„Lassen Sie uns mit Blick auf die Uhr gleich zur Sache kommen“, bat Hartmann und reichte seinem Gegenüber die Tasse zu.
„Na gut“, antwortete Hunscha, nahm einen kleinen Schluck und fuhr fort, „Zunächst würden sich das Auswärtige und das Kanzleramt freuen, Sie im kommenden Sommer als Mitglied der bundesdeutschen Delegation für die geplante Reise der Bundesregierung nach China gewinnen zu können.“ Hartmann stimmte der Anfrage mit der Bitte zu, den genauen Reisetermin mit seinem Büro abzustimmen. Natürlich wusste er, dass die folgenden Themen inhaltlich schwieriger werden würden. Gewiefte Politiker gingen Hartmanns Erfahrung nach immer strategisch vor, vom Leichten zum Schweren, vom Einfachen zum Komplexen. Hunscha holte eine Schachtel Zigaretten aus der Tasche und fragte: „Darf ich oder gilt bei Ihnen mittlerweile auch striktes Rauchverbot?“
wusste um die Nikotinabhängigkeit seines Gesprächspartners, der Kanzleramtsminister war starker Raucher. Vorsorglich stand der Aschenbecher bereits auf dem kleinen Beistelltisch zwischen ihm und seinem Gesprächspartner.
„Kein Problem“, gewährte Hartmann die Bitte, wissend, damit eine weitere Übereinstimmung erzeugt zu haben. Der Minister zündete sich eine Zigarette an und gelangte nach anfänglichem, eher bedeutungslosem Gerede zum eigentlichen Punkt seines Besuches: „Mein lieber Herr Hartmann, Ihr hochgeschätzter Fernsehsender, dessen politisches Magazin DURCHBLICK sich, wie Sie wissen, im Kanzleramt äußerster Beliebtheit erfreut und stets politisch korrekt berichtet, hatte sich vergangene Woche wiedermal dem Thema Wendezeit gewidmet. Das Kanzleramt spricht von einer sehr gut recherchierten Sendung, politisch korrekt und journalistisch einwandfrei.“
Die Umschreibung „Kanzleramt“, wusste Hartmann, war das Synonym für den Chefsessel der Regierung. Ihm war auch klar, dass diese eher umständliche Einleitung seines Gesprächspartners der Auftakt einer wenig erfreulichen Auseinandersetzung werden würde. Offensichtlich hatte der redaktionelle Beitrag seiner Mitarbeiter Unbehagen in Regierungskreisen ausgelöst.
„Ich habe die Sendung auch gesehen“, antwortete der Angesprochene, „fand sie gut und halte die Berichterstattung rund um die Geschehnisse der Wiedervereinigung für ein immer noch bewegendes Thema, das zeitgeschichtlich einer uneingeschränkten und vorbehaltlosen Aufarbeitung Wert scheint.“
Hunscha nickte zustimmend. „Unbedingt, das sehen wir genauso. Nur befürchtet das Kanzleramt, dass angesichts der aktuellen innenpolitischen Lage, in der unserer Auffassung nach eine geradezu zwanghafte Beschäftigung mit, wie soll ich sagen, Themen, die zum gegenwärtigen Zeitpunkt der Befriedung unserer Gesellschaft eher abträglich sind, neue Gräben im Osten wie im Westen der Republik aufreißen könnten.“
Hartmann wollte Deutlicheres hören: „Worauf, verehrter Herr Minister, wollen Sie hinaus?“
Hunscha zog an seiner Zigarette. „Der Fernsehbericht war zweifelsohne gut und umfassend. Aber Ihre Redakteure verbeißen sich offenbar regelrecht in Themen, die 30 Jahre und mehr zurückliegen. Schauen Sie, lieber Herr Hartmann, die Bundesregierung arbeitet mit Hochdruck daran, die zweifellos noch immer vorhandenen Gräben zwischen den alten und den neuen Bundesländern zu schließen. Und Ihre Redakteure, so scheint es jedenfalls, kramen und wühlen in der Vergangenheit, um Dinge ans Tageslicht zu fördern, die weder geschichtlich noch politisch irgendeine Relevanz haben.“
Hunscha drückte seine Zigarette aus und fuhr fort: „Verstehen Sie, das, was Ihr Magazin da anstellt, ist mit Blick auf eine aussöhnende Harmonisierung der Gesellschaft kontraproduktiv. Zumal Ihre Redakteure angekündigt haben, weiter zu recherchieren und Folgesendungen zum Unrechtsstaat DDR auszustrahlen. Das bedeutet im Endeffekt doch nichts anderes, als längst geschlossene und gottseidank zu einem Großteil verheilte Wunden unnötigerweise neu aufzureißen und bewusst oder unbewusst völlig unnötige Konflikte zwischen den Bürgern der Beitrittsgebiete und der Altbundesländer zu provozieren.“
Hartmann blieb gelassen.
„Ich mische mich gewöhnlich nicht in das Tagesgeschäft meiner Fernsehradaktionen ein“, antwortete er, „Zudem erkenne ich, ehrlich gesagt, auch keinen unmittelbaren Zusammenhang zwischen einer die Zeitgeschichte aufarbeitenden Berichterstattung und irgendeiner an die Bürger unseres Staates gerichteten Provokation.“
Hunscha zündete sich eine weitere Zigarette an. „Zweifelsohne haben Sie mit Ihrer Sichtweise auch recht und, Gott bewahre, will Sie auch niemand in irgendeiner Hinsicht beeinflussen. Aber, sagen Sie mir, Herr Hartmann, warum man immer wieder - beinahe schon manisch - alte Wunden aufreißen und auf diese Weise künstlich, jedenfalls wie wir meinen, einen Ost-West-Konflikt im eigenen Land schüren sollte? Schauen Sie, wir bemühen uns um Einheitslöhne, arbeiten nach wie vor durch Transferleistungen an die neuen Bundesländer auf wirtschaftliche Stabilität aller Bundesgebiete hin und damit einem Rechtsruck der Bundesbürger in den neuen Ländern entgegen. Was bringt dem Gemeinwohl da eine unverhältnismäßig dichte Dauerberichterstattung zu Themen eines längst überholten und begrabenen Unrechtstaates?“
Hartmann zuckte die Achseln. „Ich kenne die Planungen meiner Chefredaktionen nicht im Einzelnen. Ich weiß und vertraue aber, dass sie grundsätzlich das planen und ausstrahlen, was vor allem die Menschen vor dem Bildschirm interessiert.“
Damit war für Hartmann das Thema im Grunde erledigt. Um den Gast aber nicht gänzlich unzufrieden nach Hause zu schicken, versprach er, bei Gelegenheit mit den Machern des Magazins zu reden und die Besorgnisse der Regierung zum Ausdruck zu bringen.
Diesen Punkt abgehandelt, folgte im weiteren Verlauf des Gesprächs ein weiterer, eher belangloser und die Verabschiedung mit der Versicherung der gegenseitigen Wertschätzung. Natürlich wusste Hartmann, dass der ministeriale Besuch höheren Orts veranlasst und zuvörderst dem eindringlichen Wunsch nach vorläufiger Einstellung weiterer Sendebeiträge zu problematischen Themen wie die des Unterganges der DDR gewidmet war. Schließlich waren ihm derartige, von Politikern, Wirtschaftsführern und Prominenten geäußerte Wünsche nicht fremd. Sie gingen meist einher mit der persönlichen Bitte um Diskretion und einer wohlwollenden Überarbeitung eines medialen Beitrags, der nach seiner Publikation noch einmal revidiert und den Bittsteller in einer zweiten Veröffentlichung in einem besseren Licht erscheinen lassen sollte. In den meisten dieser Fälle handelte es sich um Skandale, Leichen im Keller oder unbequeme Wahrheiten, die den Ruf bekannter Menschen extrem schädigen konnten, gleichwohl aber zu den originären Aufgaben des investigativen Journalismus gehörten.
An diesem Abend beschäftigten sich Hartmanns Gedanken jedoch weniger mit solchen Vorkommnissen. Den Grund dafür kannte er. Das widerliche Manuskript seiner Lesestunde ließ ihn nicht zur Ruhe kommen. Dieses kleine, eigentlich unbedeutende Papier gestohlener Dichtkunst hatte es tatsächlich geschafft, dem Literaturliebhaber die Sicht auf andere, wichtigere Themen, wie zum Beispiel das Anliegen des Ministers, zu verhageln. Hartmann war eben mehr Literaturfreund als Politiker. Dennoch konnte mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit davon ausgegangen werden, dass der Medienkonzernchef irgendwann doch noch der Bitte des Ministers nachkommen und pro forma mit dem Redaktionsteam über die Angelegenheit reden würde.
In der anschließenden Nacht schlief Hartmann schlechter als sonst. Durchschlafen konnte der Konzernchef seit Jahrzehnten ohnehin nicht mehr. Etwa seitdem er den Posten des Vorstandsvorsitzenden bekleidete, ließen ihn die operativen und strategischen Aufgaben nachts nur noch stundenweise zur Ruhe kommen. Dass er aber, wie in dieser Nacht, noch nicht einmal ansatzweise in den Schlaf finden konnte, war ihm gänzlich unbekannt. Sicher, es gab Situationen, da machte er durch, wie schon ein paar Mal an Silvester oder wenn auf Geschäftsreisen die Zeitverschiebungen einen Nachtschlaf verbaten. Dass es ihm aber trotz Müdigkeit partout nicht gelingen konnte in den Tiefschlaf zu gelangen, ärgerte ihn nun maßlos und zunehmend. Der Grund lag auf der Hand. Das Drecksmanuskript wollte ihm einfach nicht aus dem Kopf gehen. Es hatte sich in das Gedächtnis des Lesefreundes gefressen - unerlaubt, aufdringlich und schlafraubend.
So sehr sich der Gequälte Stunde um Stunde auch anstrengte, zur Ruhe zu kommen, so wenig gelang es ihm. Nach mehreren erfolglosen Versuchen, mit unterschiedlichster Lektüre entspannende, in den Schlaf führende Müdigkeit zu erzeugen, stand er aus dem Bett wieder auf und ging - durch das Schlafzimmer, über den