja nur möglicherweise, aber immerhin - einen riesigen Skandal politischen Machtmissbrauchs aufdeckte? So rasch in Hartmann die Enttäuschung über die eher zurückhaltende Reaktion seines Vorstandskollegen hochgestiegen war, so schnell verflog sie auch wieder. Schließlich gehörte Dr. Schneider seit eh und je zu den Menschen, die ihre Gefühle nicht auf der Zunge trugen, auf die man sich aber insbesondere bei streng vertraulichen Fragestellungen zu hundert Prozent verlassen konnte.
Nachdem sich Hartmann für die Einschätzung bedankt hatte, folgte er Dr. Schneiders Rat und setzte um, was er ohnehin vorhatte: er wies mit besonderem Verschwiegenheitsvermerk seine Chefsekretärin an, sich in seinem Namen nochmals bei Lammroth für das aufschlussreiche Gespräch zu bedanken und abermals um das unter allen Umständen nur an ihn persönlich zu adressierende Manuskript zu bitten. Elisabeth von Goeben wusste, dass jene Briefe des Chefs absolut vertraulich zu behandeln und ausschließlich von ihr zu bearbeiten waren. Und dass dieses Postgut ohne Umweg über die firmeninterne Poststelle zum Postamt zu gelangen hatte. Niemand anderes als sie persönlich würde jene Poststücke jemals beim Postamt einwerfen.
In den nächsten vierzehn Tagen passierte im Leben des Konzernchefs nichts Ungewöhnliches. Die tägliche Arbeit war geprägt von Sitzungen, strategischen Steuerungsaufgaben und einigen, eher unbedeutenden Personalentscheidungen. Dennoch war etwas anders als sonst. Hartmann fand keine rechte Lust mehr an seinen Lesestunden. Die vorgelegten Manuskriptproben waren wenig anregend, geschweige denn unterhaltsam, einfach dröge und nichtssagend. Hartmanns Gedanken kreisten nach wie vor um das in Aussicht stehende Manuskript. Nur traf es nicht ein. Warum nutzt dieser Lammroth nicht die einmalige Chance, sein Manuskript direkt beim Konzernchef eines weltweit bekannten Medienunternehmens einzureichen, fragte er sich. Die meisten Autoren, männliche wie weibliche, hätten sich gefreut, eine derartige Chance zu erhalten. Hatte der Kerl aus Berlin vielleicht zu viel versprochen? Geflunkert oder ihn gar zum Narren gehalten? War das Stück eventuell noch gar nicht geschrieben oder befand es sich erst im Anfangsstadium? Der Kerl hatte doch von einer 360 seitigen Dokumentation gesprochen, also musste das Gesamtmanuskript doch schon fertig sein. Vielleicht noch nicht korrigiert, gewiss noch nicht lektoriert, aber mit Sicherheit fertiggestellt. Hartmann beschloss, weiter zu warten, drei oder vier Wochen. Sollte er dann nichts mehr von Lammroth gehört haben, würde er den Fall vergessen oder vielleicht noch einmal nachbohren – je nach Lust und Laune.
Ein junger Mann, Trainee im Creative Management Programm des Konzerns, brachte den Vorstandsvorsitzenden in den folgenden Tagen auf andere Gedanken. Hartmann erfreute sich an der Person Anselm Fischers und an den frischen Wind, den dieser 30-Jährige mit seiner kessen Berliner Art in die Vorstandsetage brachte. Der selbstbewusste, trotz seiner unbedarften Redegewandtheit im Verhalten jedoch stets korrekte Masterabsolvent der Politikwissenschaften durfte sechs seiner insgesamt achtzehn Monate Förderungszeit in der Führungsetage der Firmenzentrale hospitieren, weil eine vor dem Studium abgeschlossene Buchhändlerlehre sowie ein studienbegleitendes Verlagspraktikum in München nichts anderes als unbedingt dafür sprachen. Nun saß der junge Mann mal im Chefsekretariat des Vorstandsvorsitzenden, mal im Büro des persönlichen Referenten und hin und wieder sogar beim Vorstandsvorsitzenden selbst, um das unternehmerische Know-how eines Medienkonzern unter Echtarbeitsbedingungen kennen zu lernen. Da Hartmann selbst kinderlos geblieben war, erfreute er sich nicht nur an dem frischen Wind, den der junge Mann in die Firmenzentrale gebracht hatte, sondern auch an der Hemdsärmeligkeit, mit der sich dieser junge Bursche in der obersten Chefetage bewegte. Anselm Fischer zeigte weder Berührungsängste noch „Angst vor großen Tieren“. Er antwortete, so es gewünscht war, auf alle Fragen, selbst auf nicht unbedingt mit seiner Tätigkeit verbundene, und schienen sie noch so unzeitgemäß oder altbacken. Derlei Fragen bezogen sich meist auf seine Kleidung, den heutigen Musikgeschmack und die Einstellung junger Leute zu Umwelt, Politik und Partnerschaften.
Am liebsten unterhielt sich der Medienchef mit seinem Trainee aber über Fußball. Anselm Fischer war wie Hartmann leidenschaftlicher Fußballer. Während der Konzernchef schon seit vielen Jahren nicht mehr aktiv spielte, nach wie vor jedoch so etwas wie ein Fußballverrückter war, kickte der junge Mann mit seinen 30 Lenzen immer noch, jedenfalls sofern es die Zeit zuließ, bei Tennis Borussia in Berlin, wo er es als Jugendlicher sogar bis in die Landesauswahl geschafft hatte. Es kam sogar vor, dass Hartmann mit dem jungen Hospitanten so eifrig über den anstehenden Fußball-Bundesligaspieltag debattierte, dass Hartmanns persönlicher Referent oder jemand aus dem Sekretariat dringend an den nächsten Termin erinnern mussten. Auf Hartmanns Frage, ob er nicht lieber Profifußballer geworden wäre als Trainee in einem Medienunternehmen,