Um endlich diese Diskussion zu beenden, für Hartmann war alles gesagt, und um die Zeit bis zum versprochenen Tee zu überbrücken, bat Hartmann seinen Gast um Auskunft, was es mit dem Diplomatenkoffer, den dieser bei sich trug, auf sich hatte.
„Och“, antwortete dieser, „da ist mein Reisegepäck drin: Rasierer, Zahnpasta, ein frisches Hemd und Ersatzunterwäsche.“ Lammroth warf kurz einen liebevollen Blick auf das Utensil. „Es freut mich, dass dieses alte Stück, welches mich so lange begleitet und mir immer gute Dienste erwiesen hat, Ihre Aufmerksamkeit erregt.“
„Ich schleppte einen ganz ähnlichen in den 80-er Jahren mit mir herum“, erinnerte sich Hartmann an die Anfangszeiten seiner beruflichen Laufbahn und wie er, stolz wie Oskar, mit seinem ledernen Diplomatenkoffer zur Arbeit ging.
Das dennoch für eine Gesprächsverlagerung zu wenig ergiebige Thema veranlasste Hartmann, eine weitere, eher beiläufig gemeinte Frage zu stellen. „Wenn Sie sich so dermaßen für Literatur interessieren, warum schreiben Sie nicht mal etwas selbst? Hat Sie nie die Entwicklung eines eigenen Manuskripts gereizt, eines Werkes, dass aus Ihrer eigenen Feder stammt?“
Die Falle hatte zugeschnappt.
„Sie werden lachen“, antwortete Lammroth, „habe ich.“
Hartmann forderte den selbsternannten Weltliteraturretter zum Weiterreden auf. Um des Verlegerkönigs Neugier zu steigern, verzögerte der angesprochene ein wenig die Antwort. Endlich redete er weiter: „Das von mir selbst angefertigte Manuskript beruht auf reinen Tatsachen. Und diese ließen, so sie ans Tageslicht kämen, die jüngste Geschichte sowohl der DDR, vor allem aber der BRD in einem neuen, ganz anderen Licht erscheinen.“
„Wie meinen Sie das?“, erbat Hartmann mehr Auskunft.
Lammroth fuhr fort: „Noch während meines Studiums der Datenverarbeitung, das ich einige Jahre nach meiner Facharbeiterausbildung zum Elektromechaniker absolvierte, hat mich das Ministerium für Staatssicherheit angeworben. Ich hatte mich im Studium auf Computerlinguistik spezialisiert – naja, meine Affinität zu Literatur und Sprache.“
Lammroth unterbrach seine Rede, als die Tür aufging und eine Mitarbeiterin den Tee hereinbrachte.
„Stellen Sie das Tablett hier ab, das genügt!“, mahnte Hartmann seine Mitarbeiterin zur Eile. Sobald diese das Zimmer verlassen hatte, nahm Lammroth den Faden wieder auf: „Mir schien die Mitarbeit in einer Behörde, besonders in einer wie dem Ministerium für Staatssicherheit, weniger attraktiv als die eigentliche Aufgabe. Es ging im Wesentlichen um die Analyse von Sprache, in meiner Abteilung von gesprochener Sprache. Unsere Aufgabe bestand zunächst darin, alle Formen gesprochener Sprache in Schriftsysteme zu bringen, in lesbare Dokumente.“
Hartmann unterbrach seinen Gast: „Ich verstehe, Sie sprechen von Umschriften.“
„Genau“, fuhr Lammroth fort, „wir nannten es Transkription.“
Hartmann kannte natürlich auch diesen Fachausdruck, bevorzugte aber der Liebe zur deutschen Sprache wegen den von ihm gewählten Begriff.
Lammroth fuhr fort: „In einem nächsten Schritt, als wir über das technische Wissen verfügten und die Möglichkeiten dazu hatten, wurden ab einem bestimmten Zeitpunkt sämtliche Texte des auditiven Materials mithilfe spracherkennender Computertechnik auf alle denkbaren Interpretationsmöglichkeiten hin untersucht. Wir entwickelten seinerzeit inhaltsanalytische PC-Programme, die in der Lage waren, jede sprachliche Äußerung, ob spontan oder einstudiert, auf ihren Wahrheitsgehalt, ihre Motivation und ihre tatsächliche Absicht hin zu überprüfen. Jeder Tonfall, jedes Räuspern, jede Sprechpause, jede Betonung und jedwede Form der Aussprache konnten als Zustimmung oder Ablehnung, als offene oder geheime Botschaft identifiziert werden. Selbst Lachen, Atmen, Gähnen, Floskeln, regionale Termini oder ein „äh“ oder „ähm“ konnten wir anhand der mitgeschnittenen Telefonate, Interviews, Verhandlungen, Seitengespräche, Smalltalks und Sondierungsgespräche auf absichtliche oder unabsichtliche, auf gewollte oder ungewollte Signale hin mit so gut wie 100-prozentiger Sicherheit deuten. Zu jedem aufgezeichneten Gespräch fertigten wir erstens eine individuelle Diskursanalyse an, zweitens eine Dialoganalyse und drittens eine Inhaltsanalyse.“
„Nun gut“, fügte Hartmann hinzu, „das Gleiche oder Ähnliches machten vermutlich alle anderen Auslandsgeheimdienste auch. Davon gehe ich jedenfalls aus.“
„Nur sitzt Ihnen hier jemand Ihnen gegenüber“, führte Lammroth trocken aus, „der die geheimen Mitschnitte bundesdeutscher Spitzenpolitiker, die in die DDR eingereist waren, in seinem alleinigen Besitz hat. Die Rede ist hier nicht nur von öffentlichen, sondern auch von geheimen Treffen, wenn Sie verstehen, was ich meine. Und nicht nur das. Ich bin ebenfalls im Besitz sämtlicher Auswertungsergebnisse dieser Gespräche.“
„Was wollen Sie damit andeuten?“, hakte Hartmann sofort nach.
Lammroth antwortete: „Gegen Ende der Achtziger Jahre hatte ich mich im gesamten Ministerium zum Top-Experten für textuelle Korpus- und Computerlinguistik der deutschen Sprache hochgearbeitet. Ich wurde nicht mehr auf kleine Fische wie Republikflüchtlinge, Oppositionelle oder Personen mit staatsfeindlichen Westkontakten angesetzt. Meine Hauptaufgabe war die geheime Aufzeichnung und Auswertung aller Gespräche - ich betone: aller - Ihrer unseren Staatsapparat aufsuchenden Regierungsspitzen. Mit Staatsapparat meine ich das Politbüro der DDR und das Zentralkomitee der Kommunistischen Partei.“
„Naja“, mutmaßte Hartmann, „da wird vielleicht schon mal das eine oder andere unbedachte Wort gefallen sein. Außerdem ist das lange her.“
„Guter Mann“, lachte Lammroth, „ich rede hier nicht, jedenfalls nicht nur, von Parteivorsitzenden, Ministern und Ministerpräsidenten der Bundesrepublik und ihrer Bundesländer, die längst aus ihrem Amt ausgeschieden oder bereits tot sind. Das Material, was ich in der Wendezeit kurz vor der Erstürmung der Zentrale des MfS in Berlin-Lichtenberg gesichert habe, ist an Brisanz nicht zu übertreffen. Ich habe Material, da würde Ihnen die Hutschnur hochgehen. In meinem Besitz befinden sich kompromittierende Originalaufnahmen von Geheimgesprächen bundesrepublikanischer Politiker, die heute noch im Amt sind. Übrigens handelt es sich dabei auch um Dokumente, die nichts anderes als eine sofortige Entlassung beziehungsweise ein sofortiges Amtsenthebungsverfahren mit der Anklage wegen geheimdienstlicher Agententätigkeit zur Folge hätten. Und zwar in besonders schweren Fällen, da es sich durchweg um Personen handelt, die ihre verantwortliche Stellung missbraucht haben. Und die aufgrund ihres Amtes zur Wahrung mit dieser Stellung verbundenen Geheimnisse besonders verpflichtet waren - und zum Teil heute noch sind.“
Hartmann schaute Lammroth fragend an.
„Ja“, lehnte sich dieser zurück, „aus diesen Originalaufzeichnungen, von denen es übrigens keinerlei Duplikate gibt, habe ich eine umfassende Dokumentation gemacht, die Ross und Reiter nennt und für mächtigen Wirbel im heutigen Deutschland, ich vermute sogar weltweit sorgen dürfte. Wenn das, was ich zu einem veritablen Manuskript zusammengefasst habe, herauskommt, rollen Köpfe. Nicht nur einer, Herr Hartmann. Mehrere. Und so manch ein Lebenslauf ehrenvoll gewürdigter Politiker müsste gänzlich neu geschrieben werden.“
Lammroth beugte sich nochmals vor. „Falls Sie jetzt an Hitlers Tagebücher oder so etwas gedacht haben, ich liefere Ihnen zusammen mit meinem Manuskript alle Audio-Mitschnitte und sämtliche verschriftlichten Originalaufzeichnungen. Exklusiv und zu treuen Händen.
Hartmanns investigative Spürnase brannte.
„Naja gut“, bemühte sich der erfahrene Verlagsmanager um eine möglichst zurückhaltende Stellungnahme, „Sie könnten mir ja mal gelegentlich - und selbstverständlich ganz unverbindlich - das Manuskript zukommen lassen. Oder haben Sie es vielleicht zufälligerweise dabei?“
Hartmanns Blicke fielen auf den Aktenkoffer.
„Nein“, antwortete Lammroth und wusste nun gewiss, dass er die richtige Fährte ausgelegt hatte und die Falle an der vorgesehen Stelle endgültig zugeschnappt war.
Um Ruhe und professionelle Zurückhaltung bemüht, bat Hartmann